HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

September 2004
5. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

U.S. Supreme Court zum Konfrontationsrecht: Ohne Mitwirkung der Verteidigung kein Beweistransfer - also ein Meilenstein für die Beschuldigtenrechte?

Zur Entscheidung Crawford v. Washington, No. 02-9410 v. 8. März 2004, 74 CrL 412 (2004) = HRRS 2004 Nr. 690 (in diesem Heft)

Von Prof. Dr. Susanne Walther LL.M, Köln

I. Einführung

Im Zuge der in Europa voranschreitenden Konstitutionalisierung des Strafprozeßrechts stellt sich unter anderem die Frage nach Bedeutung und praktischer Reichweite des Grundrechts des Beschuldigten auf Konfrontation von Belastungszeugen, das nach der Rechtsprechung des EuGHMR wie auch des Bundesgerichtshofs als Ausfluß der Fair-Trial-Garantie gesehen wird (Art. 6 I, III d EMRK), und wie dieses im jeweiligen Verfahrenssystem umzusetzen ist.[1] Ein bislang noch ganz unterbelichtetes Zentralthema ist hierbei, welchen Zwecken eigentlich ein derartiges subjektives Verteidigungsgrundrecht neben dem objektiven, auf Wahrheitsfindung ausgerichteten Beweisrecht dienen soll.

Bezüglich des Strafverfahrenssystems in Deutschland betrifft dies jenen Themenkreis, der mit dem Begriff des "Unmittelbarkeitsgrundsatzes" des § 250 S. 2 StPO angesprochen ist und in der aktuellen Diskussion besonders unter dem Stichwort "Beweismitteltransfer in die Hauptverhandlung" für Furore sorgt.[2] Welches Verhältnis besteht zwischen "Konfrontationsrecht" und "Unmittelbarkeitsgrundsatz"? Besonders gespannt darf man angesichts dieser bislang offenen Zentralfrage sein, wenn ein ausländischer oberster Gerichtshof in einer Grundsatzentscheidung zu diesem Thema Stellung bezieht. Dies gilt insbesondere wenn es sich um den U.S. Supreme Court handelt: Denn schließlich gehört in den Vereinigten Staaten von Amerika das Recht, mit den Belastungszeugen "konfrontiert" zu werden, zu den von historischer Stunde an im Grundrechtekatalog der Verfassung verankerten Verteidigungsrechten im Strafprozeß (6. Zusatzartikel, 1798/1791).[3]

Die jüngste Entscheidung des U.S. Supreme Court im Fall Crawford v. Washington verdient indessen nicht nur deshalb unsere Aufmerksamkeit, weil sie sich als Grundsatzentscheidung, ja Wendemarke ausweist, indem sie ein wichtiges Präzedenz, das kaum ein Vierteljahrhundert alt ist[4], für überholt erklärt. Vielmehr thematisiert die von Richter Scalia formulierte opinion of the Court darüber hinaus historische Vergleiche zwischen den Traditionen des common law und denen des civil law, die ungewöhnlich tief greifen. Im Folgenden will ich die Entscheidung des U.S. Supreme Court vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtslage erläutern (II.). Daran schließt sich eine Skizze zur praktischen Bedeutung der Entscheidung an (III.), sowie ein Fazit aus rechtsvergleichender Perspektive (IV.).

II. Von Ohio v. Roberts (1980) zu Crawford v. Washington (2004)

1. Ausgangsfall und bisherige Rechtslage

a) Dem Beschwerdeführer (Crawford) war im Staat Washington der Prozeß wegen Körperverletzung und Mord gemacht worden. Gegen die Behauptung des Angeklagten, er habe in Notwehr gehandelt, ließ das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft eine Aufzeichnung der polizeilichen Vernehmung von Sylvia, der Ehefrau des Angeklagten, als Beweismittel zu. Sylvia selbst trat in der Hauptverhandlung nicht als Zeugin auf, und zwar aufgrund des von Crawford in Anspruch genommenen Eheprivilegs (marital privilege)[5]. Der State Supreme Court

von Washington billigte dieses Verfahren; der Gerichtshof meinte, die Aussage sei vom Instanzgericht zutreffend als "zuverlässig" beurteilt worden. Nach der Rechtslage im Staat Washington blockiert das Eheprivileg nicht die Möglichkeit, frühere Äußerungen (out-of-court statements) des Zeugen-Ehegatten im Prozeß als Beweismittel einzuführen. Und die Interpretation des Begriffs "frühere Äußerung" umfaßte - bislang - auch solche, die eine Beweisperson im Rahmen einer förmlichen Vernehmung machte; also die Zeugenaussage im engeren Sinne. Voraussetzung für die Einführung einer derartigen Vernehmungsaufzeichnung ist - neben der Unerreichbarkeit des Zeugen in der Hauptverhandlung - allerdings, daß die Verteidigung wenigstens zum Zeitpunkt der Vernehmung eine Möglichkeit zum Kreuzverhör hatte[6] (was nur bei der gerichtlichen Voranhörung - preliminary hearing - oder bei der Beweissicherungsvernehmung - deposition -, nicht aber bei polizeilichen Vernehmungen vorgesehen ist).

Dieses Prinzip galt bislang allerdings nicht absolut, vielmehr waren gewisse Durchbrechungen möglich. Auf der Grundlage der Leitentscheidung des U.S. Supreme Court in Ohio v. Roberts aus dem Jahr 1980 galt dafür die Tatbestandsformel, es müßten "angemessene Zuverlässigkeitsindizien" vorliegen (adequate indicia of reliability), was entweder dann der Fall sei, wenn das Beweismittel unter eine "fest verwurzelte Hörensagen-Ausnahme" (firmly rooted hearsay exception) falle oder aber (sonstige) "spezifische Garantiemerkmale für Vertrauenswürdigkeit" aufweise (bears particularized guarantees of trustworthiness).[7] Sowohl das Instanzgericht als auch der oberste Gerichthof im Staat Washington (Washington Supreme Court) sahen diesen Zuverlässigkeitstest als erfüllt an, allerdings in unterschiedlicher Weise; die Appellationsinstanz (Washington Court of Appeals) hatte hingegen die Auffassung vertreten, die Aussage von Sylvia als Beweismittel bestehe den Roberts-Test für Zuverlässigkeit nicht und ihre Verwertung in der Hauptverhandlung sei rechtswidrig gewesen.

b) Die vom U.S. Supreme Court in Ohio v. Roberts von 1980 entwickelte Konzeption war im amerikanischen Schrifttum seit jeher kritisiert worden. In dogmatischer Hinsicht wurde es als unbefriedigend angesehen, daß eine Verzahnung von (subjektivem) Konfrontationsrecht und (objektivem) Beweisrecht (Doktrin vom Hörensagen-Beweis, Unmittelbarkeit) herbeigeführt worden war, die in vielerlei Hinsicht neue Fragen aufwarf. Und in praktischer Hinsicht drängten sich alsbald Zweifel auf, ob die Instanz- und Appellationsgerichte in der Lage sein würden, anhand der Roberts-Kriterien ausreichende Rechtsklarheit und Rechtssicherheit herzustellen. Ein zentraler Schwachpunkt bestand in den ungelösten Rätseln darüber, welche Hörensagen-Ausnahmen überhaupt als "fest anerkannt" gelten konnten und welche nicht, bzw. auf welche Weise dies festgestellt werden sollte.

