HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2005
6. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

mit der April-Ausgabe publizieren wir für Deutschland erstmals eine richtungsweisende Entscheidung des OGH, des obersten österreichischen Fachgerichts für Strafsachen, mit der dieser praktisch ein Verbot des Zeugens vom Hörensagen hinsichtlich der Aussagen Verdeckter Ermittler in Anknüpfung an die auch in Deutschland geltende EMRK anerkannt hat. Der umfassende Besprechungsaufsatz von Wiss. Ass. Dr. Christian Rosbaud (LLM), Univ. Salzburg erläutert diese Entscheidung vor den Hintergründen des österreichischen Rechts und der Rechtsprechung des EGMR.

Von den weiteren aufgenommenen Entscheidungen sollen hier lediglich die Entscheidung des BVerfG zum begrenzt zulässigen GPS-Einsatz und diejenige des BGH zum möglichen Verdeckungsmord bei einer vorherigen Äußerung des Opfers über die zu verdeckende Tat erwähnt sein. Für weitere Entscheidungen und vor allem auch Publikationen möchten wir Sie auf die gesamte Ausgabe verweisen.

Die Entscheidung des Großen Senats in Strafsachen zum Rechtsmittelverzicht wird demnächst auf HRR-Strafrecht publiziert und sodann in die Mai-Ausgabe aufgenommen.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede Wiss. Ass.


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

309. BVerfG 2 BvR 581/01 (Zweiter Senat) - Urteil vom 12. April 2005 (BGH/OLG Düsseldorf)

Zulässigkeit der Ermittlungen unter Verwendung des Global Positioning System/GPS (Beweiserhebung; Beweisverwertung); Rechtstaatsprinzip (Bestimmtheitsgebot; Beobachtungspflicht und Korrekturpflicht des Gesetzgebers; Richtervorbehalt); additive Ermittlungsmethoden (Verbot der Totalüberwachung; verfassungsrechtliche Anforderungen; prozeduraler Grundrechtsschutz; Information der Staatsanwaltschaft; Dokumentation; Koordination auch mit dem Verfassungsschutz); Straftat von erheblicher Bedeutung (mittlere Kriminalität; empfindliche Störung des Rechtsfriedens und erhebliche Störung des Rechtsempfindens); effektiver Rechtsschutz (nachträgliche Kontrolle heimlicher Ermittlungsmaßnahmen); allgemeines Persönlichkeitsrecht (unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung); informationelle Selbstbestimmung (bereichsspezifische Regelungen); Darlegungsanforderungen bei der Verfassungsbeschwerde gegen eine Revisionsentscheidung (Vorlage oder Mitteilung des wesentlichen Inhalts der Revisionsbegründungsschrift; Stellungnahme des Generalbundesanwaltes); Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Widerspruch).

Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 28 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 8 EMRK; § 100 c Abs. 1 Nr. 1 b StPO; § 163 f Abs. 4 StPO; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG

1. § 100 c Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b StPO entspricht als Ermächtigungsgrundlage für Beweiserhebungen unter Einsatz des Global Positioning System und die anschließende Verwertung dieser Beweise den verfassungsrechtlichen Anforderungen. (BVerfG)

2. Beim Einsatz moderner, insbesondere dem Betroffenen verborgener, Ermittlungsmethoden müssen die Strafverfolgungsbehörden mit Rücksicht auf das dem "additiven" Grundrechtseingriff innewohnende Gefährdungspotential besondere Anforderungen an das Verfahren beachten. (BVerfG)

3. Wegen des schnellen und für den Grundrechtsschutz riskanten informationstechnischen Wandels muss der Gesetzgeber die technischen Entwicklungen aufmerksam beobachten und notfalls durch ergänzende Rechtssetzung korrigierend eingreifen. Dies betrifft auch die Frage, ob die bestehenden verfahrensrechtlichen Vorkehrungen angesichts zukünftiger Entwicklungen geeignet sind, den Grundrechtsschutz effektiv zu sichern und unkoordinierte Ermittlungsmaßnahmen verschiedener Behörden verlässlich zu verhindern. (BVerfG)

