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HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 747

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 491/03, Urteil v. 23.06.2004, HRRS 2004 Nr. 747


BGH 2 StR 491/03 - Urteil vom 23. Juni 2004 (LG Frankfurt)

Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme; unerreichbarer Zeuge (Schizophrenie; fehlende Aussagebereitschaft; unbekannter Aufenthalt; Bedeutung des Zeugen); Recht auf Verfahrensbeschleunigung (Beschleunigungsgrundsatz); Aufklärungspflicht.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 250 StPO; § 251 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 244 Abs. 2 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Die Aufklärungspflicht gebietet nicht unterschiedslos aufwendige Ermittlungsmaßnahmen sowie gegebenenfalls eine Unterbrechung oder gar Aussetzung der Hauptverhandlung, um einen nur möglicherweise erreichbaren Zeugen hören zu können. Bei der dem Tatrichter obliegenden Abwägung ist zum einen das Maß konkreter Wahrscheinlichkeit zu berücksichtigen, dass der Zeuge für eine Ladung erreichbar sein könne, zum anderen die Bedeutung seiner Aussage. Insoweit darf auch berücksichtigt werden, wenn eine - wenngleich mit geringerem Beweiswert zu würdigende - Aussage des Zeugen vor der Polizei oder dem Richter bereits vorliegt.

Entscheidungstenor

1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 31. Juli 2003 wird verworfen.

2. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels sowie die der Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Freiheitsberaubung und vorsätzlicher Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt; vom Vorwurf einer weiteren Vergewaltigung hat es den Angeklagten freigesprochen. Die auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.

1. Nach den Feststellungen ereignete sich die erste der gegen die 17-jährige Zeugin A. gerichteten Taten am 20. Juli 2001 in der Wohnung des Zeugen K., bei dem die Geschädigte wohnte. Nachdem zunächst über eine am darauffolgenden Tag geplante gemeinsame Reise nach Berlin geredet worden war, begab sich der Zeuge K. zum Schlafen in einen vom Wohnbereich nur durch einen Vorhang abgetrennten Teil des Raums. In der Folge schlug und würgte der Angeklagte die Geschädigte, um sie zu sexuellen Handlungen zu zwingen. Den Zeugen K. forderte er auf, keinesfalls den Schlafbereich zu verlassen; als der Zeuge bat, die Geschädigte in Ruhe zu lassen, drohte der Angeklagte, ihn zusammenzuschlagen. Aus Angst kam der Zeuge der Geschädigten nicht zu Hilfe. Der Angeklagte zerrte die Zeugin A. schließlich mit Gewalt in das Badezimmer und zwang sie dort mit Gewalt und unter Anwendung von Drohungen zum Oralverkehr und zum Beischlaf.

Zwei weitere vom Landgericht festgestellte Vergewaltigungen desselben Opfers ereigneten sich nach den Feststellungen des Landgerichts am 26. und 27. Juli 2001, also sechs Tage bzw. sieben Tage nach der ersten Tat. Hierbei läutete der Angeklagte jeweils an der Wohnungstür und meldete sich auf die Frage der allein anwesenden Zeugin mit den Worten "Ich bin's", worauf sie ihn - wohl nichtsahnend - einließ. Er zwang sie in beiden Fällen unmittelbar danach zum Oralverkehr. Am Abend des 27. Juli 2001 begab sich die Zeugin zusammen mit dem Zeugen K. zu einer Polizeiwache und erstattete Strafanzeige, nachdem der Angeklagte beide wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei gemeinsamen Drogengeschäften mit dem Tod bedroht hatte.

Vom Vorwurf einer weiteren, gleichartigen Vergewaltigung zum Nachteil der Zeugin A. am 24. Juli 2001 hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen, weil ihm insoweit die Angaben der Geschädigten nicht zuverlässig erschienen.

2. Das Landgericht hat seine Überzeugung wesentlich auf die Aussagen der Zeugin A. bei deren polizeilichen und ermittlungsrichterlichen Vernehmungen, daneben auch auf die Aussage des Zeugen K. bei seiner polizeilichen Vernehmung gestützt. Beide Zeugen sind in der Hauptverhandlung nicht vernommen worden. Die hiergegen gerichteten Verfahrensrügen der Verletzung von § 251 Abs. 1 und Abs. 2 StPO, sowie von § 244 Abs. 2 StPO bleiben im Ergebnis ohne Erfolg.

a) Bei der zur Tatzeit 17-jährigen Zeugin A. wurde bei früheren Untersuchungen eine schizophrene Erkrankung diagnostiziert. Der in der Hauptverhandlung vernommene Sachverständige, dessen Beurteilung das Landgericht gefolgt ist, hat demgegenüber eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung mit Verwahrlosung, Impulsivität und hoher Fremd- und Selbstaggressivität diagnostiziert. Eine Exploration der Zeugin zur Sache war dem Sachverständigen aufgrund ihrer aggressiven und ablehnenden Haltung nicht möglich; ihre mehrfach vorgesehene Vernehmung in der Hauptverhandlung scheiterte, weil sie sich jeweils kurz vor dem Vernehmungstermin in psychiatrische Behandlung begab.