2. Die Crawford-Entscheidung

In der neuesten Entscheidung des U.S. Supreme Courts verwirft der Gerichtshof die Roberts-Konzeption. Die Begründung erinnert an ein Vexierbild: Auf den ersten Blick scheint es sich um eine Entflechtung von subjektivem Konfrontationsrecht und objektivem Beweisrecht zu handeln. Es könnte sich aber auch - beschränkt auf einen wichtigen Teilbereich - um eine Verschmelzung handeln: Die Hochstilisierung eines subjektiven Beschuldigtenrechts zum objektiven Verfassungsprinzip.

a) In dem Mehrheitsvotum in Crawford v. Washington (2004) bricht Richter Scalia eine Lanze für das in allen Strafprozessen geltende Grundrecht des Angeklagten "to be confronted with the witnesses against him", das er als "fundamentale Verfahrensgarantie" mit Geltung sowohl vor Bundes- als auch Staatengerichten bezeichnet.[8] Er greift in geradezu religiöser Diktion auf die historische Entwicklung seit der römischen Antike zurück. Die Entstehungsgründe des Konfrontationsrechts sollen auf einen ganz speziellen Typus des außerhalb der Hauptverhandlung erhobenen Personalbeweises verweisen, eben jenen, um den es im Ausgangsfall ging: Die Zeugenaussage im engeren Sinne, den Testimonialbeweis, der im Wege eines Vernehmungsverfahrens erzeugt wird (testimonial evidence). Scalia ruft die dunklen Seiten der englischen Strafverfahrensgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, aber auch der amerikanischen Kolonialzeit des frühen 18. Jahrhunderts in Erinnerung; die englische Krone bediente sich damals in Strafsachen berüchtigter "kontinentaler Verfahrensweisen". Diese ermöglichten die inquisitorische, für den Beweistransfer vorgesehene Herstellung von Zeugenaussagen im Ermittlungsverfahren (Vernehmungsprotokolle, beeidete schriftliche Erklärungen), wodurch sich die Krone vor allem in Prozessen von politischer Bedeutung eine günstige Anklägerposition verschaffen konnte.[9] Es fehlt auch nicht das berühmte Beispiel des Hochverratsprozesses gegen Sir Walter Raleigh im England des Jahres 1603: Der Hauptbelastungszeuge Lord Cobham - der zugleich als mutmaßlicher Komplize beschuldigt war -, erschien nicht persönlich vor Gericht, vielmehr wurden seine Aussagen und Erklärungen, die er gegenüber einem Untersuchungsausschuß bzw. per Brief gemacht hatte, im Prozeß verlesen. Raleighs Proteste gegen das der "spanischen Inquisition gleichende" Verfahren und seine Forderung, ihm

seinen "Ankläger" gegenüberzustellen, blieben ungehört. Er wurde zum Tode verurteilt und alsbald hingerichtet; und dies, obwohl Cobham noch vor der Urteilsvollstreckung seine Aussage widerrufen hatte.[10]

b) Diesen historischen Hintergrund nimmt Scalia als Beweis für die These, das "Hauptübel", das die Verfassungsgründer mit der Verankerung der Confrontation Clause bekämpfen wollten, sei die Anwendung eines "civil-law-Modus" im Strafverfahren. Gemeint ist die ex-parte-Vernehmung von Zeugen im Ermittlungsverfahren zum Zwecke der Herstellung von Aussagen, die durch Protokollverlesung in die spätere Hauptverhandlung eingeführt werden.[11] Das Konfrontationsrecht könne vor diesem Hintergrund nicht etwa beschränkt sein auf den Zeugenbeweis im formalen Sinne, also den im Gericht auftretenden Zeugen. Und die Reichweite der Confrontation Clause des 6. Verfassungszusatzes könne nicht vom Stande des Beweisrechts abhängen. Das Mehrheitsvotum verwirft also, soweit es um das Verhältnis von (subjektivem) Konfrontationsrecht und (objektivem) Beweisrecht geht, den von Roberts (1980) eingeschlagenen Mittelweg und kehrt im Ausgangspunkt zu einem Differenzkonzept zurück, wie es in der früheren Leitentscheidung California v. Green (1970) noch vorgeherrscht hatte.[12] Allerdings könnte die so gewonnene Bekräftigung der Confrontation Clause bei Vorliegen von testimonial evidence künftig einen nicht unerheblichen Preis haben, worauf etliche obiter dicta hindeuten: Daß nämlich der Bereich des nontestimonial hearsay - also frühere Äußerungen eines Zeugen, die nicht als "Testimonium" zu betrachten sind - aus dem Schutzbereich des Konfrontationsrechts ganz herausfällt.[13]

c) Unmittelbar entscheidungsrelevant war indessen (nur) die Frage, unter welchen Voraussetzungen außergerichtliche Zeugenaussagen im engeren Sinne des Testimonialbeweises (testimonial evidence) durch Verlesung von Protokollen bzw. Vorführung von technischen Aufzeichnungen (records) oder auf andere indirekte Weise in die Hauptverhandlung eingeführt werden können. In dieser Frage gibt sich der Oberste Gerichtshof nun kompromißlos: Eine derartige Beweisführung setze zwingend voraus, daß (i) der Zeuge in der Hauptverhandlung unerreichbar ist und (ii) der Beschuldigte eine frühere Gelegenheit zur Durchführung eines Gegenverhörs hatte (cross-examination).

