HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2005
6. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

mit der Oktoberausgabe publizieren wir insbesondere die grundlegende Entscheidung der Großen Kammer des EuGH zur gemeinschaftsrechtlichen Anweisungskompetenz. Mit der Entscheidung BGH HRRS 2005 Nr. 530 und damit mit dem Phänomen der Lastschriftreiterei befassen sich die Anmerkungen von StA Jürgen Heinze, Hanau.

Im Rahmen der Prozessdokumentation nehmen wir Beschlüsse des OLG Köln zur so genannten Konfliktverteidigung auf. Neben fünf Rezensionen und Entscheidungen von EGMR und BVerfG publiziert die Ausgabe zahlreiche bedeutsame Entscheidung des BGH. Zu diesen gehört auf die für BGHSt vorgesehene Entscheidung des 1. Strafsenats, mit der dieser - beim Vorwurf eines Tötungsdeliktes - ein Verwertungsverbot bei einem in einem Krankenzimmer aufgezeichneten Selbstgespräch anerkennt.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

712. EuGH C-176/03 (Große Kammer) - Urteil vom 13. September 2005

Nichtigkeitsklage; Zuständigkeit des Gemeinschaftsgesetzgebers für den Umweltschutz (Wirksamkeit von Rechtsakten; strafrechtliche Sanktionen: Anweisungskompetenz; Annexkompetenz; effet utile: wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen); Abgrenzung von Befugnissen nach der "Dritten Säule" der Europäischen Union (Strafrecht; Strafprozessrecht); Wahl der Rechtsgrundlage eines gemeinschaftlichen Rechtsaktes (objektive Umstände; gerichtliche Überprüfbarkeit; Richtlinie; Rahmenbeschluss 2003/80/JI).

Art. 47 EUV; Art. 175 EGV; Art. 135 EGV; Art. 280 Abs. 4 EGV; Art. 29 EUV; Art. 31 EUV; Art. 34 EUV

1. Zur Nichtigkeit des Rahmenbeschlusses 2003/80/JI des Rates vom 27. Januar 2003 über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht.

2. Die Wahl der Rechtsgrundlage eines gemeinschaftlichen Rechtsakts muss sich nach ständiger Rechtsprechung des EuGH auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen, zu denen insbesondere das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts gehören.

3. Zwar fällt das Strafrecht grundsätzlich ebenso wie das Strafprozessrecht nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft, dies kann den Gemeinschaftsgesetzgeber jedoch nicht daran hindern, Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu ergreifen, die seiner Meinung nach erforderlich sind, um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt unerlässliche Maßnahme darstellt.

4. Den Vorschriften der Art. 135 EGV und 280 Abs. 4 EGV, nach dem die Anwendung des Strafrechts und des Strafverfolgungsrechts in den Bereichen der Zusammenarbeit im Zollwesen und der Bekämpfung der gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichteten Handlungen den Mitgliedstaaten vorbehalten ist, lässt sich nicht entnehmen, dass im Rahmen der Durchführung der Umweltpolitik jede strafrechtliche Harmonisierung unzulässig wäre, selbst wenn sie zur Sicherstellung der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts erforderlich ist.


Entscheidung

718. BVerfG 1 BvR 668/04 (Erster Senat) - Urteil vom 27. Juli 2005

Präventive polizeiliche Telekommunikationsüberwachung; Zitiergebot (Anwendung in Änderungsgesetzen; Nichtigkeit; kein Verweis auf Gesetzgebungsverfahren;

Gesetze vor dieser Entscheidung); konkurrierende Gesetzgebung im Strafverfahrensrecht (abschließende Regelung; Vorbeugung von Straftaten; bewusste Lücke; Vorfeld; Vorsorge vor Straften); Anforderungen an die Bestimmtheit und Eingriffsnormen (Normenklarheit; Unsicherheit; Begriff der Straftaten von erheblicher Bedeutung); Richtervorbehalt; Unterrichtung von Überwachungsmaßnahmen; Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses (Spezialität; alle mittels Fernmeldetechnik ausgetauschte Informationen; Umstände; Datenverarbeitung); Verhältnismäßigkeit; Kernbereich der Lebensgestaltung (hinreichende Vorkehrungen zum Schutz; Erhebung; Löschung); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze.