4. Eine Straftat von "erheblichen Bedeutung" muss mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen sein, den Rechtsfrieden empfindlich stören und dazu geeignet sein, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevöl-

kerung erheblich zu beeinträchtigen (vgl. BVerfGE 103, 21, 34; 109, 279, 344). (Bearbeiter)

5. Der Gesetzgeber war jedenfalls nicht schon im Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 100 c Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b StPO von Verfassungs wegen gehalten, länger andauernde technische Observationsmaßnahmen unter Richtervorbehalt zu stellen. Er durfte zunächst die rechtstatsächliche Entwicklung abwarten. (Bearbeiter)

6. Die Strafverfolgungsbehörden müssen sicherzustellen, dass die eine Ermittlungsmaßnahme beantragende oder anordnende Staatsanwaltschaft als primär verantwortlicher Entscheidungsträger über alle Ermittlungseingriffe informiert ist, die den Grundrechtsträger im Zeitpunkt der Antragstellung und im Zeitpunkt einer zeitlich versetzten Ausführung der Maßnahme jeweils treffen. Dazu bedarf es einer vollständigen Dokumentation aller ausgeführten oder ausführbaren Ermittlungseingriffe in den Akten und darüber hinaus ist sicherzustellen, dass nicht verschiedene Staatsanwaltschaften ohne Wissen voneinander im Rahmen von Doppelverfahren in Grundrechte eingreifen. (Bearbeiter)


Entscheidung

303. OGH, 13 Os 153/03 - Urteil vom 18. Februar 2004 (LGSt Graz)

Konfrontationsrecht und anonyme Zeugen: Ablehnung des Zeugen vom Hörensagen beim Einsatz Verdeckter Ermittler in Österreich (Fragerecht; Unmittelbarkeitsgrundsatz; Umgehungsverbot; Unerreichbarkeit; unzulässige Verlesung von Vernehmungsprotokollen bzw. Berichten des Verdeckten Ermittlers; V-Personen; V-Leute; verhältnismäßige Einschränkungen; Sperrerklärung); Betäubungsmittelstrafrecht; konventionskonforme Auslegung; redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 lit. d EMRK; § 252 öStPO; § 281 Abs. 1 Ziff. 3 öStPO; § 258 Abs. 1 öStPO; § 96 StPO; § 250 StPO; § 251 StPO; § 252 StPO

1. Zum Verbot der mittelbaren Verwertung der Aussagen von staatlich zurückgehaltenen Verdeckten Ermittlern über Protokolle und Zeugen vom Hörensagen in Österreich. (Bearbeiter)

2. Das Beweiserhebungsverbot (= Beweisgewinnungsverbot) des § 252 Abs. 1 öStPO sichert das - mit dem Fragerecht nach Art 6 Abs. 3 lit. d EMRK normativ verknüpfte - strafprozessuale Unmittelbarkeitsprinzip gegen Unmittelbarkeitssurrogate, die durch die Ausnahmesätze der Z 1 bis 4 des § 252 Abs. 1 öStPO nicht gedeckt sind, bei sonstiger Nichtigkeit ab. Durch innerstaatliche Amtsverschwiegenheit bedingte Unmöglichkeit, das Erscheinen eines Zeugen zu bewerkstelligen, kann grundsätzlich nicht als Verlesungsermächtigung nach § 252 Abs. 1 Z 1 öStPO begriffen werden. (Leitsatz des offiziellen Rechtsinformationssystems RIS)

3. Die Vernehmung eines Polizeibeamten als so genannte Verhörsperson über die ihm gegenüber getätigten Angaben eines namentlich nicht bekannt gegebenen verdeckten Ermittlers des Bundesministeriums für Inneres stellt eine Umgehung des (bedingten) Verlesungsverbotes nach § 252 Abs. 1 öStPO dar und begründet Urteilsnichtigkeit gem. § 252 Abs. 4 öStPO. (Bearbeiter)