In dem Motiv, genau dies als historisch begründete, ja unveränderliche Verfahrensgarantie für den Umgang mit Testimonialbeweisen abzusichern, sieht das Mehrheitsvotum den Hauptzweck der Confrontation Clause des 6. Amendments. Die Verfassung selbst sehe für Testimonialbeweise eine unverrückbare Form der Zuverlässigkeitsüberprüfung vor, und zwar in Gestalt eines bestimmten Verfahrens: durch Gegenverhör. Jedes materielle, von einem Richter zu handhabende Konzept von "Zuverlässigkeit" bleibe hingegen amorph, ja subjektiv:

"Admitting statements deemed reliable by a judge is fundamentally at odds with the right of confrontation. To be sure, the Clause's ultimate goal is to ensure reliability of evidence, but it is a procedural rather than a substantive guarantee. It commands, not that evidence be reliable, but that reliability be assessed in a particular manner: by testing in the crucible of cross-examination. The Clause thus reflects a judgment, not only about the desirability of reliable evidence (a point on which there could be little dissent), but about how reliability can best be determined." [14]

Die von Scalia angeführte Reihe an Beispielen aus der Praxis der Appellationsgerichte vermittelt in der Tat einen plastischen Eindruck davon, daß sich auf der Grundlage des Roberts-Tests haarsträubender Wildwuchs, ja Willkür in der Rechtsprechung der einzelstaatlichen Obergerichte entwickelt hat.[15]Die Vorhersage der Kritiker, die in Roberts aufgestellten Grundsätze würden zu einer "unberechenbaren und inkonsistenten" Praxis führen, gilt der Gerichtsmehrheit angesichts einer langen Reihe einschlägiger Beispiele als erwiesen. Ein besonders neuralgischer Punkt ist dabei die im amerikanischen Strafprozeßrecht notorische Verwertung belastender Äußerungen von Tatkomplizen; ob diese Praxis, die bislang auch Vernehmungsaussagen umfaßte, wirklich durch eine anerkannte "hearsay exception" legitimiert werden und vor Roberts Bestand haben kann, war nach moderner Auffassung stets umstritten.[16] Das Bemühen, vor allem diese Praxis abzustellen, zumal jüngst offenbar geworden ist, daß die Strafverfolgungsbehörden sich gerne und systematisch die gerichtlichen Anhörungstermine im Abspracheverfahren für Prozesse gegen andere Beschuldigte zunutze machen[17], dürfte ein maßgeblicher Grund für die ungewöhnlich breite Stimmenmehrheit sein, die Scalias Votum innerhalb des Gerichtshofs gefunden hat.[18] Schließlich wies ja auch der Sachverhalt des Ausgangsfalles Elemente einer Komplizen-

Konstellation auf; denn immerhin war zunächst die Zeugin Sylvia, deren Aussage im Prozeß gegen Crawford eingeführt werden sollte, zum Zeitpunkt der polizeilichen Vernehmung ebenfalls der Tatbeteiligung verdächtigt und deshalb in Gewahrsam genommen worden. Und die Prozeßgeschichte hatte nur allzu deutlich vor Augen geführt, wie unterschiedlich die Roberts-Kriterien für "Zuverlässigkeit" von den Gerichten schon ein und desselben Staates gehandhabt werden konnten.[19]

3. Das Sondervotum von Rehnquist und O'Connor

Chief Justice Rehnquist nimmt in dem von Justice O'Connor mitgetragenen Sondervotum[20] kritisch zu zentralen Thesen des Mehrheitsvotums Stellung. Es sind im wesentlichen vier Punkte, die ins Feld geführt werden:

-              Es gebe keinen überzeugenden Grund, Ohio v. Roberts als Präzedenz zu verwerfen. Die mit der Revision angegriffene Entscheidung hätte bereits wegen einer inkorrekten Anwendung der in Roberts sowie in den nachfolgenden Präzedenzien entwickelten Rechtsgrundsätze aufgehoben werden können.

-              Das Problem der Rechtsunsicherheit werde durch das Verwerfen von Roberts nicht abgemildert, sondern verschärft. Denn was Testimonialbeweis sei und was nicht, werde im Mehrheitsvotum nicht definiert. In der Alltagspraxis sei gerade dies aber von enormer Bedeutung.

-              Die historische Argumentation sei fragwürdig. Gewiß habe die besondere Skepsis der Gründer dem Beweistransfer beeideter schriftlicher Erklärungen (affidavits) und beeideter Beweissicherungsvernehmungen (depositions) gegolten. Daraus zu schließen, sie habe sich allgemein auf Testimonialbeweise erstreckt und man habe eine entsprechende Zweiteilung der Personalbeweise (in testimonial und non-testimonial) im Sinn gehabt sei aber verfehlt.

-              Ausgehend von dem Prinzip, daß auch die Confrontation Clause der Gewährleistung akkurater Wahrheitsfindung im Strafprozeß diene, habe es nie ein starres Ausschlußprinzip gegeben. Weder in der Entstehungsgeschichte noch in der jüngeren Rechtsentwicklung sei belegt, daß man mit der Confrontation Clause die Verwendung früherer Testimonialbeweise kategorisch und ausnahmslos aus der Hauptverhandlung verbannen wollte.

III. Praktische Auswirkungen

In der amerikanischen Strafrechtspraxis dürfte sich die Crawford-Rechtsprechung für die Strafverteidigung weniger positiv auswirken als dies zunächst den Anschein haben mag.

1. Eine Stärkung der Beschuldigtenrechte darf (nur) erwartet werden in dem Sinne, daß hier das Aus für eine seit etlichen Jahren um sich greifende Strafverfolgungspraxis besiegelt wird, die vor allem in einem Verfahrenssystem, in dem bis zu etwa 90% der Strafanklagen durch Schuldanerkenntnis (guilty plea) in summarischer Weise erledigt werden, Rechtsstaatlichkeit und Verfahrensfairneß gefährlich unterminiert: Zunehmend stützen sich die Ankläger bei ihrer Sammlung von Belastungsbeweisen auf Erklärungen von Mitbeschuldigten, die Geständnisse oder indirekte Selbstbelastungen enthalten und dabei zugleich in der einen oder anderen Weise Schlüsse auf das Ob und Wie der Tatbeteiligung anderer, namentlich des Beschuldigten zulassen. Diese Belastungszeugen sind dann in der Hauptverhandlung gegen den Beschuldigten "unerreichbar", weil absehbar ist, daß sie sich auf ihr Privileg, nicht zur Selbstbelastung verpflichtet zu sein (privilege against compelled self-incrimination), berufen können und werden. Und bei diesen Personalbeweisen handelt es sich eben keineswegs bloß um eigeninitiativ getätigte Äußerungen, sondern vor allem um solche, die ohne Mitwirkung der Verteidigung von den Strafverfolgungsbehörden zum Zwecke späteren Beweistransfers hervorgebracht werden: Im Rahmen von polizeilichen Vernehmungen, die audio-visuell aufgezeichnet werden, oder aber im Rahmen von Erklärungen, die ein Beschuldigter als Teil der Einlassung im Schuldanerkenntnisverfahren (plea allocution) abgegeben hat und die per Wortprotokoll des Gerichts fixiert und authentifiziert sind.

