HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

September 2004
5. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

713. BGH 5 StR 71/04 - Beschluss vom 7. Juli 2004 (LG Frankfurt)

Beweiswürdigung bei Aussagen im Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts (Glaubwürdigkeitsbeurteilung; Aufklärungserfolg nach § 31 BtMG; Belastungszeuge; Verfahrensabsprachen; Darlegungspflichten); Konfrontationsrecht (Prüfung der Zubilligung eines Auskunftsverweigerungsrechts; Gesamtbetrachtung); Beweisantragsrecht (Unerreichbarkeit; mögliche Videovernehmung im Ausland; Unzulässigkeit einer entsprechenden Verfahrensrüge).

§ 261 StPO; § 31 BtMG; Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK; § 69 Abs. 2 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 55 StPO

1. Für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung gerade bei Aussagen im Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts ist es regelmäßig ein wesentlicher Gesichtspunkt, ob sich der Zeuge durch seine Aussage in dem gegen ihn selbst gerichteten Verfahren im Hinblick auf § 31 BtMG entlasten wollte; für diesen Fall besteht nämlich die nicht fernliegende Gefahr, dass der "Aufklärungsgehilfe", der sich durch seine Aussage Vorteile verspricht, den Nichtgeständigen zu Unrecht belastet (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 245).

2. Ist ein geständiger Mitbeschuldigter, auf dessen belastende Aussage die Überführung des Angeklagten entscheidend gestützt wird, bereits wegen seiner Beteiligung an derselben Betäubungsmittelstraftat verurteilt worden, muss die Beweiswürdigung deshalb erkennen lassen, ob sich der Betreffende eine Strafmilderung als Aufklärungsgehilfe verdient hat oder nicht. Im Anschluss daran hat der Tatrichter zu würdigen, ob sich der geständige Mitbeschuldigte nicht nur durch die wahrheitsgemäße Belastung eines anderen eigene Vorteile verschafft hat, sondern sich möglicherweise darüber hinaus in bedenklicher Weise zu Lasten des nicht geständigen Angeklagten eingelassen haben kann, so durch übertriebene Darstellung von dessen Tatbeteiligung - etwa zur partiellen eigenen Entlastung oder zu der eines weiteren Tatbeteiligten - oder durch andere wahrheitswidrige Bekundungen - etwa auch zur Vertuschung der Beteiligung eines Dritten. Fehlen Darlegungen hierzu in den Urteilsgründen, so kann dies als durchgreifender Erörterungsmangel ein sachlichrechtlicher Fehler sein (vgl. auch BGHSt 48, 161, 168).

3. Kann der Angeklagte sein durch Art. 6 Abs. 3 lit. d MRK garantiertes Recht, Fragen an den Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, nicht ausüben, weil diesem ein weitgehendes oder umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht zugestanden wird, muss dieser Umstand schon deshalb bei der Beweiswürdigung hinreichend bedacht werden, weil die durch Vernehmung der Verhörsperson eingeführte Aussage bei Fehlen eines kontradiktorischen Verhörs (§ 69 Abs. 2 StPO) nur beschränkt hinterfragt und vervollständigt werden kann (vgl. BGHSt 46, 93, 106).

4. Ein Zeuge kann auch dann erreichbar sein kann, wenn er im Ausland im Wege der Videokonferenz nach § 247a StPO aus der Hauptverhandlung heraus mittels einer zeitgleichen Bild-Ton-Übertragung vernommen werden kann (BGHSt 45, 188, 190).


Entscheidung

699. BGH 4 StR 155/03 - Urteil vom 6. Juli 2004 (LG Essen)

Recht auf Verfahrensbeschleunigung (Beschleunigungsgebot; Durchführung eines zeitaufwendigen Anfrage- und Vorlageverfahrens; horizontale Teilentscheidung der Revision); Entziehung der Fahrerlaubnis (Ungeeignetheit zur Führung eines Fahrzeuges; Erfordernis des "spezifischen Zusammenhangs"; Gesamtwürdigung; Anfrageverfahren); Freiheit der Person.

§ 353 StPO; § 354 StPO; § 69 StGB; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 5 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 GG; § 132 GVG

Eine "horizontale", d.h. denselben Prozessgegenstand betreffende Teilentscheidung des Revisionsgerichts ist ausnahmsweise dann zulässig, wenn (a) der rechtskräftige ebenso wie der nichtrechtskräftige Urteilsteil von dem übrigen Urteilsinhalt losgelöst, selbständig geprüft und rechtlich beurteilt werden kann und (b) schwerwiegende Interessen des Revisionsführers ein Abweichen von der gesetzlichen Regel einer einheitlichen Revisionsentscheidung (§§ 353, 354 StPO) gebieten. Eine Inhaftierung ist dabei nicht zwingende Voraussetzung einer ausnahmsweisen Teilentscheidung.