4. Die Sperrerklärung der Dienstbehörde eines verdeckten Ermittlers (hier BMI) stellt keinen "erheblichen Grund" i.S.d. § 252 Abs. 1 Ziff. 1 öStPO dar, der zur Verlesung des vom verdeckten Ermittler verfassten Berichts in der Hauptverhandlung ermächtigt. Sollte die Verlesung nicht durch die Zustimmung des Angeklagten gedeckt sein (§ 252 Abs. 1 Ziff. 4 öStPO), führt eine Verletzung des Verlesungsverbotes zur Urteilsnichtigkeit gem. § 282 Abs. 1 Ziff. 3 öStPO. (Bearbeiter)

5. Ob innerstaatliche Amtsverschwiegenheit einen "erheblichen Grund" i.S.d. § 252 Abs. 1 Ziff. 1 darstellen könnte, wenn im Verfahren wegen einer außergewöhnlich schwer wiegenden Straftat die schriftlich festgehaltenen Angaben eines besonders schutzbedürftigen Zeugen unverzichtbar erscheinen (vgl. auch EGMR 23. 4. 1997 Van Mechelen u.a. gg. die Niederlande, ÖJZ-MRK 1998/15, 274), kann im vorliegenden Fall dahinstehen. (Bearbeiter)


Entscheidung

302. EGMR Nr. 64387/01 - Urteil vom 20. Januar 2005 (Uhl gegen Deutschland)

Recht auf Verfahrensbeschleunigung (unangemessene Gesamtverfahrensdauer eines deutschen Strafverfahrens; Einbeziehung verfassungsgerichtlicher Verfahren; Anwendung auf wirtschaftsstrafrechtliche Verfahren; besondere Bedeutung für den Angeklagten bei Infragestellung des Beamtenstatus).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 20 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG

1. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist im Lichte der besonderen Umstände der Rechtssache sowie in Anbetracht der in der Spruchpraxis des Gerichtshofs festgelegten Kriterien, insbesondere der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Beschwerdeführers und der zuständigen Behörden sowie der Bedeutung dessen, was für den Beschwerdeführer bei dem Rechtsstreit auf dem Spiel stand, zu würdigen.

2. Ein Verfahren ist nicht schon deshalb besonders komplex, weil es wirtschaftsstrafrechtliche Delikte wie Steuerhinterziehung, Betrug und Untreue betrifft.

3. Auch wenn sich ein Beschwerdeführer im betroffenen Strafverfahren nie in Untersuchungshaft befunden hat, kann das, was für ihn in dem Verfahren auf dem Spiel stand, von erheblicher Bedeutung gewesen sein. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Verfahren erhebliche soziale Auswirkungen hatte, weil in ihm der Beamtenstatus des Angeklagten auf dem Spiel stand.


Entscheidung

304. BVerfG 1 BvR 2652/03 (2. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 21. Dezember 2004 (OLG Zweibrücken/AG Kandel)

Allgemeine Handlungsfreiheit (Führen von Kraftfahrzeugen im öffentlichen Straßenverkehr; Eingriff; legitimes Gemeinwohlziel; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz); Bestimmtheitsgebot; Führen eines Kraftfahrzeuges unter der

Wirkung eines berauschenden Mittels (abstraktes Gefährdungsdelikt); Cannabiskonsum (Nachweis im Spurenbereich; Nullwertgrenze; Identität von Wirkungs- und Nachweisdauer; Wirkungsgrenze von 1 ng/ml THC); verfassungskonforme Auslegung (Überholung gesetzgeberischer Annahmen infolge technischen Fortschritts).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; § 24 a Abs. 2 StVG

1. Die Regelung des § 24 a Abs. 2 Satz 1 und 2 StVG ist auch hinsichtlich von Cannabiskonsum bei verfassungskonformer Auslegung verfassungsgemäß.