Obwohl der U.S. Supreme Court solchen Praktiken bereits vor Jahren einen Riegel vorschieben wollte[21], hatte die Verfahrensweise in den Einzelstaaten, aber auch in den Bundesgerichten - wie Scalia heute hervorhebt[22] - hiervon nicht Abstand genommen. Schwer zu erklären ist dies nicht: Die Präzedenzwirkung einhegender Entscheidungen des U.S. Supreme Court aus den Jahren 1994 und 1999 war schwach geblieben, nicht nur, weil die Voten jeweils zersplittert und maßgebliche Gründe auf diese Weise entweder nur von einer knappen Mehrheit oder gar bloß einer Pluralität von drei oder vier Richtern getragen wurden; sondern auch, weil die Sachkonzeption fragwürdig und letztlich zum Scheitern verurteilt war. Man hatte sich im Obersten Gerichtshof nämlich nicht dazu durchringen können, entweder die einschlägigen Regeln des einfachen Beweisrechts (Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in Gestalt einer hearsay exception für "selbstschädigende Erklärungen", statements against interest[23]) oder den Auffangtest von Roberts, die Frage nach "sonstigen besonderen Zuverlässigkeitsindizien", oder beides schlicht als verfassungswidrig zu verwerfen. Vielmehr meinte man, die Dinge mit quälend zu lesenden Versuchen einer verfassungskonformen Auslegung in den Griff zu bekommen - was die Komplikationen für

die Praxis nicht verringerte, und obendrein noch neue Spielfelder für die Ankläger eröffnete.[24]

2. Weshalb gleichwohl aus Sicht der Strafverteidigung kein Grund zur Euphorie besteht, will ich im folgenden kurz skizzieren:

a) Die Hoffnung, daß den Strafverfolgungsbehörden nunmehr eine bequeme Strategie zur Gewinnung von (nicht oder schwer angreifbaren) Belastungszeugen ganz aus der Hand geschlagen sei, wäre schon deshalb naiv, weil Crawford mit keiner Silbe auf die Frage eingeht (und auch nicht einzugehen brauchte!), wie es um die Grundvoraussetzungen der Verläßlichkeit von Einlassungen im Schuldanerkenntnisverfahren (plea allocutions), insbesondere ihre Tauglichkeit als Beweismittel gegen Dritte, steht. Die Staatsanwaltschaften werden also keineswegs gehindert sein, ihren Anklagen auch künftig solche Beweise zugrunde zu legen. Soweit diese Anklagen wiederum im Plea-Verfahren erledigt werden, entsteht kein Konflikt mit dem Konfrontationsrecht des Beschuldigten; dieses gilt nur im Strengbeweisverfahren der förmlichen Hauptverhandlung (trial), während im Plea-Verfahren der Freibeweis vorherrscht. Und selbst im Falle eines trial kann die Staatsanwaltschaft plea allocutions eines mutmaßlichen Mittäters ohne Konflikt mit dem Konfrontationsrecht einführen, sofern dieser Zeuge jetzt für ein Gegenverhör zur Verfügung steht. Die Bereitschaft hierzu kann die Anklage sich durch die Zusage, die gerichtliche Aussage nicht gegen den Zeugen selbst zu verwerten (use immunity), erkaufen.[25]

b) Ob die in Crawford geradezu ikonographisch wirkende Erhöhung, ja Verklärung der cross-examination als Kernstück des Konfrontationsrechts mehr reale Substanz hat als eine akademische Wasserpfeifenhalluzination ("professional pipedream"[26]) ist mehr als fraglich. Denn in der Praxis zählen die konkreten Bedingungen effektiver "Konfrontation", also die Anforderungen an die Qualität der Mitwirkung. Die bislang führenden Präzedenzentscheidungen aus den 70er und 80er Jahren hatten eben diesen Fragenkomplex stets als wichtiges Problem erkannt und thematisiert, die Lösung jedoch, da nicht unmittelbar entscheidungsrelevant, offen gelassen.[27] Liest man heute Scalias Votum unter diesem Aspekt, so tun sich Halbherzigkeiten und Widersprüchlichkeiten, ja greifbare Gefahren für die Zukunft der vordergründig so hoch gehaltenen Beschuldigtengrundrechte auf.

aa) Das zeigt sich schon in der Grundlegung. Man seziere nur einmal anhand der oben zitierten Passage die drei aufeinanderfolgenden Kernsätze auf die Aussagen zum Thema "Beweisqualität": (1) Das ultimative Ziel der Konfrontationsklausel ist die Gewährleistung der Zuverlässigkeit der Beweise; (2) sie verlangt aber nicht, daß Beweise zuverlässig sind, sondern daß diese Zuverlässigkeit in besonderer Weise geprüft wird; (3) die Konfrontationsklausel enthält "ein Urteil, nicht nur" über die Erwünschtheit zuverlässiger Beweise (ein Punkt, über den kaum Dissens bestehen könne).[28] (Also offenbar ein Punkt, über den sehr wohl Dissens besteht.) Diese Herzschwäche bedingt dann die Funktionsschwäche des gesamten Organismus. Wenn es der Confrontation Clause wirklich um die Gewährleistung der Zuverlässigkeit der Beweise, und damit um Wahrheitsfindung geht, dann müßte der nächste Schritt ja darin bestehen, die Eignungsfrage zu stellen: Welche Instrumentarien taugen denn bestmöglich dazu, Zeugenaussagen auf ihre Brauchbarkeit zu überprüfen? Was ist in Wirklichkeit dran an der historisch überlieferten, von vielen - auch von Scalia! - geradezu als sacrosankt gehandelten Lehrmeinung, nichts sei so gut geeignet, "die Wahrheit herauszubringen", wie ein rigoroses Gegenverhör? Dazu findet sich kein Wort; und dies, obwohl seit nahezu einem Jahrhundert innerhalb des angloamerikanischen Schrifttums selbst eine realistische, an der konkreten Praxiserfahrung orientierte Analyse der Leistungsfähigkeit (für die Verteidigungsposition), aber auch der Nachteile und Gefahren der "cross-examination" (für die Wahrheitsfindung) gefordert wird.[29]

bb) Abgesehen hiervon ist Scalias Konzept in sich widersprüchlich. Denn wenn schon das Gegenverhör ein so bedeutsames Wahrheitsfindungsinstrument sein soll[30] dann müßte konsequenterweise in der Praxis für eine nicht nur in subjektiver, sondern auch in objektiver Hinsicht adäquate, d.h. tatsächliche und effektive Mitwirkung der Verteidigung zum Zeitpunkt der Herstellung der Aussage als Voraussetzung für jeden späteren Beweistransfer gesorgt werden.[31] Doch in dieser Hinsicht enthält Scalias Votum Aussagen, die gerade in eine andere Richtung deuten. So wird an zentraler Stelle nur von dem Erfordernis einer früheren "Gelegenheit" zum Gegenverhör gesprochen; und im obiter dictum des beigefügten Kleingedruckten (!) ist zu lesen, es ergäben sich aus der Verfassung "keinerlei Einschränkungen" für die Verwertung früherer Testimonialaussagen, sofern die Beweisperson nur in der Hauptverhandlung für ein Gegenverhör

