HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2005
6. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

289. BGH 5 StR 14/04 - Urteil vom 16. Februar 2005 (LG Berlin)

BGHSt; Befehl zur Tötung eines Demonteurs von Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze; Grundsätze der Beurteilung von "Mauerschützen"; Heimtückemord; Verjährung; Vorrang des Freispruchs vor der Verfahrenseinstellung.

§ 30 StGB; § 211 StGB; § 78 StGB; Vor § 13 StGB

1. Befehl zur Tötung eines Demonteurs von Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze. (BGHSt)

2. Zu den Grundsätzen des BGH zur Behandlung von "Mauerschützen" und Selbstschussanlagen an der deutsch-deutschen Grenze. (Bearbeiter)


Entscheidung

263. BGH 1 StR 422/04 - Urteil vom 1. Februar 2005 (LG München)

Fahrlässige Tötung (Bestimmung der Sorgfaltspflicht bzw. Pflichtwidrigkeit im Umgang mit Feuer und Zigaretten; Alleinlassen von Kleinkindern); fahrlässige Brandstiftung.

§ 222 StGB; § 306d StGB

1. Pflichtwidrig im Sinne einer fahrlässigen Tatbestandsverwirklichung handelt, wer objektiv gegen eine Sorgfaltspflicht verstößt, die gerade dem Schutz des beeinträchtigten Rechtsguts dient und zu einer Rechtsgutverletzung führt, die der Täter nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten hätte vermeiden können. Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt bestimmen sich nach den Anforderungen, die bei objektiver Betrachtung einer Gefahrenlage ex ante an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Handelnden zu stellen sind (BGH NStZ 2003, 657, 658).

2. Im Rahmen der Vorwerfbarkeit ist bei vorliegender Erfolgsabwendungspflicht nicht entscheidend, ob die Pflichtwidrigkeit in einem aktiven Tun liegt oder in einem Unterlassen begründet ist. Der Erfolg einer fahrlässigen Tötung kann genauso wie der einer fahrlässigen Brandstiftung durch ein pflichtwidriges Unterlassen herbeigeführt werden. Für die Entscheidung der Frage, ob ein Tun oder ein Unterlassen vorliegt, kommt es auf den Schwerpunkt des Täterverhaltens an. Darüber hat der Tatrichter in wertender Würdigung zu entscheiden (vgl. dazu BGH NStZ 1999, 607).

3. Wird der Umgang mit Feuer und sei es auch nur in Form von entzündeten Zigaretten und glimmender Asche zugelassen, erfordert es die allgemein bekannte Gefahr, die sich in dem achtlosen Umgang mit Feuer und Zigarettenresten verwirklichen kann, dass ein Übergreifen auf Papier und sonstige leicht entflammbare Materialien verhindert oder jedenfalls auf ein Minimum reduziert wird. Diese schon allgemein bestehende Sorgfaltspflicht kann aufgrund besonderer Umstände noch besonders gesteigert sein.

4. Der Senat kann offen lassen, ob generell eine Pflichtverletzung schon dann anzunehmen ist, wenn Eltern ihre sich im Kleinkindalter befindenden Kinder über längere Zeit ohne Aufsicht in der Wohnung zurücklassen.

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

260. BGH 1 StR 327/04 - Urteil vom 1. Februar 2005 (LG Augsburg) BGHSt; Verdeckungsabsicht bei Tötung eines Opfers, das die Straftat bekanntermaßen bereits anderen mitgeteilt hat (Grundsätze der Beweiswürdigung beim Zeugen vom Hörensagen; Sicherstellung der Strafbarkeit). § 211 Abs. 2 StGB; § 261 StPO

1. In Verdeckungsabsicht handelt auch derjenige, welcher - um der Strafverfolgung zu entgehen - das Opfer einer Straftat tötet, selbst wenn dieses die Tat bereits einer anderen Person mitgeteilt hatte, jedoch allein aufgrund der Aussage eines solchen Zeugen vom Hörensagen die Tatumstände noch nicht in einem die Strafverfolgung sicherstellenden Umfang aufgedeckt würden. (BGHSt)

2. In Verdeckungsabsicht handelt, wer als Täter ein Opfer deswegen tötet, um dadurch eine vorangegangene Straftat als solche oder auch Spuren zu verdecken, die bei einer näheren Untersuchung Aufschluss über bedeutsame Tatumstände geben könnten (BGHSt 15, 291, 295 ff.; BGHSt 41, 358, 360). Allerdings scheidet begrifflich eine Tötung zur Verdeckung einer Straftat dann aus, wenn diese bereits aufgedeckt ist (vgl. BGH GA 1979, 108). (Bearbeiter)


Entscheidung

248. BGH 3 StR 230/04 - Beschluss vom 14. Februar 2005 (LG Flensburg)

Sexuelle Nötigung (schutzlose Lage; Vorstellung des Tatopfers; Gewalt); Vorsatz (Darlegung).

§ 177 Abs. 1 StGB; § 15 StGB; § 16 Abs. 1 StGB

1. Eine schutzlose Lage im Sinne von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist gegeben, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers in einem solchen Maße verringert sind, dass es dem ungehemmten Einfluss des Täters preisgegeben ist.

2. Der Senat hält - obiter - für das Nötigen unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage gem. § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB für erforderlich, dass das Opfer dem Täter gegenüber von Widerstand absehen muss, weil es diesen aufgrund des Ausgeliefertseins für sinnlos erachtet. Daher ist nach Ansicht des Senats zugleich auf Seiten des Opfers die Kenntnis der schutzlosen Lage notwendige Voraussetzung eines objektiv tatbestandsmäßigen Verhaltens (Abgrenzung von BGHR StGB § 177 Abs. 1 Schutzlose Lage 6 = BGH 2 StR 351/03 - Urteil vom 28. Januar 2004; Bekräftigung des Senatsurteils BGH 3 StR 446/02 vom 27. März 2003).