Entscheidung

700. BGH 4 StR 175/03 - Urteil vom 6. Juli 2004 (LG Detmold)

Recht auf Verfahrensbeschleunigung (Beschleunigungsgebot; Durchführung eines zeitaufwendigen Anfrage- und Vorlageverfahrens; horizontale Teilentscheidung der Revision); Entziehung der Fahrerlaubnis (Ungeeignetheit zur Führung eines Fahrzeuges; Erfordernis des "spezifischen Zusammenhangs"; Gesamtwürdigung; Anfrageverfahren); Freiheit der Person.

§ 353 StPO; § 354 StPO; § 69 StGB; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 5 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 GG; § 132 GVG

Eine "horizontale", d.h. denselben Prozessgegenstand betreffende Teilentscheidung des Revisionsgerichts ist ausnahmsweise dann zulässig, wenn (a) der rechtskräftige ebenso wie der nichtrechtskräftige Urteilsteil von dem übrigen Urteilsinhalt losgelöst, selbständig geprüft und rechtlich beurteilt werden kann und (b) schwerwiegende Interessen des Revisionsführers ein Abweichen von der gesetzlichen Regel einer einheitlichen Revisionsentscheidung (§§ 353, 354 StPO) gebieten. Eine Inhaftierung ist dabei nicht zwingende Voraussetzung einer ausnahmsweisen Teilentscheidung.


Entscheidung

722. BGH 5 StR 241/04 - Beschluss vom 22. Juli 2004 (LG Augsburg)

Verfahrensabtrennung zur Verwirklichung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung (horizontales Teilurteil; Entscheidungsreife; Vorlage an den EuGH; Einholung von Rechtsauskünften bei Eurojust zur möglichen Verfahrenseinstellung wegen des ne bis in idem gemäß Art. 54 SDÜ).

Art. 54 SDÜ; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 35 EUV; Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 353 StPO; § 354 StPO

Ein zur Beurteilung des Vorliegens eines aus Art. 54 SDÜ folgenden Verfahrenshindernisses erforderlicher weiterer tatsächlicher Aufklärungsbedarf sowie eine nicht fernliegende Notwendigkeit einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bringen eine unvorhersehbar lange Verzögerung des Verfahrens mit sich, bei der es die aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und dem Rechtstaatsgebot folgende Pflicht zur Beschleunigung des Verfahrens, zumal in einer Haftsache, gebieten kann, ungeachtet der einer Abtrennung entgegenstehenden prozessökonomischen Erwägungen über die bereits entscheidungsreifen Teile vorab zu entscheiden (vgl. BGH wistra 2000, 219, 226 f.).


Entscheidung

696. BGH 1 StR 273/04 - Beschluss vom 8. Juli 2004 (LG Mannheim)

Gebotene Videoaufzeichnung der Vernehmung einer schutzbedürftigen Zeugin im Ermittlungsverfahren (Dokumentationspflicht; Opferschutz bei schwerwiegenden Sexualstraftaten).

Art. 3 EMRK; § 58a Abs. 1 Satz 2 StPO

Wird wegen des Verdachts ermittelt, ein Kind sei Opfer schwerwiegender Sexualstraftaten geworden, so begründet die "Sollvorschrift" des § 58a Abs. 1 Satz 2 StPO eine grundsätzliche Verpflichtung der Ermittlungsbehörden, die Aussagen des Kindes aufzuzeichnen.


Entscheidung

707. BGH 4 StR 249/04 - Beschluss vom 20. Juli 2004 (LG Kaiserslautern)

Unbegründeter Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts (wirksame Rechtsmittelrücknahme: Feststellung durch das Revisionsgericht, Zuständigkeit, Antrag nach § 346 Abs. 2 StPO analog; erfolglose Widereinsetzung in den vorigen Stand).

§ 346 StPO; § 302 StPO

1. Wird die Wirksamkeit einer Revisionsrücknahme von einem Verfahrensbeteiligten in Zweifel gezogen, so ist es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Sache des Revisionsgerichts, hierüber eine feststellende Klärung zu treffen (vgl. nur BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 8 m.w.N.; BGH NStZ 2001, 104)

2. Der Senat lässt es dahin stehen, ob bis zum Eingang der Akten beim Rechtsmittelgericht die Zuständigkeit des iudex a quo gegeben ist, wenn von einem Verfahrensbeteiligten die Wirksamkeit der Rücknahme bereits in Zweifel gezogen worden war. Jedenfalls ist nach einer Entscheidung durch den iudex a quo und bei Fortbestehen des Streites das Rechtsmittelgericht zur abschließenden Entscheidung über die Wirksamkeit der Rechtsmittelrücknahme berufen.

3. Ob eine solche Entscheidung im Revisionsverfahren in analoger Anwendung des § 346 Abs. 2 StPO einen entsprechenden (fristgebundenen) Antrag voraussetzt oder aber die Entscheidung des Revisionsgerichts formlos und ohne Einhaltung einer Frist herbeigeführt werden kann, bedarf hier keiner Entscheidung.