zur Verfügung stehe.[32] Das könnte für die Fallkonstellationen des präsenten Zeugen sogar auf eine Verschärfung der seit California v. Green (1970) erreichten Rechtslage hinauslaufen. Denn es wird nicht nur weiterhin an der seit Jahrzehnten von Praktikern bekämpften These festgehalten, die "spätere" Gegenverhörsmöglichkeit eines Zeugen in der Hauptverhandlung (zum Zeitpunkt der Beweisverwertung) sei genauso gut wie die frühere (zum Zeitpunkt der Beweiserhebung).[33] Möglicherweise droht sogar ein Abbau der Mitwirkungsrechte im Ermittlungsverfahren. Wenn die Verfassung nämlich "no con s traints at all" vorsieht für die Verwertbarkeit früherer Aussagen, solange eben später in der Hauptverhandlung ein Gegenverhör durchgeführt werden kann - könnte es dann künftig vielleicht sogar irrelevant sein, ob die Verteidigung bei der früheren Vernehmung überhaupt anwesend war?

c) Beunruhigend ist zugleich, daß eine strikte Zweiteilung der Personalbeweise und in deren Folge eine Beschränkung des Konfrontationsrechts auf die Kategorie des "Testimonialbeweises" - testimonial evidence - in den Bereich des Möglichen gerückt wird. Und dies, ohne daß auch nur annähernd geklärt wäre, welche Formen des Personalbeweises unter diese Begrifflichkeit fallen und welche nicht. Scalias Votum liefert nur eine - kasuistisch gefaßte - Minimaldefinition ("Zeugenaussagen während einer Voranhörung, vor einer Anklagejury oder während einer früheren Hauptverhandlung, sowie bei Polizeivernehmungen") und gesteht zu, daß es im Übrigen zu "vorübergehender Unsicherheit" kommen könne.[34] Die gelieferten Beispiele lassen indessen erahnen, daß Scalia selbst Anhänger einer formalen Definition sein dürfte; der Begriff "Testimonialbeweis" könnte folglich künftig auf Erklärungsprodukte aus formalen Vernehmungen beschränkt sein. Die mit der früheren Roberts-Konzeption verbundene Aussicht, den Ausuferungen eines in weiten Teilen archaischen Beweisrechts, namentlich der weitgehend immer noch kasuistisch-starr strukturierten Hörensagen-Doktrin, vom Verfassungsrecht her Einhalt zu gebieten, müßte dann für lange Zeit begraben werden. Den Staaten - aber auch dem Bund - würde, wie Scalia orakelt, für alle Bereiche von Personalbeweisen, die nicht "testimony" sind, "Flexibilität" eingeräumt.

Doch ist diese - nur mögliche und in der mehr oder weniger fernen Zukunft liegende - Konsequenz in der Sache nicht das einzige, was amerikanische Strafverteidiger zu bedenken haben. Eine sehr handfeste Konsequenz der Crawford-Entscheidung trifft sie unmittelbar: De facto bedeutet der Verzicht Scalias auf eine genauere Definition des Begriffs "testimonial evidence" nämlich eine Verschärfung der Revisionsbegründungslast zum Nachteil der Verteidigung. Die im amerikanischen Revisionsrecht ohnehin hohe Beibringungs- und Überzeugungslast der Anwaltschaft bei Verstößen gegen Beweisrechte, und zwar nicht nur bezüglich der Tatsachen, sondern auch bezüglich des anwendbaren Rechts, ist enorm erhöht worden.[35] Wer künftig mit Aussicht auf Erfolg bereits in den Appellationsgerichten des Bundes und der Staaten - und nicht erst im Wege einer Verfassungsbeschwerde zum U.S. Supreme Court - eine Strafverurteilung mit der Behauptung anfechten will, im Verfahren sei das Grundrecht auf Konfrontation von Belastungszeugen verletzt worden, obwohl der fragliche Personalbeweis unter keine der vier von Scalia genannten Arten von Testimonialbeweis fällt, wird wohl in die Bundeshauptstadt Washington reisen und sich dort - möglichst mit einem Team herausragender Jurastudenten der Elite-Lawschools! - für Tage oder gar Wochen in den Archiven der Library of Congress vergraben müssen, um Belege aus der Gründungsgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts für einen doch schon nach der "ursprünglichen Bedeutung" der Verfassung anzuerkennenden weiteren Begriff von "testimonial evidence" zusammenzutragen - oder aber Scalias Fokussierung hierauf ganz zu widerlegen.

IV. Rechtsvergleichende Perspektive

Die vorliegende Entscheidung führt sprachliche Brillanz, juristische Argumentationskunst, tiefschürfende Aufbereitung der Quellen, sowie Transparenz der Gedankenführung vor Augen, wie man sie von Entscheidungen des U.S. Supreme Court im Allgemeinen, besonders aber von einem Votum aus der Feder Antonin Scalias zu erwarten hat. Bemerkenswert ist sie im Übrigen deshalb, weil es sich um eine ungewöhnlich einmütige Entscheidung handelt. Scalias Votum stellt in sämtlichen Abschnitten eine von sieben Mitgliedern getragene Gerichtsmeinung dar, die mithin in vollem Umfang Entscheidungsgründe von hohem Präzedenzgewicht formuliert. Gewiß, man mag gerade aus europäischer Sicht noch etliches an Scalias Methodik auszusetzen haben - insbesondere, daß Rechtsvergleichung nicht stattfindet. Die "Fair-Trial"-Rechtsprechung des Straßburger EuGHMR zu Art. 6 I, III d EMRK verdient zwar in etlichen Punkten Kritik[36],

doch drängen sich gerade beim "Konfrontationsrecht" so viele Parallelen bei den Sachfragen wie in der Rechtslage auf, daß man hier von einer verpaßten Chance nicht nur zur Horizonterweiterung, sondern auch zu einem vorwärtsgewandten Brückenbau zwischen "common law"- und "civil law"-Denken sprechen kann.[37] Aber wie dem auch sei, wir sollten unbeirrt selbst an den Brücken bauen, und wie haben guten Grund zu fragen: Was können wir aus Crawford lernen?

1. Kein Beweistransfer ohne Mitwirkung der Verteidigung - aber ohne Ausnahme?

Europäisches, ja globales Interesse verdient es, daß der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten alle Verfahrensweisen verworfen hat, die auf einen Beweistransfer von Zeugenaussagen ohne Mitwirkung der Verteidigung hinauslaufen. Bemerkenswert ist weiter, daß das Verbot eines solchen Beweistransfers in die strafrechtliche Hauptverhandlung (Schuldprüfungsverfahren) nicht auf Fälle beschränkt ist, in denen die Zeugenaussage bereits mit entsprechendem Transfervorsatz hergestellt wird. Es greift immer dann ein, wenn es "um Testimonialaussagen geht" (where testimonial statements are involved [38] ).