2. Im Hinblick auf die verbesserten wissenschaftlichen Methoden THC im Blut eines Verkehrsteilnehmers nachzuweisen (Auseinanderfallen von Wirkungs- und Nachweisdauer), reicht es für eine Verurteilung nach § 24 a Abs. 2 StVG nicht mehr aus, wenn lediglich der Nachweis des Vorhandenseins von THC im Spurenbereich geführt wird. Festgestellt werden muss vielmehr eine Konzentration, die es entsprechend dem Charakter der Vorschrift als ein abstraktes Gefährdungsdelikt als möglich erscheinen lässt, dass der untersuchte Kraftfahrzeugführer am Straßenverkehr teilgenommen hat, obwohl seine Fahrtüchtigkeit eingeschränkt war. Davon wird derzeit erst bei einem THC-Wert im Blut von 1 ng/ml ausgegangen.


Entscheidung

308. BVerfG 2 BvR 109/05 - Beschluss vom 22. Februar 2005 (OLG Frankfurt/Main/LG Frankfurt)

Freiheit der Person (Dauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus; Abwägung des Freiheitsanspruches; Verhältnismäßigkeit; beschränkte Bedeutung der erwartenden Freiheitsstrafe; Begründung des Haftfortdauerbeschlusses); rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen (Beschleunigungsgrundsatz; verzögerte Zustellung von Revisionsbegründungsschriften; lange Bearbeitungsdauer beim Generalbundesanwalt; Verfahrensverzögerung von sieben Monaten).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 121 Abs. 1 StPO

1. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung können bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft herangezogen werden.

2. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantiert das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot (vgl. BVerfGE 46, 194, 195), welches auch in Rechtsmittelverfahren und über die Regelung des § 121 StPO hinaus Geltung beansprucht. Der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten ist den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten.

3. Sein Gewicht vergrößert sich gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft (vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 53, 152, 158 f.). Das bedeutet, dass der Eingriff in die Freiheit nur hinzunehmen ist, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als durch vorläufige Inhaftierung eines Verdächtigen (BVerfGE 19, 342, 347 f.; 20, 45, 49).

4. Bei der Beurteilung der Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO d.h. der besonderen Schwierigkeit oder des besondere Umfangs der Ermittlungen oder des Vorliegens eines anderen wichtigen Grundes für die Fortdauer der Untersuchungshaft über 6 Monate hinaus, ist entscheidend darauf abzustellen, ob die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte ihrerseits alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen. Die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO lässt insoweit nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der Untersuchungshaft zu und ist eng auszulegen (vgl. BVerfGE 20, 45, 50; 36, 264, 270 f.).

5. Die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zwingt die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte dazu, diese bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu berücksichtigen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verpflichtet im Falle eines, mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang stehenden, überlangen Verfahrens, zu sorgfältiger Prüfung, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann.

6. In jedem Haftfortdauerbeschluss sind aktuelle Ausführungen zum Vorliegen eines die Haftfortdauer rechtfertigen Grundes, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände, insbesondere angesichts der seit der letzten Entscheidung verstrichenen Zeit in ihrer Gewichtigkeit verschieben können.


Entscheidung

305. BVerfG 2 BvR 364/05 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 15. März 2005 (LG Wuppertal/AG Wuppertal)

Rechtstaatsprinzip (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Abwägung; Schutz der Allgemeinheit; Beschleunigungsgebot; Verfahrensverzögerungen; faires, rechtsstaatliches Verfahren); vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis.

Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 111a StPO; § 69 StGB; § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB; § 142 StGB

1. Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO ist eine Präventivmaßnahme, die der Allgemeinheit Schutz vor weiteren Verkehrsstraftaten gewähren soll.

2. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe wie die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis müssen auch im Einzelfall dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Dieser Grundsatz setzt staatlichen Eingriffen Grenzen, die insbesondere auch durch Abwägung der in Betracht kommenden Interessen zu ermitteln sind. Führt die Abwägung zu dem Ergebnis, dass die dem Eingriff entge-

genstehenden Interessen im konkreten Fall ersichtlich wesentlich schwerer wiegen als diejenigen Belange, deren Wahrung die staatliche Maßnahme dienen soll, so verletzt der gleichwohl erfolgte Eingriff den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfGE 44, 353, 373).