4. Die Rücknahme kann durch ein eigenes Schreiben des Angeklagten erfolgen, da für die Rücknahme eines Rechtsmittels dieselben Formerfordernisse gelten wie für dessen Einlegung (vgl. BGH NStZ-RR 2000, 305).


Entscheidung

747. BGH 2 StR 491/03 - Urteil vom 23. Juni 2004 (LG Frankfurt)

Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme; unerreichbarer Zeuge (Schizophrenie; fehlende Aussagebereitschaft; unbekannter Aufenthalt; Bedeutung des Zeugen); Recht auf Verfahrensbeschleunigung (Beschleunigungsgrundsatz); Aufklärungspflicht.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 250 StPO; § 251 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 244 Abs. 2 StPO

Die Aufklärungspflicht gebietet nicht unterschiedslos aufwendige Ermittlungsmaßnahmen sowie gegebenenfalls eine Unterbrechung oder gar Aussetzung der Hauptverhandlung, um einen nur möglicherweise erreichbaren Zeugen hören zu können. Bei der dem Tatrichter obliegenden Abwägung ist zum einen das Maß konkreter Wahrscheinlichkeit zu berücksichtigen, dass der Zeuge für eine Ladung erreichbar sein könne, zum anderen die Bedeutung seiner Aussage. Insoweit darf auch berücksichtigt werden, wenn eine - wenngleich mit geringerem Beweiswert zu würdigende - Aussage des Zeugen vor der Polizei oder dem Richter bereits vorliegt.


Entscheidung

732. BGH 2 StR 37/04 - Beschluss vom 9. Juli 2004 (LG Hanau)

Zwingende Zustellung des Adhäsionsantrags an den Beschuldigten; Prüfung der Wirksamkeit des Adhäsionsantrages von Amts wegen.

§ 404 StPO; § 253 ZPO

1. Der Adhäsionsantrag gem. § 404 StPO muss dem Beschuldigten ebenso wie gem. § 253 ZPO ein Klageantrag im Zivilprozess zwingend zugestellt werden, wenn er nicht in mündlicher Verhandlung gestellt wird.

2. Das Vorliegen eines wirksamen Adhäsionsantrags ist von Amts wegen zu prüfen.


Entscheidung

719. BGH 5 StR 207/04 (alt: 5 StR 75/01 und 5 StR 357/02) - Beschluss vom 20. Juli 2004 (LG Neuruppin)

Unzulässigkeit der Verfahrensrüge (Darlegungsanforderungen; Besetzungsrüge); anderer Spruchkörper im Sinne des § 354 Abs. 2 StPO.

§ 354 Abs. 2 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

Der Senat neigt der Auffassung zu, dass im Falle wiederholter Aufhebung einer Sache durch das Revisionsgericht "anderer" Spruchkörper im Sinne des § 354 Abs. 2 StPO ein solcher ist, der sich in seiner Bezeichnung von sämtlichen bislang in dieser Sache tätigen Spruchkörpern zu unterscheiden hat.


Entscheidung

694. BGH 1 StR 145/04 - Beschluss vom 20. Juli 2004 (LG Kempten)

Unmittelbarkeitsgrundsatz (Anwendungsbereich; Verlesung von Protokollen über Atemalkoholtests).

§ 249 Abs. 1 StPO; § 250 Satz 1 StPO

Für die Anwendung des § 250 StPO ist entscheidend, dass es sich um den Beweis eines Vorgangs handelt, dessen wahrheitsgemäße Wiedergabe nur durch eine Person möglich ist, welche ihn mit einem oder mehreren ihrer fünf Sinne wahrgenommen hat. Daran fehlt es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs z.B. bei der maschinellen Herstellung von kaufmännischen Buchungsstreifen (vgl. BGHSt 15, 253, 255), bei den Niederschriften über Tonbandaufzeichnungen (vgl. BGHSt 27, 135, 137) und bei EDV-Ausdrucken (vgl. BGH, Urteil vom 30. Januar 2001 - 1 StR 454/00). Dasselbe gilt für das von einem Testgerät ausgedruckte Protokoll über das Ergebnis einer Atemalkoholmessung.


Entscheidung

698. BGH 4 StR 120/04 - Beschluss vom 13. Juli 2004 (LG Neubrandenburg)

Beweiswürdigung (sexueller Missbrauch; Widerspruch von schriftlichem Glaubwürdigkeitsgutachten und dem mündlich erstatteten Gutachten).

§ 261 StPO

Widerspricht das mündlich erstattete Gutachten aber dem vorbereitenden Gutachten in entscheidenden Punkten, so muss sich das Gericht mit diesen Widersprüchen in seinem Urteil auseinandersetzen und nachvollziehbar darlegen, warum es das eine Ergebnis für zutreffend, das andere (im vorbereitenden Gutachten) für unzutreffend erachtet. Die Widersprüche müssen eine Erklärung und Lösung finden, die Zweifel an der Richtigkeit des angenommenen Ergebnisses beseitigt (BGH NStZ 1990, 244, 245).