Art. 10 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 33a Abs. 1 Nr. 2 und 3 NdsSOG; § 100a StPO; § 100g StPO; § 100h StPO; § 484 Abs. 4 StPO

1. Führt die Änderung eines Gesetzes zu neuen Grundrechtseinschränkungen, ist das betroffene Grundrecht im Änderungsgesetz auch dann gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG zu benennen, wenn das geänderte Gesetz bereits eine Zitiervorschrift im Sinne dieser Bestimmung enthält. (BVerfG) 2. Der Bundesgesetzgeber hat abschließend von seiner Gesetzgebungsbefugnis aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG Gebrauch gemacht, die Verfolgung von Straftaten durch Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung zu regeln. Die Länder sind deshalb nicht befugt, die Polizei zur Telekommunikationsüberwachung zum Zwecke der Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten zu ermächtigen. (BVerfG) 3. Zu den Anforderungen an die Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit von gesetzlichen Ermächtigungen zur Verhütung und zur Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten durch Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung. (BVerfG)

4. Aus Gründen der Rechtssicherheit führt die Nichtbeachtung des Zitiergebots erst bei solchen grundrechtseinschränkenden Änderungsgesetzen zur Nichtigkeit, die nach dem Zeitpunkt der Verkündung dieser Entscheidung beschlossen werden. (Bearbeiter)

5. Das allgemein aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgende Recht auf informationelle Selbstbestimmung tritt hinter die speziellere Gewährleistung aus Art. 10 GG zurück, soweit die Schutzbereiche sich überschneiden (vgl. BVerfGE 100, 313, 358; 110, 33, 53). Das Gleiche gilt für die Gewährleistung der freien Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 GG, soweit der Eingriff in der staatlichen Wahrnehmung und gegebenenfalls Verarbeitung der mit Mitteln der Telekommunikation geäußerten Meinungen liegt. (Bearbeiter)

6. Der Schutz des Fernmeldegeheimnisses umfasst Kommunikationsinhalt und die Kommunikationsumstände. Dabei bezieht sich der Grundrechtsschutz auf alle mittels der Fernmeldetechnik ausgetauschten Informationen (vgl. BVerfGE 100, 313, 358; 110, 33, 52 f.). In den Schutzbereich fällt auch die Erlangung der Kenntnis, ob, wann, wie oft und zwischen welchen Personen Telekommunikation stattgefunden hat oder versucht worden ist (vgl. BVerfGE 85, 386, 396; 107, 299, 312 f.). Dies umfasst auch den sich daran anschließenden Informations- und Datenverarbeitungsprozess in dem Gebrauch von den erlangten Kenntnissen gemacht wird (vgl. BVerfGE 100, 313, 359; 110, 33, 68 f.). (Bearbeiter)

7. Die Vorsorge für die spätere Verfolgung von Straftaten ist kompetenzmäßig dem "gerichtlichen Verfahren" im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zuzuordnen, da sie die Sicherung von Beweisen für ein künftiges Strafverfahren bezweckt. (Bearbeiter) 8. Für Ermächtigungen zu Überwachungsmaßnahmen verlangt das Bestimmtheitsgebot zwar nicht, dass die konkrete Maßnahme vorhersehbar ist, wohl aber, dass die betroffene Person grundsätzlich erkennen kann, bei welchen Anlässen und unter welchen Voraussetzungen ein Verhalten mit dem Risiko der Überwachung verbunden ist. (Bearbeiter)

9. Sieht der Gesetzgeber in der Situation der Vorfeldermittlung, die durch eine hohe Ambivalenz der potenziellen Bedeutung einzelner Verhaltensumstände geprägt ist, Grundrechtseingriffe vor, so hat er die den Anlass bildenden Straftaten sowie die Anforderungen an Tatsachen, die auf die künftige Begehung hindeuten, so bestimmt zu umschreiben, dass das besonders hohe Risiko einer Fehlprognose gleichwohl verfassungsrechtlich noch hinnehmbar ist. Die Norm muss handlungsbegrenzende Tatbestandselemente enthalten, die einen Standard an Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit vergleichbar dem schaffen, der für die überkommenen Aufgaben der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung rechtsstaatlich geboten ist (vgl. BVerfGE 110, 33, 56). (Bearbeiter)

10. Grundsätzlich können zwar ausfüllungsbedürftige materielle Normen rechtsstaatlich eher tragbar sein, wenn durch ein formalisiertes, gerichtlich kontrolliertes Verfahren dafür gesorgt wird, dass die wesentlichen Entscheidungsfaktoren geprüft und auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe angemessen angewandt werden. Das aber setzt voraus, dass der Richter Anhaltspunkte im Gesetz vorfindet. (Bearbeiter)