Das Landgericht hat die Zeugin daher zutreffend als unerreichbar angesehen und die Protokolle ihrer - in der Sache teilweise voneinander abweichenden - Vernehmungen durch die Polizei und den Ermittlungsrichter verlesen.

Anhaltspunkte dafür, daß die Vernehmungsfähigkeit der Zeugin in absehbarer Zeit wiederhergestellt sein würde, lagen nicht vor; vielmehr hatte der Sachverständige im Gegenteil dargelegt, es bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Zeugin auch bei künftigen Ladungen in einen ihre Vernehmungsfähigkeit ausschließenden Erregungszustand geraten werde. Das Landgericht war unter diesen Umständen auch im Hinblick auf die Aufklärungspflicht nicht gehalten, den Fortgang der Hauptverhandlung allein im Hinblick auf eine theoretisch mögliche, zeitlich aber nicht absehbare zukünftige Vernehmungsfähigkeit der Zeugin weiter hinauszuzögern oder die Hauptverhandlung gar auszusetzen. Daß die verlesenen früheren Aussagen der Zeugin Besonderheiten aufwiesen, welche zu besonders sorgfältiger Prüfung Anlaß gaben, hat das Landgericht nicht übersehen.

b) Auch die Verwertung der gemäß § 251 Abs. 2 Satz 2 StPO verlesenen polizeilichen Aussage des Zeugen K. begegnet im Ergebnis keinen rechtlichen Bedenken.

aa) Der Zeuge erschien zunächst zum Termin seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung nicht. Vom Gericht angeordnete Vorführungen zu zwei weiteren Terminen scheiterten: Die Polizei teilte mit, der Zeuge sei in der Wohnung nicht angetroffen worden; die Wohnungstür habe weit offen gestanden. Möglicherweise wohne er dort nicht mehr; eine frühere Freundin habe allerdings erklärt, er wohne noch unter der angegebenen Adresse.

Das Landgericht ordnete daher die Verlesung des Protokolls der polizeilichen Vernehmung des Zeugen gemäß § 251 Abs. 2 Satz 2 StPO an; das Protokoll wurde am 24. Juli 2003 in der Hauptverhandlung verlesen. Am 28. Juli 2003 erschien der Zeuge K. in der Kanzlei des Verteidigers und hinterließ dort eine schriftliche Mitteilung. Danach halte er sich in seiner Wohnung nur sporadisch auf; er werde zum Hauptverhandlungstermin am 31. Juli 2003 erscheinen.

Als der Zeuge zu diesem Termin gleichwohl nicht erschien, stellte der Verteidiger den Antrag, eine erneute Ladung oder Vorführung des Zeugen aufgrund der Bedeutung seiner Aussage zu versuchen. Er legte hierzu die Erklärung des Zeugen vom 28. Juli 2003 vor und teilte auch Name und Anschrift eines Bekannten des Zeugen mit, bei dem sich dieser oft aufhalte und über den er zu erreichen sei. Er teilte mit, der Zeuge halte sich ständig in der G. Drogenszene auf und sei dort von der Polizei aufzufinden.

Das Landgericht hat den Antrag zurückgewiesen, weil der Zeuge weiterhin unerreichbar sei. Hieran ändere sein Erscheinen bei dem Verteidiger nichts, denn er sei trotz seiner Zusage auch danach nicht erschienen. Angesichts der früheren ergebnislosen Bemühungen, den Zeugen zum Erscheinen zu veranlassen, sei es auch nicht geboten, ihn über die Anschrift von Freunden zu laden, denn er habe auch auf bisherige Ladungen nicht reagiert.

bb) Die Rüge einer Verletzung der §§ 250, 251 Abs. 2 Satz 2 StPO greift nicht durch. Die Voraussetzungen für die Verlesung des Protokolls der polizeilichen Vernehmung lagen zum Zeitpunkt der Anordnung und der Beweiserhebung unzweifelhaft vor.

