HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

September 2004
5. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die vorgezogene September-Ausgabe publiziert das möglicherweise auch in Europa wegweisende Urteil des U.S. Supreme Court Crawford v. Washington zum Konfrontationsrecht. Frau Prof. Dr. Susanne Walther erläutert Ihnen in dieser Ausgabe in ihrem Aufsatz kritisch und präzise die äußerst lesenswerte, jedoch auch Folgefragen stellende Entscheidung].

Der BGH hält nach einem mit dieser Ausgabe publizierten Beschluss § 370a AO für verfassungswidrig. Zu dieser Problematik veröffentlichen wir einen HRRS-Praxishinweis, der sich mit der Frage der Verfassungswidrigkeit und mit den prozessual möglichen heutigen Reaktionen der Praxis auseinandersetzt.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede Wiss. Ass.


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

690. Supreme Court of the United States No. 02-9410 - Urteil vom 8. März 2004 (Crawford v. Washington)

Faires Verfahren (due process of law) und Konfrontationsrecht (Zeugenaussage in Form eines Testimoniums; Verwertungsverbot hinsichtlich unkonfrontierter Zeugenaussagen; Gegenverhör; Zeuge vom Hörensagen (hearsay evidence); Zeugnisverweigerungsrecht; Fragerecht); Verfassungsauslegung (historisch bewahrende Methode).

Constitution of the United States of 1787, Amendment 6, Amendment 14; Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. d EMRK

1. Wird die belastende Aussage eines Zeugen, die er in Form eines Testimoniums (förmlich und bewusst gegenüber dem Staat getroffene Aussage) gemacht hat (testimonial statement), in der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten verwertet, obwohl der Zeuge für ein Gegenverhör der Verteidigung nicht zur Verfügung steht und auch nicht zu einem früheren Zeitpunkt einem Gegenverhör unterzogen werden konnte, so verletzt dies das im 6. Zusatzartikel zur US-Verfassung verbürgte Recht des Angeklagten, mit den "gegen ihn auftretenden Zeugen konfrontiert zu werden". Eine Verwertung derartiger Aussagen (testimonial evidence) als Beweismittel ist in der Hauptverhandlung nur zulässig, wenn der Zeuge unerreichbar ist und die Verteidigung eine frühere Gelegenheit zum Gegenverhör hatte.

2. Das Hauptübel, dem die Konfrontationsklausel des 6. Zusatzartikels zur US-Verfassung entgegentreten will, besteht in der Verwendung inquisitorischer Ermittlungsvernehmungen als Beweismittel im Strafprozess gegen den Angeklagten. Hauptgegenstand der Klausel ist daher das Testimonium vom Hörensagen (testimonial hearsay evidence). Zeugenvernehmungen durch Strafverfolgungsbeamte gehören eindeutig zu dieser Art von Beweismitteln.

3. Die Konfrontationsklausel verlangt, dass die Zuverlässigkeit des Testimonialbeweises (testimonial evidence) in einer besonderen Weise geprüft wird: Durch Auf-die-Probe-Stellen im Feuer des Gegenverhörs. Dieses verfassungsrechtlich vorgeschriebene Prüfungsverfahren darf nicht durch ein richterliches Feststellungsverfahren ersetzt werden.

4. Die hiervon abweichenden, in der Entscheidung dieses Gerichtshofs im Fall Ohio v. Roberts (448 U.S. 56 [1980] aufgestellten Grundsätze haben sich als ungeeignet erwiesen, um die von der Verfassung bezweckte Eindämmung richterlichen Ermessens zu gewährleisten.

5. Die Verfassung selbst schreibt das Verfahren zur Prüfung der Zuverlässigkeit des Testimonialbeweises (testimonial evidence) im Strafprozess vor. Weder dieser

Gerichtshof noch die Gerichte der Staaten haben die Befugnis, es durch ein anderes, nach eigenen Vorstellungen entwickeltes zu ersetzen.


Entscheidung

691. EuGH C-476/01 - Urteil der fünften Kammer vom 29. April 2004 (AG Frankenthal; Fall Felix Kapper)

Gegenseitige Anerkennung der Führerscheine in der EU/EG (Wohnsitzerfordernis; Folgen des Entzugs oder der Aufhebung einer vorherigen Fahrerlaubnis; Anerkennung eines von einem anderen Mitgliedstaat neu ausgestellten Führerscheins; enge Auslegung von Ausnahmebestimmungen insbesondere bei der Verwirklichung von Grundfreiheiten); Vorabentscheidungsverfahren (Zulässigkeit; grundsätzliche Beurteilung durch das vorlegende Gericht); Vertragsverletzungsverfahren und gegenseitige Anerkennung.

Art. 8 Abs. 4 Richtlinie 91/439/EWG; Art. 1 Abs. 2, Art. 7 Abs. 1 lit. b, Art. 9 Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein in der Fassung der Richtlinie 97/26/EG des Rates vom 2. Juni 1997; Art. 227 EGV; Art. 234 EGV; § 21 StVG

1. Artikel 1 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b und Artikel 9 der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein in der Fassung der Richtlinie 97/26/EG des Rates vom 2. Juni 1997 ist so auszulegen, dass ein Mitgliedstaat einem von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein die Anerkennung nicht deshalb versagen darf, weil nach den ihm vorliegenden Informationen der Führerscheininhaber zum Zeitpunkt der Ausstellung des Führerscheins seinen ordentlichen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats und nicht im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats gehabt hat.

2. Artikel 1 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 8 Absatz 4 der Richtlinie 91/439 ist so auszulegen, dass ein Mitgliedstaat die Anerkennung der Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins nicht deshalb ablehnen darf, weil im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats auf den Inhaber des Führerscheins eine Maßnahme des Entzugs oder der Aufhebung einer von diesem Staat erteilten Fahrerlaubnis angewendet wurde, wenn die zusammen mit dieser Maßnahme angeordnete Sperrfrist für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis in diesem Mitgliedstaat abgelaufen war, bevor der Führerschein von dem anderen Mitgliedstaat ausgestellt worden ist.