11. Verfassungsrechtlich hinzunehmen ist das Risiko, dass bei präventiven Abhörmaßnahmen auch Kommunikation aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst wird, allenfalls bei einem besonders hohen Rang des gefährdeten Rechtsguts und einer durch konkrete Anhaltspunkte gekennzeichneten Lage, die auf einen unmittelbaren Bezug zur zukünftigen Begehung der Straftat schließen lässt. Hinzu müssen Vorkehrungen kommen, die sichern, dass die Kommunikationsinhalte des höchstpersönlichen Bereichs nicht gespeichert und verwertet werden dürfen, sondern unverzüglich gelöscht werden, wenn es ausnahmsweise zu ihrer Erhebung gekommen ist. (Bearbeiter)


Entscheidung

714. EGMR Nr. 72758/01 - Urteil vom 8. April 2005 (A.L. gegen Deutschland)

Unschuldsvermutung (Entschädigungsansprüche; konkludente Schuldfeststellung bei informeller Äußerung eines Amtsträgers: Berücksichtigung geringer Außenwirkung, nachträgliche Klarstellung missverständlicher Äußerungen); Berücksichtigung der ordnungsgemäßen Konventionsprüfung durch obere nationale Gerichte durch den EGMR.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EMRK; § 2 StrEG; § 3 StrEG; § 153a StPO

1. Auch die informelle Äußerung eines Amtsträgers kann je nach den Umständen des Falls eine Verletzung der Unschuldsvermutung darstellen (im Fall bei einer allein missverständlichen, nicht öffentlich gemachten Äußerung verneint, die nachträglich klargestellt wurde).

2. Die Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 stellt eines der Merkmale eines fairen Strafverfahrens nach Artikel 6 Abs. 1 dar. Sie wird verletzt, wenn mit der Äußerung eines Amtsträgers Aussagen zur Schuld einer im Sinne des Art. 6 EMRK angeklagten Person getroffen werden, wenn nicht diese Person entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen schuldig gesprochen worden ist. Ohne formellen Schuldspruch reicht es auch aus, dass Gründe darauf hindeuten, dass der Amtsträger die betreffende Person als schuldig erachtet. Ob die Aussage eines Amtsträgers gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verstößt, ist im Zusammenhang mit den besonderen Umständen zu bestimmen, unter denen die angegriffene Aussage gemacht wurde. Zu diesen Umständen zählt auch die (geringe) Außenwirkung einer etwaigen Aussage.

3. Eine ,,einer Straftat angeklagte" Person hat weder nach Artikel 6 Abs. 2 noch nach einer anderen Bestimmung der Konvention Anspruch auf Entschädigung für rechtmäßige Untersuchungshaft, wenn das gegen sie geführte Verfahren eingestellt wird: Die Versagung von Entschädigung stellt für sich genommen keine Verletzung der Unschuldsvermutung dar. Eine Entscheidung, mit der eine Entschädigung für die Untersuchungshaft nach Einstellung des Verfahrens versagt wird, kann gleichwohl eine Frage nach Artikel 6 Abs. 2 aufwerfen, sofern tragende Gründe, die nicht vom Tenor getrennt werden können, in materiell-rechtlicher Hinsicht eine Feststellung der Schuld des Angeklagten darstellen, wenn dieser nicht zuvor entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen schuldig gesprochen worden ist und insbesondere nicht die Möglichkeit hatte, seine Verteidigungsrechte wahrzunehmen.

4. Der EGMR berücksichtigt bei der Prüfung des Art. 6 (Abs. 2) EMRK, ob die oberen innerstaatlichen Gerichte das Recht des Beschwerdeführers aus der Konvention ordnungsgemäß geprüft haben.


Entscheidung

713. EGMR Nr. 63207/00 - Urteil vom 24. März 2005 (Rieg v. Österreich)

Recht auf ein faires Strafverfahren: Schweigerecht und Selbstbelastungsfreiheit (Ausmaß des erforderlichen Zwangs; Verletzungen durch Anwendung von Zwang in Strafverfahren oder durch Verwertung von außerhalb eines Strafverfahrens erzwungener Äußerungen; Verwertungsverbot; Offenbarungspflichten des Fahrzeughalters nach Straßenverkehrsrecht; deliktsunabhängige Geltung der Rechte; Sondervotum); Begriff der strafrechtlichen Anklage (zeitlicher und gegenständlicher Anwendungsbereich des fairen Strafverfahrens); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EMRK; Art. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 136a StPO