cc) Auch die Aufklärungsrüge einer Verletzung des § 244 Abs. 2 StPO greift im Ergebnis nicht durch; sie ist jedenfalls unbegründet. Zutreffend weist die Revision zwar darauf hin, daß sich für das Landgericht, auch wenn die Unerreichbarkeit des Zeugen zunächst rechtsfehlerfrei festgestellt war, die Beurteilungsgrundlage aufgrund der vom Verteidiger am 31. Juli 2003 mitgeteilten neuen Tatsachen geändert hatte und daß es daher jedenfalls nicht ausreichte, die Ablehnung eines erneuten Versuchs, den Zeugen in der Hauptverhandlung zu vernehmen, allein auf überholte Erkenntnisse aus den früheren vergeblichen Versuchen zu stützen. Dies hat das Landgericht aber auch nicht getan; vielmehr hat es bei seiner Ablehnung eines erneuten Ladungsversuchs die Wahrscheinlichkeit, daß der Zeuge in absehbarer Zeit in der Hauptverhandlung vernommen werden könne, auf der Grundlage der neuen Erkenntnisse vor dem Hintergrund seines früheren Verhaltens beurteilt. Die - wenn auch knappen - Ausführungen des Landgerichts in dem die erneute Ladung ablehnenden Beschluß lassen im Ergebnis nicht befürchten, der Tatrichter habe die Anforderungen des § 244 Abs. 2 StPO im konkreten Fall rechtsfehlerhaft verkannt. Die Angaben zum Aufenthaltsort waren weiterhin vage; das Verhalten des Zeugen, der trotz seiner Zusage erneut nicht erschienen war, belegte, daß ihm die frühere Ladung zumindest jetzt bekannt war und daß er sich einer Vernehmung in der Hauptverhandlung - aus welchen Gründen auch immer - weiterhin zu entziehen trachtete.

Die Aufklärungspflicht gebietet nicht unterschiedslos aufwendige Ermittlungsmaßnahmen sowie gegebenenfalls eine (weitere) Unterbrechung oder gar Aussetzung der Hauptverhandlung, um eines nur möglicherweise erreichbaren Zeugen habhaft zu werden. Bei der dem Tatrichter obliegenden Abwägung war hier zum einen das Maß konkreter Wahrscheinlichkeit zu berücksichtigen, daß der Zeuge aufgrund der Angaben des Verteidigers für eine Ladung erreichbar sein könne, zum anderen die Bedeutung seiner Aussage. Insoweit durfte auch berücksichtigt werden, daß eine - wenngleich mit geringerem Beweiswert zu würdigende - Aussage des Zeugen vorlag; der Inhalt seiner den Angeklagten belastenden Aussage bei der Polizei blieb als solcher in jedem Fall - auch bei nachträglicher persönlicher Vernehmung in der Hauptverhandlung - verwertbar.

Auch der Umstand, daß mit dem von dem Sachverständigen Dr. S. erstatteten DNA-Gutachten ein objektives Beweisergebnis vorlag, welches die Einlassung des Angeklagten widerlegte und die Angaben der Nebenklägerin und des Zeugen K. stützte, war zu berücksichtigen. Unter diesen Umständen war es im Ergebnis nicht zu beanstanden, daß das Landgericht der bloßen Möglichkeit einer weiteren Erforschung des Aufenthaltsorts des Zeugen, auch vor dem Hintergrund des Beschleunigungsgrundsatzes und des Anspruchs des - in Untersuchungshaft befindlichen - Angeklagten auf eine zügige Verhandlung und Entscheidung seiner Sache, kein die erneute Unterbrechung der Hauptverhandlung rechtfertigendes Gewicht beigemessen hat.

3. Auch die Rüge einer Verletzung des § 244 Abs. 4 StPO hat keinen Erfolg. Die beantragte Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zur Glaubwürdigkeit der Zeugin A. hat das Landgericht mit rechtsfehlerfreier Begründung abgelehnt. Auf die von der Revision angeführten Abweichungen zwischen dem vorbereitenden schriftlichen und dem in der Hauptverhandlung mündlich erstatteten Gutachten kann die Revision nicht gestützt werden, da dies eine dem Revisionsverfahren fremde Rekonstruktion der Hauptverhandlung voraussetzen würde.

4. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge ergibt keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten. Namentlich die sehr ausführliche Beweiswürdigung des Landgerichts läßt Rechtsfehler nicht erkennen.

HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 747

Externe Fundstellen: NStZ 2005, 44

Bearbeiter: Ulf Buermeyer