Entscheidung

275. BGH 4 StR 366/04 - Urteil vom 20. Januar 2005 (LG Kassel)

Fahrlässige Tötung; Freiheitsberaubung mit Todesfolge auf andere Weise (Anwendbarkeit bei zu schnellem Fahren, das die Fahrzeuginsassen am Verlassen des Wagens hindert).

§ 239 Abs. 4 StGB; § 222 StGB

1. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine Freiheitsberaubung "auf andere Weise" auch durch schnelles Fahren mit einem Fahrzeug begangen werden kann, um hierdurch einen Fahrzeuginsassen am Verlassen des Wagens zu hindern (vgl. BGH NStZ 1992, 33, 34). Dabei kommt es für die Erheblichkeit der Tathandlung allerdings nicht allein auf deren Dauer, sondern auch auf das Gewicht der Einwirkung auf das geschützte Rechtsgut an (vgl. BGHSt 14, 314, 315).

2. Der Tatbestand der Freiheitsberaubung nach § 239 Abs. 1 StGB ist in der Begehungsform "auf sonstige Weise" nicht bereits dann erfüllt, wenn ein Fahrzeugführer entgegen der ausdrücklichen Aufforderung eines Fahrzeuginsassen, die Fahrweise zu ändern, unverändert gefährdend weiterfährt. Vielmehr muss für die Annahme des Widerrufs eines ursprünglich erteilten Einverständnisses in die Beförderung mit dem Fahrzeug und zur Verwirklichung des Tatbestands der Freiheitsberaubung in einem solchen Fall hinzukommen, dass der Mitfahrer den eindeutigen und unmissverständlichen Wunsch zum Ausdruck bringt, das Fahrzeug unter den gegebenen Umständen verlassen zu wollen.

3. Die Freiheitsberaubung "auf andere Weise" kennt hinsichtlich des Tatmittels keine Begrenzung. Es reicht vielmehr jedes Mittel aus, das geeignet ist, einem anderen die Fortbewegungsfreiheit zu nehmen, insbesondere ihm, sei es auch nur vorübergehend, die Möglichkeit zu nehmen, einen Raum zu verlassen (BGHR StGB § 239 Abs. 1 Freiheitsberaubung 2).


Entscheidung

264. BGH 1 StR 473/04 - Urteil vom 2. Februar 2005 (LG Baden)

Heimtücke bei einer Attacke mit einem Fahrzeug (Arglosigkeit und Wehrlosigkeit des Opfers bei vorheriger Wahrnehmung des Angreifenden; Ausnutzungsbewusstsein); Überzeugungsbildung (überspannte Anforderungen; Gewissheit; Zweifelssatz; Erörterungsmangel).

§ 211 Abs. 2 StGB; § 261 StPO

1. Die objektiven Voraussetzungen der Heimtücke können selbst dann erfüllt sein, wenn das Opfer den Angeklagten kurz vor der Fahrzeugkollision bemerkt und mit einer Fahrzeugattacke gerechnet haben sollte. Dies schließt die Arglosigkeit des Opfers nicht von vornherein aus. Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren (BGHSt 39, 353, 368; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 2 m.w.Nachw.).

2. Das Opfer muss gerade aufgrund seiner Arglosigkeit wehrlos sein (BGHSt 32, 382, 384). Allerdings kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen (BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 3, 15).


Entscheidung

234. BGH 2 StR 516/04 - Beschluss vom 26. Januar 2005 (LG Aachen)

Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion (Sichverschaffen; Gebrauchmachen); Betrug; Urkundenfälschung; Konkurrenzen (Tateinheit; Tatmehrheit; Spezialität).

§ 152 a Abs. 1 Nr. 2 StGB; § 152 b Abs. 1 StGB; § 263 Abs. 1 StGB; § 267 Abs. 1 StGB; § 52 StGB; § 53 StGB

1. Hat der Täter eine Zahlungskarte mit Garantiefunktion in der Absicht erworben, sie alsbald einzusetzen, und handelt er gemäß diesem Tatplan, so bildet die Beschaffung (als Vorbereitungsakt) mit dem Gebrauch (als Ausführungsakt) eine einzige Tat der Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion.

2. Eine Verurteilung wegen - neben dem Gebrauchmachen von einer Zahlungskarte mit Garantiefunktion - tateinheitlich verwirklichter Urkundenfälschung durch bloße Vorlage einer gefälschten Kreditkarte kommt nicht in Betracht. Das insoweit verwirklichte Unrecht wird durch den Tatbestand des § 152 b Abs. 1 StGB miterfasst, der gegenüber § 267 Abs. 1 StGB das speziellere Delikt ist. Anders kann es liegen, wenn der Täter über die bloße Vorlage der Kreditkarte hinaus noch einen Belastungsbeleg mit dem Namen des wirklichen Karteninhabers unterschreibt.


Entscheidung

227. BGH 2 StR 456/04 - Beschluss vom 26. Januar 2005 (LG Köln)

Widerstandsunfähigkeit (geistige Behinderung; Überzeugungsbildung; Begründung).

§ 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 261 StPO; § 267 Abs. 4 StPO

Widerstandsunfähigkeit im Sinne von § 179 StGB setzt voraus, dass der Geschädigte gerade aufgrund seines Zustands zum Tatzeitpunkt zur Abwehr gegenüber den sexuellen Übergriffen des Täters nicht in der Lage war. Eine Widerstandsunfähigkeit in diesem Sinne folgt nicht schon allein daraus, dass der Geschädigte geistig behindert ist.