Obschon eine Verletzung des Schweigerechts und des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, auch infolge der Ausübung von Zwang vor der Einleitung eines Strafverfahrens vorliegen kann, muss - wenn keine Verwertung von erzwungenen Informationen gegen den Betroffenen erfolgt - hierfür ein konkreter und nicht nur hypothetischer Zusammenhang zwischen einer dem Betroffenen auferlegten Informationspflicht (hier: Pflicht des Fahrzeughalters zur Benennung des Fahrers als Beitrag zur Aufklärung eines bereits anonym verfolgten Straßenverkehrsvergehens) und der möglichen späteren Einleitung eines gegen ihn gerichteten Strafverfahrens bestehen (hier mit fünf zu zwei Stimmen verneint).


Entscheidung

720. BVerfG 1 BvR 2182/04 (3. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 25. Juli 2005

Eigentumsgrundrecht (Schranken); Urheberrecht (Vervielfältigung; Privatkopie; Umgehung von wirksamen Kopierschutzmaßnahmen); Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz; fehlende spürbare Rechtsfolgen; fehlende faktische Betroffenheit; Ausschöpfung des Zivilrechtsweges; Darlegung drohender zivilrechtlicher Inanspruchnahme); Substantiierung der Verfassungsbeschwerde (fehlende Auseinandersetzung mit dem Begriff "wirksame technische Maßnahme i.S.d. § 95a UrhG"); obiter dictum [kein] Recht auf Privatkopie).

Art. 14 GG; § 95a UrhG; § 108b Abs. 1 UrhG; § 111a Abs. 1 Nr. 1 a UrhG; § 53 Abs. 1 Satz 1 UrhG

1. Das Risiko einer zivilrechtlichen Inanspruchnahme - anders als die Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit (vgl. BVerfGE 46, 246, 256; 81, 70, 82) - rechtfertigt es nicht, die Zulässigkeit einer unmittelbar gegen das Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde zu bejahen. Vielmehr ist es dem Beschwerdeführer zuzumuten, im Rahmen eines etwaigen fachgerichtlichen Verfahrens Rechtsschutz zu erlangen.

2. Es kann dahinstehen, ob mit einem strafbewehrten gesetzlichen Verbot der digitalen Privatkopie eine Verletzung des Eigentumsgrundrechts verbunden sein könnte, oder ob damit nicht - wofür vieles spricht - lediglich eine wirksame Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinn des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG vorgenommen wäre.


Entscheidung

721. BVerfG 2 BvR 1315/05 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 23. September 2005 (OLG Düsseldorf/LG Düsseldorf)

Freiheit der Person; Rechtsstaatsprinzip; Beschleunigungsprinzip; überlange Verfahrensdauer (8-jährige Untersuchungshaft; Berücksichtigung der Dauer von Rechtsmittelverfahren bei der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlern); Entscheidung über Haftfortdauer (Verhältnismäßigkeit; Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte; keine stereotype Begründung; Beachtung wichtiger Abwägungsgrundsätze); redaktioneller Hinweis.

Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; Art. 5 Abs. 3 EMRK; § 112 StPO; § 120 StPO

1. Folgen die Fachgerichte im Rahmen von Haftfortdauerentscheidungen nicht der Auffassung, dass bei einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung der Haftbefehl ohne Rücksicht auf die Höhe der zu erwartenden Strafe aufzuheben ist, sondern dass eine Abwägung zwischen dem Gewicht der Straftat, der Höhe der zu erwartenden Strafe und andererseits dem Ausmaß der Verfahrensverzögerung und dem Grad des die Justiz hieran treffenden Verschuldens abzuwägen sind, so steht eine solche Entscheidung nur dann im Einklang mit der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit und der hierzu entwickelten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wenn bei der konkret vorzunehmenden Abwägung das Gewicht des Freiheitsanspruchs in hinreichendem Maße berücksichtigt wird. Stereotype Begründungen genügen dem nicht.

2. Zwar ist es von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht zu beanstanden, die infolge der Durchführung eines Revisionsverfahrens verstrichene Zeit nicht der ermittelten Überlänge eines Verfahrens hinzuzurechnen. Davon ist jedoch dann eine Ausnahme zu machen, wenn das Revisionsverfahren, der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient hat.

3. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung können bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft herangezogen werden.