Aber kann es richtig sein, diesen Grundsatz zu verabsolutieren? Konkret bedeutet dies, daß gegen den Willen der Verteidigung weder ein polizeiliches noch ein richterliches Protokoll der früheren Vernehmung eines Zeugen (oder Sachverständigen) verlesen oder anderweitig für den Schuldnachweis in der Hauptverhandlung verwertet könnte. Nur zwei Ausnahmen wären möglich: (1) die Beweisperson steht in der Hauptverhandlung für ein Gegenverhör zur Verfügung, ist also erreichbar; oder (2) die Beweisperson ist zwar unerreichbar, konnte jedoch bereits bei der früheren Vernehmung von der Verteidigung einem Gegenverhör unterzogen werden. Daß unserem Rechtsdenken ein so rigoroses Konzept fremd ist, zeigt ein Seitenblick auf die Durchbrechungen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in §§ 251 ff. dStPO (und die dazu unterbreiteten Vorschlägen im Diskussionsentwurf von 2004[39]). Diese Durchbrechungen gehen in manchem - vor allem soweit es um die Verwertbarkeit polizeilicher Protokolle geht! - gewiß zu weit.[40] Eine striktere Beschränkung hat vieles für sich. Eine so rigorose Lösung wie in Crawford dürfte indessen in der Praxis etliche unliebsame Nebenwirkungen - sowohl für die Wahrheitsfindung als auch für den Zeugen- und Opferschutz - erzeugen, die den realen Zugewinn bei der Stärkung der Verteidigungsrechte leicht überwiegen könnten. Denn wenn "Unerreichbarkeit" genügt, um die Beweisführung der Anklage über eine frühere Zeugenaussage in der Hauptverhandlung komplett zu blockieren, können Anreize entstehen (für Verfahrensbeteiligte, aber auch für Dritte, die am Ausgang des Verfahrens ein Interesse haben), unliebsame Zeugen - sogar gewaltsam - verschwinden zu lassen. Eine Lösung, die sich den Grundsatz optimaler Mitwirkung der Verteidigung im Ermittlungsverfahren und (!) in der Hauptverhandlung zu eigen macht, bei den Voraussetzungen für Beweistransfer aber doch Raum für - sorgsam umgrenzte - Einschränkungen zuläßt, erscheint daher vorzugswürdig.

2. Welchem Zweck "dient" das Konfrontationsrecht?

Aus rechtsvergleichender Sicht verführerisch mag die in Crawford postulierte These sein, das Konfrontationsrecht des Beschuldigten diene, in Gestalt der Garantie des Gegenverhörs von Belastungszeugen, der "Gewährleistung der Zuverlässigkeit der Beweise", und damit der Wahrheitsfindung. Seit dem 17. Jahrhundert glaubt man im anglo-amerikanischen Rechtskreis an die Aufklärungskraft des Gegenverhörs.[41] Schon Bentham soll es als "Absicherung der Richtigkeit und Vollständigkeit der Zeugenaussage" bezeichnet haben, berühmt geworden ist aber vor allem das Wort von Wigmore, der das Gegenverhör als "zweifellos das großartigste juristische Werkzeug, das je zur Entdeckung der Wahrheit erfunden wurde", beschrieben hat.[42] Nur: Wäre es tatsächlich so, daß - wie in Crawford formuliert wird - mit der "Konfrontation" ein Verfahren zur Prüfung der Beweisqualität von Zeugenaussagen gemeint ist, so müßte die logische Konsequenz eigentlich darin bestehen, die Durchführung eines kunstgerecht strukturierten Gegenverhörs als Teil des objektiven, auch bei Entlastungsbeweisen anzuwendenden Gerichtsverfahrens vorzusehen. Daß damit der tiefere Sinn eines "right to confront the witnesses against him" für den Beschuldigten ad absurdum geführt wäre, liegt auf der Hand.

Dieser tiefere Sinn wird freilich erst dann sichtbar, wenn man sich von der Romantik amerikanischer Gerichtsfilme löst und die realistische Perspektive jener Praktiker einnimmt, die einerseits an der Bedeutung des Konfrontationsrechts für die Verteidigung keinen Zweifel lassen, jedoch andererseits dabei Aspekte in den Vordergrund

stellen, die der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs und dem Grundrecht auf effektive Verteidigung sehr viel näher stehen als dem Prinzip der Wahrheitsfindung.[43] Sie meinen: Das Gegenverhör mag auch der Wahrheitsfindung - in concreto - nützlich sein; es aber als dafür unerläßlich und daher zweckdienlich anzusehen, wäre verkehrt.[44] Dementsprechend gibt es für sie auch keinen überzeugenden Grund, die Durchführung - oder mindestens Durchführbarkeit - eines Gegenverhörs als absolute Voraussetzung der Verwertbarkeit einer Zeugenaussage in der Hauptverhandlung zu konzipieren.

Zwischen "der Wahrheitsfindung dienen" und "der Wahrheitsfindung nutzen" mag auf den ersten Blick nur ein Haar liegen, auf den zweiten liegen dazwischen Welten. Der Wahrheitsfindung dient das objektive Beweisrecht und die Pflicht des Gerichts, für optimale Aufklärung zu sorgen. Der Wahrheitsfindung wird es nun in der Regel nutzen, wenn der Beschuldigte bzw. die Verteidigung daneben ihre Konfrontationsrechte bei Zeugenvernehmungen wahrnimmt. Der Zweck des Konfrontationsrechts liegt allerdings anderswo; es dient allein dem Grundrecht auf effektive Verteidigung, das seinerseits eine Ausprägung des Urgrundrechts auf Gewährleistung rechtlichen Gehörs ist. Die Garantie einer effektiven Mitwirkung der Verteidigung bei Einvernahme von Belastungszeugen ist eine Frage des "fair hearing".[45] Daraus folgt auch: Die Möglichkeit zum Gegenverhör ist ein Kernbestandteil des Konfrontationsrechts, aber eine Beschränkung hierauf ist unhaltbar.

Eine wichtige Chance, dies alles aufzuklären und weiterzuführen, hat der U.S. Supreme Court ungenutzt verstreichen lassen. Und dies obwohl der Kontext der Confrontation Clause, also Wortlaut und Systematik des gesamten 6. Zusatzartikels mit schwarzen Lettern die entscheidenden Bedeutungszusammenhänge geradezu augenfällig macht: Aufgeführt sind dort sämtlich elementare Verteidigungsgrundrechte des Beschuldigten, und sie sind übrigens nach ständiger Rechtsprechung Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips und mithin auch für alle Einzelstaaten verbindlich:

In all criminal prosecutions, the accused shall enjoy the right to a speedy and public trial, by an impartial jury of the State and district wherein the crime shall have been committed, which district shall have been previously ascertained by law, and to be informed of the nature and cause of the accusation; to be confronted with the witnesses against him; to have compulsory process for obtaining witnesses in his favor, and to have the Assistance of Counsel for his defence. [46]

Fazit: Bei aller Brillanz - Rechtsikonographie als Methodik produziert kein nennenswertes Erkenntnispotential; man kann sie getrost in der Wasserpfeife rauchen.