3. Gemessen an dem eingeschränkten Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts begründet es keine verfassungsrechtlichen Bedenken, dass die Fachgerichte mit Blick auf die im Überfahren der mit Warnbaken gekennzeichneten Sperrfläche zutage tretende grobe Verkehrswidrigkeit des Fahrverhaltens und bei Annahme der Verwirklichung zweier Alternativen des § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB der Sicherheit des Straßenverkehrs den Vorrang gegenüber dem eingetretenen Zeitablauf und einer bei der Staatsanwaltschaft zu beobachtenden Verfahrensverzögerung einräumen.


Entscheidung

306. BVerfG 2 BvR 1610/03 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. März 2005 (LG Hamburg)

Effektivität des Rechtsschutzes; Gewährung in angemessener Zeit (Bedeutung der Sache; Schwierigkeit des Falles; Verhalten der Beteiligten; nicht beeinflussbare Verzögerungen durch Gutachter; kein Berufen auf angespannte Personalsituation); Ermessen des Richters bei der Bearbeitung anhängiger Verfahren (kein Gestaltungsspielraum bei gerichtlicher Feststellung einer rechtswidrigen Untätigkeit); Strafvollzug (Genehmigung der Teilnahme an der beruflichen Weiterbildung oder Ausbildung).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 109 StVollzG; § 116 StVollzG; § 37 Abs. 3 StVollzG

1. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Wirksam ist nur ein zeitgerechter Rechtsschutz. Art. 19 Abs. 4 GG fordert daher auch, dass Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit gewährt wird. Welche Verfahrensdauer noch angemessen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab (vgl. BVerfGE 55, 349, 369; 93, 1, 13). Entscheidend sind vor allem die Bedeutung der Sache, die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, die Schwierigkeit des Falles und das Verhalten der Beteiligten, insbesondere etwaige den Beteiligten selbst zuzurechnende Verzögerungen, sowie eine gerichtlich nicht zu beeinflussende Verzögerung durch die Tätigkeit von Sachverständigen oder sonstigen Dritten (vgl. BVerfGE 46, 17, 29; Beschluss vom 14. Oktober 2003 - 1 BvR 901/03 -, NVwZ 2004, S. 334, 335).

2. Dem Richter steht für die Bearbeitung anhängiger Verfahren grundsätzlich ein Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen er aufgrund eigener Gewichtung solcher Faktoren Prioritäten in Abweichung von der Reihenfolge des Eingangs setzen kann. Ein diesbezüglicher Gestaltungsspielraum des Richters besteht jedoch dann nicht mehr, wenn ein übergeordnetes Gericht festgestellt hat, dass bereits die bisherige Untätigkeit in dem betreffenden Verfahren rechtswidrig war.


Entscheidung

307. BVerfG 2 BvR 2207/04 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 7. März 2005 (OLG Schleswig/LG Lübeck)

Rechtstaatsprinzip; Verschlechterungsverbot; keine unzulässige Doppelbestrafung bei nachträglicher Änderung von Bewährungsauflagen (ne bis in idem; zulässige Auswechslung der Auflage auf Grund bisher unbekannter Umstände).

Art. 19 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 3 GG; § 56b Abs. 2 StGB; § 56b Abs. 1 StGB; § 56e StGB

1. Zwar handelt es sich bei einer Bewährungsauflage gemäß § 56b Abs. 2 StGB, die gemäß § 56b Abs. 1 StGB der Genugtuung für begangenes Unrecht dienen soll, um eine "strafähnliche Maßnahme". Eine nachträgliche Änderung gemäß § 56e StGB stellt jedoch dann keine unzulässige Verschlechterung dar, wenn lediglich die Art der Auflage aufgrund von Umständen, die dem Tatrichter noch nicht bekannt sein konnten, ausgewechselt wird.

2. Es handelt sich bei der nachträglichen Abänderung der Bewährungsauflage auch nicht um eine unzulässige Doppelbestrafung im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG. Diese Vorschrift enthält kein umfassendes Verbot, aus Anlass eines Sachverhalts verschiedene Sanktionen zu verhängen, sondern verbietet nur die wiederholte strafrechtliche Ahndung ein und derselben Tat.

3. Für Maßnahmen der Bewährungsaufsicht ist die Anwendung des Art. 103 Abs. 3 GG ausgeschlossen.