4. Es kann in einem Rechtsstaat von Verfassungs wegen nicht hingenommen werden, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte nach acht Jahren Untersuchungshaft nicht mehr in Händen halten als einen dringenden Tatverdacht.


Entscheidung

716. BVerfG 2 BvR 804/05 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. Juli 2005 (LG Hamburg/AG Hamburg)

Unverletzlichkeit der Wohnung; Anforderung an Durchsuchungsbeschlüsse (verfassungsrechtlich gebotene Begrenzungsfunktion; konkretisierter Straftatverdacht; keine zwingende Mitteilung der Verdachtsgründe, falls dies für die Begrenzung der Durchsuchungsgestattung nicht notwendig ist).

Art. 13 GG; Art. 8 EMRK; § 102 StPO; § 105 StPO

Die Verdachtsgründe müssen in dem Durchsuchungsbeschluss jedenfalls dann nicht zwingend mitgeteilt werden, wenn dies zur Begrenzung der richterlichen Durchsuchungsgestattung nicht erforderlich ist.


Entscheidung

715. BVerfG 2 BvR 1328/03 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. Juli 2005 (OLG Karlsruhe/LG Karlsruhe)

Menschenwürde (lebenslange Freiheitsstrafe; Chance auf Freiheit; Mindestverbüßungsdauer von 24 Jahren); besondere Schwere der Schuld; Prognose (früheste Entlassung im Alter von 57 Jahren); fachgerichtliche Abwägung.

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 GG; § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB; § 46 StGB

Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die Vollstreckung der Strafe über die fünfzehnjährige Mindestverbüßungszeit hinaus gebieten kann.


Entscheidung

717. BVerfG 2 BvR 282/05 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 27. Juli 2005 (LG Heilbronn)

Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten; Vorrang des fachgerichtlichen Rechtsschutzes auch bei nach dem aktuellen Stand von Rechtsprechung und Lehre fehlender abschließender Klärung der Statthaftigkeit eines Rechtsmittels); Untätigkeitsbeschwerde in Strafvollzugssachen (Zulässigkeit bei Unterlassen einer Entscheidung als faktische Rechtsverweigerung).

Art. 19 IV GG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 116 Abs. 1 StVollzG; § 109 StVollzG; § 114 Abs. 2 StVollzG

1. Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt vom Beschwerdeführer zunächst alle ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung abzuwehren. Dazu hat er fachgerichtlicher Rechtsschutz auch dann vorrangig in Anspruch zu nehmen, wenn die Voraussetzungen der Statthaftigkeit eines Rechtsmittels nach dem aktuellen Stand von Rechtsprechung und Lehre noch nicht abschließend geklärt sind.

2. Die Einlegung einer Untätigkeitsbeschwerde in Strafvollzugssachen ist entsprechend § 116 Abs. 1 StVollzG jedenfalls dann nicht offensichtlich unzulässig, wenn die Unterlassung der gebotenen Entscheidung nicht nur eine Verzögerung darstellt, sondern einer endgültigen Ablehnung oder faktisch einer Form der Rechtsverweigerung gleichkommt.


Entscheidung

719. BVerfG 2 BvR 2428/04 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 27. Juni 2005 (LG Waldshut-Tiengen)

Unverhältnismäßigkeit von Durchsuchungen (Stärke des Tatverdachtes; Schriftprobe statt Durchsuchung; Wahllichtbildvorlage; Gegenüberstellung; Verbreitung pornografischer Schriften; Beleidigung: Ansinnen oralsexueller Handlungen durch handschriftliches Schreiben); richterliche Anordnung (Umgrenzungsfunktion; Ergänzung der rechtlichen Bewertung im Beschwerdeverfahren).

Art. 13 GG; Art. 8 EMRK; § 102 StPO; § 105 StPO; § 184 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 6 StGB; § 185 StGB

Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die rechtliche Bewertung des in den amtsgerichtlichen Beschlussgründen umschriebenen tatsächlichen und den Anfangsverdacht begründenden Verhaltens im Beschwerdeverfahren ergänzt oder berichtigt wird. Zwar soll die Umgrenzung des Tatvorwurfs den Betroffenen in den Stand versetzen, die Durchsuchung zu kontrollieren und Rechtsschutz zu suchen, dies schließt es jedoch nicht aus, die Begründung des Beschlusses des Amtsgerichts in den Grenzen zu ergänzen, die die Funktion der präventiven Kontrolle wahren, oder eine andere rechtliche Beurteilung an die damals vorliegenden tatsächlichen Erkenntnisse knüpfen.