3. Ausblick

Die neue Entscheidung des U.S. Supreme Court setzt eine für die aktuelle Reformdiskussion in Europa beachtliche Markierung. Ihr besonderes Verdienst liegt darin, die Gefahren, die mit der staatlichen, ohne Mitwirkung der Verteidigung vollzogenen Herstellung von Personalbeweisen, insbesondere durch die Strafverfolgungsorgane, und mit dem späteren Transfer solcher Beweise in die Hauptverhandlung verbunden sind, historisch wie aktuell plastisch vor Augen zu führen. Man hat sich nicht gescheut, dem Druck der Verfolgungspraxis ein flammendes Bekenntnis zur Bedeutung zentraler Beschuldigtengrundrechte und eine Lektion über unverzichtbare Prinzipien entgegenzusetzen. Das sollten wir zum Vorbild nehmen; aber man darf dabei nicht stehen bleiben. Rechtsentwicklung vollzieht sich in einem Fallrechtssystem - for better or worse - in kleinen Schritten, und so wird sich erst in einigen Jahren zeigen, ob Crawford wirklich der Meilenstein für die Beschuldigtenrechte darstellt, als der sich Scalias Mehrheitsvotum präsentiert. Wo - wie hierzulande - die Gesetzesreformer maßgebliche Neuerungen bringen sollen oder wollen, müssen die Kräfte sich auf eine Gestaltung richten, die nicht nur einem Problemausschnitt, sondern dem System als Ganzes gerecht wird. Das erfordert einen nüchternen Blick auf die Rechtswirklichkeit. Beschuldigtengrundrechte und Wahrheitsfindung müssen in konkreten Verfahren optimal wirksam werden können. Überdies ist der Strafprozeß ja kein bloßes Gegenüber von Staat und Beschuldigtem, es ist ein weit umfassenderes Feld an potentiell gegenläufigen Interessen, wie die von Zeugen und Verletzten, zu berücksichtigen. "Washington" bietet heute also einiges - Wichtiges - an Inspiration; was die Knochenarbeit von Strafprozeßrechtsreformen vielleicht nicht leichter macht, aber doch die nötige Weit- und Klarsicht fördert.


[1] Aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung siehe BGHSt. 45, 188 und St. 46, 93; näher zur Rechtsprechung des EuGHMR zu Art. 6 I, III d EMRK z.B. Schleiminger, Konfrontation im Strafprozeß (2000). Vgl. auch Walther, GA 2003, 204 ff.

[2] Damit beschäftigen sich auch die Verhandlungen des diesjährigen Deutschen Juristentages in Bonn, siehe Satzger, Chancen und Risiken einer Reform des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, Gutachten C zum 65. Deutschen Juristentag (2004), C 38 ff., C 47 ff. Einen durch eine Neufassung insbesondere von § 251 und § 254 StPO wesentlich erleichterten Beweistransfer sieht der von SPD-/Grünen-Fraktion und BMJ im Februar 2004 vorgelegte "Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens" (im folgenden: DE-StPO) vor. - Speziell zu aktuellen Rechtsfragen des Beweistransfers auf der Grundlage von § 255a Abs. 2 StPO z.B. Rieß, StraFo 1999, 1 ff.; Schünemann, StV 1998, 391 ff., 399 ff.; zur neuesten BGH-Rechtsprechung z.B. Vogel/Norouzi, JR 2004, 215 ff.; Walther, JZ 2004, ___ (Jahresende).

[3] Voller Text siehe unter IV.

[4] Ohio v. Roberts, 448 U.S. 56 (1980).

[5] Es handelt sich hierbei um ein Privileg, das dem Zeugen ein Zeugnisverweigerungsrecht und dem Beschuldigten ein Zeugnisblockierungsrecht verleiht; letzteres bedeutet, daß ein Ehegatte im Prozeß gegen den Beschuldigten nicht ohne dessen Einverständnis als Zeuge aussagen kann. Zur Rechtsgeschichte und den heute auf Bundes- und Staatenebene existierenden Varianten siehe McCormick on Evidence (5th Ed. 1999), § 66.

[6] Bei Erreichbarkeit des Zeugen in der Hauptverhandlung genügt es, daß die Verteidigung diesen jetzt befragen kann; eine mögliche Verschlechterung der Verteidigungsposition bei dieser späteren Gelegenheit zum Gegenverhör führt nicht zu einem Verstoß gegen die Confrontation Clause. Dazu die Entscheidung des U.S. Supreme Court in California v. Green, 399 U.S. 149 (1970).

[7] Ohio v. Roberts, 448 U.S. 56 (1980).

[8] Zum folgenden siehe Abschnitt II. der Entscheidungsgründe.

[9] Zu den vor allem im 17. Jahrhundert lauter gewordenen Protesten gegen die Verwendung mündlicher wie schriftlicher Beweise "vom Hörensagen", und die Querverbindungen zwischen hearsay-Problematik und Konfrontation in Gestalt der Gelegenheit der Verteidigung zum Gegenverhör siehe z.B. McCormick on Evidence (5th Ed. 1999), §§ 244, 245.

[10] Zum Raleigh-Verfahren siehe z.B. Wigmore on Evidence (1974), § 1364, n. 42, 47; Lempert/Gross/Liebman, A Modern Approach to Evidence (3rd Ed. 2000), Chapt. 7 II.

[11] Zum folgenden siehe Abschnitt III. der Entscheidungsgründe.

[12] 399 U.S. 149 (1970).

[13] Siehe Entscheidungsgründe III.A., V.C. - Gegen eine solche Konsequenz finden sich (auch) historische Gründe in dem Sondervotum von Richter Harlan, zur Entscheidung California v. Green, 399 U.S. 149 (1970), S. 180 ff.; er hält eine kategoriale Unterscheidung von testimonial und non-testimonial evidence im Rahmen der Confrontation Clause für unhaltbar.

[14] Entscheidungsgründe V.A.

[15] Entscheidungsgründe V.B.

[16] Instruktiv dazu aus der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court Lilly v. Virginia, 527 U.S. 116 (1999); aus dem Schrifttum McCormick on Evidence (5th Ed. 1999), §§ 316 ff.

[17] Siehe dazu Entscheidungsgründe V.B.

[18] Das Mehrheitsvotum beklagt ausdrücklich, daß die in der Entscheidung Lilly v. Virginia, 527 U.S. 116 (137) (1999) von mehreren Richtern des U.S. Supreme Court vertretene Auffassung, Geständnisse von Komplizen dürften wohl nach dem Roberts-Test nicht ohne Konfrontationsmöglichkeit verwertet werden, bei den Appellationsgerichten der Staaten wie auch des Bundes keinen Eindruck gemacht hatte.

[19] Siehe Entscheidungsgründe V.C.

[20] Das nur bezüglich der Entscheidungsformel, nicht aber bezüglich der Gründe ein "übereinstimmendes" Votum darstellt.

[21] Siehe Williamson v. United States, 512 U.S. 594 (1994), und Lilly v. Virginia, 527 U.S. 116 (1999).

[22] Crawford v. Washington (2004), Entscheidungsgründe V.B.

[23] Die Hörensagen-Ausnahme aufgrund des statement-against-interest-Grundsatzes ist dort verankert in Rule 804(b)(3).

[24] Siehe Lilly v. Virginia, 527 U.S. 116 (1999). Als Beispiele für die flagrante, anklägerfreundliche Ab- und Umwertung der Lilly-Rechtsprechung bieten sich besonders an die Entscheidungen der Bundesappellationsgerichte der häufig meinungsführenden West- und Ostküstenbezirke, United States v. Aguilar, 295 F.3d 1018 (9th Cir. 2002); United States v. Dolah, 245 F.3d 98 (2nd Cir. 2001) (jeweils Verwertung einer plea allocution gegen Beschuldigten als mutmaßlichen Mittäter).

[25] Vgl. dazu z.B. United States v. Dolah, 245 F.3d 98 (2nd. Cir. 2001).

[26] Immer noch lesenswert dazu die Entscheidung des California Supreme Court in People v. Johnson, 68 Cal.2d 646, 441 P.2d 111 (1968) ("trial lawyers say it's a professional pipedream"; bezugnehmend auf die im Schrifttum verbreitete Auffassung, das "spätere" Gegenverhör in der Hauptverhandlung sei demjenigen zum Zeitpunkt der Ermittlungsvernehmung gleichwertig).

[27] California v. Green, 399 U.S. 149 (1970), Ohio v. Roberts, 448 U.S. 56 (1980); vgl. hingegen People v. Johnson, 68 Cal.2d 646, 441 P.2d 111 (1968) (California Supreme Court).

[28] Entscheidungsgründe V.A.; Hervorhebungen d.A.

[29] Dazu den interessanten Überblick von McCormick on Evidence (5th Ed. 1999), § 31.

[30] Nochmals: Entscheidungsgründe V.A.

[31] Sinngemäß, zumal die entscheidende Bedeutung des rechtzeitigen Gegenverhörs hervorhebend noch die Linie des California Supreme Court in People v. Johnson, 68 Cal. 2d 646, 441 P.2d 111 (1968) ("it's strokes fall while the iron is hot").

[32] Entscheidungsgründe IV., in Fn. 9, letzter Absatz.

[33] Daß sie in Wirklichkeit nicht Äquivalent, sondern bloß Ersatz und als solcher unter Umständen wertlos sein kann, vor allem wenn der zeitliche Abstand zwischen früherer Vernehmung und Hauptverhandlung groß ist, hatte sich in paradigmatischer Weise schon im Falle California v. Green, 399 U.S. 149 (1970) gezeigt.

[34] Entscheidungsgründe V.C, mit Fn. 10.

[35] Ganz abgesehen davon, daß der Revisionsführer auch noch die Hürden der harmless-error-rule nehmen, also das Appellationsgericht davon überzeugen muß, daß der Fehler der Vorinstanz das Urteil maßgeblich beeinflußt hat. Auch wenn diese Überzeugungslast bei Grundrechtsrügen etwas geringeren Anforderungen unterliegt als bei Rügen des einfachen Rechts, so gilt doch gleichermaßen der Befund, daß der Beschuldigte im amerikanischen Rechtssystem mit der Revision "nur selten Erfolg hat". Instruktiv dazu die rechtsvergleichende Analyse des amerikanischen Systems bei Perron, Das Beweisantragsrecht des Beschuldigten im deutschen Strafprozeß (1995), S. 404 ff.

[36] Scalias Votum ist in diesem Punkt keineswegs repräsentativ für einen Methodenisolationismus im U.S. Supreme Court. Vielmehr zeigen gerade neuere Entwicklungen, etwa bei den Themen "Todesstrafe" und "Homosexuellenrechte", daß eine Richtermehrheit zunehmend geneigt ist, auch ausländisches und internationales Recht bei der Auslegung und Anwendung der Grundrechte heranzuziehen. Allerdings gibt es Gegenkräfte, denen genau dies mißfällt. So haben konservative Politiker im März 2004 den Entwurf einer "Resolution" im US-Repräsentantenhaus eingebracht, wonach es den Gerichten und insbesondere dem U.S. Supreme Court untersagt sein soll, ausländische Gerichtsurteile als Präzedenzfälle heranzuziehen. Zu der - nach ihren Verfassern benannten - Feeney-Goodlatte-Resolution siehe z.B. die Pressemitteilung unter www.house.gov/judiciary/news0324.htm.

[37] Zur Kritik dieser Rechtsprechung näher Walther, GA 2003, 204 ff., 218 ff.

[38] Entscheidungsgründe V.A.

[39] Oben Fn. 2.

[40] Nach den Vorstellungen der Rechtspolitik soll die Unmittelbarkeit sogar noch weiter gelockert werden, vgl. insbesondere § 251 Abs. 1 Nr. 1-3, Abs. 2 S. 2, sowie § 253 Abs. 2 StPO, sowie § 251 Abs. 1 Nr. 3-4, Abs. 2 Nr. 1-2 DE-StPO (oben Fn. 2).

[41] Bedauerlicherweise wird dieses Instrument in Deutschland meist durch die unreflektierte Gleichsetzung mit der Figur des "Kreuzverhörs" im Sinne von § 239 I 1 StPO (das ein Wechselverhör ist) nicht in seiner Eigenfunktion gesehen und (deshalb) vorschnell als verfahrensfremd diskreditiert. Näher dazu bereits Walther, GA 2003, 204 ff., 224.

[42] 5 Wigmore on Evidence § 1367, 35 (1974), zitiert in der Entscheidung des U.S. Supreme Court in California v. Green, 399 U.S. 149, 158 (1970); zum Ganzen McCormick on Evidence (5th Ed. 1999), § 245.

[43] Instruktiv McCormick on Evidence (5th Ed. 1999), § 31.

[44] Siehe McCormick aaO ("Cross-examination ought to be considered useful, but not indispensable, as a means of discoverning the truth").

[45] Näher dazu Walther, GA 2003, 204 ff., 219 ff.

[46] 6. Zusatz zur US-Verfassung (1789/1791).