HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2007
8. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

799. BGH 2 StR 493/06 - Beschluss vom 20. Juni 2007 (Landgerichts Frankfurt am Main)

Recht auf Verfahrensbeschleunigung (rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung; Rügeanforderungen im Revisionsverfahren).

§ 344 Abs. 2 StPO; § 345 Abs. 1 StPO; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

1. Auch eine nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils eingetretene rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ist nur auf die Verfahrensrüge hin zu prüfen, wenn das Urteil erneut zugestellt werden musste und der Revisionsführer dadurch die Möglichkeit hatte, die ihm bekannte Verzögerung innerhalb der neu in Gang gesetzten Frist des § 345 Abs. 1 StPO geltend zu machen. (BGH)

2. Will der Beschwerdeführer die Verletzung des Beschleunigungsgebotes geltend machen, erfordert dies grundsätzlich die Erhebung einer Verfahrensrüge. (Bearbeiter)

3. Zwar kann für Verzögerungen nach Urteilserlass ein Eingreifen des Revisionsgerichtes von Amts wegen geboten sein; dies gilt jedoch nur, wenn und insoweit der Angeklagte diese Gesetzesverletzung nicht form- und fristgerecht rügen konnte, weil die Verzögerung erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eingetreten ist. (Bearbeiter)


Entscheidung

804. BGH 3 StR 132/07 - Beschluss vom 15. Mai 2007 (LG Wuppertal)

Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit (Drängen zum Geständnis bei schweigendem Angeklagten); Selbstbelastungsfreiheit.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG; § 24 Abs. 2 StPO; § 338 Nr. 3 StPO

1. Die Verhandlungsführung eines Vorsitzenden gibt nicht schon dann Anlass, dessen Befangenheit zu besorgen, wenn er dem Angeklagten in nachdrücklicher Form Vorhalte macht, auf das nach dem gegebenen Sachstand zu erwartende Verfahrensergebnis hinweist oder die Bedeutung eines Geständnisses für die Strafzumessung hervorhebt.

2. Die Frage eines Vorsitzenden an einen die Tat bestrei-

tenden oder schweigenden Angeklagten, wie lange er sich das sichtbare Leiden eines Belastungszeugen „noch anhören“ wolle, kann je nach den Umständen auch bei einem verständigen Angeklagten den Eindruck erwecken, dass der Vorsitzende ihn zu einem Geständnis drängen will, weil er von seiner Schuld überzeugt ist. Die Gefahr eines solchen Verständnisses seiner Frage kann der Vorsitzende jedoch ausschließen, indem er die Frage ausdrücklich unter den Vorbehalt etwa gegebener Schuld stellt.


Entscheidung

811. BGH 3 StR 194/07 - Beschluss vom 13. Juni 2007 (LG Wuppertal)

Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (Sachrüge; Verfahrensrüge; Revisionsbegründung); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang; psychische Abhängigkeit).

§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 64 StGB

1. Erhebt der Revisionsführer die Sachrüge mit der Beanstandung, der Tatrichter habe bei der Strafzumessung eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung nicht berücksichtigt, so ist seine Rüge als Verfahrensrüge auszulegen.

2. Die Verfahrensrüge der Nichtberücksichtigung eines rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ist hinsichtlich der Begründungsanforderungen zulässig erhoben (vgl. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), wenn sich aus der Revisionsbegründung im Zusammenhang mit den Feststellungen des Urteils die Tatsachen ergeben, aus denen eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung folgt.

3. Für einen Hang im Sinne des § 64 StGB ist eine chronische, auf körperlicher Sucht beruhende Abhängigkeit nicht erforderlich. Vielmehr genügt eine eingewurzelte, auf psychischer Disposition beruhende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Alkohol oder andere Rauschmittel im Übermaß zu konsumieren, ohne dass der Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht sein muss.


Entscheidung

882. BGH 5 StR 31/07 - Urteil vom 28. August 2007 (LG Berlin)

Rechtsfehlerhafte Beweiswürdigung im Berliner „Ehrenmordprozess“ (rechtsfehlerhaft begründete Freisprüche; verfehlter Urteilsaufbau anhand einer Aussage vom Hörensagen; Fall Hatun Sürücü).

§ 211 StGB; § 261 StPO


Entscheidung

885. BGH 5 StR 193/07 - Urteil vom 30. August 2007 (LG Potsdam)

Totschlag; regelmäßig bei Tötungsdelikten nahe liegende Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen (Jugendstrafrecht; gesteigertes Begründungsgebot bei Berufung auf eigene Sachkunde; verminderte Schuldfähigkeit; fallbezogene Besonderheiten bei Heranwachsenden).

§ 212 StGB; § 21 StGB; § 244 Abs. 2, Abs. 3 StPO

1. Bei - jedenfalls nicht von langer Hand geplanten - Tötungsdelikten erweist es sich, insbesondere im Bereich des Jugendstrafrechts, in der Mehrzahl der Fälle als sachgerecht, einen psychiatrischen Sachverständigen beizuziehen. Daher ist insoweit eine fehlende oder nur knappe, allein auf gerichtliche Sachkunde gestützte Begründung für das Vorliegen uneingeschränkter Schuldfähigkeit schon sachlich-rechtlich nicht unbedenklich. Eine Verletzung der Aufklärungspflicht durch Nichthinzuziehung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit liegt regelmäßig nicht fern (vgl. BGH NStZ 2006, 49; BGH, Beschluss vom 29. November 2006 - 5 StR 329/06).

2. Einzelfall fallbezogener Besonderheiten, die eine psychiatrische Begutachtung bei einem Heranwachsenden zusätzlich nahe legten.


Entscheidung

886. BGH 5 StR 197/07 - Urteil vom 30. August 2007 (LG Potsdam)

Totschlag; Jugendstrafe; Erörterungsmangel bezüglich verminderter Steuerungsfähigkeit; Strafzumessung (Wertungsfehler; Strafschärfung wegen zulässigen Verteidigungsverhaltens).

§ 212 StGB; § 17 JGG; § 21 StGB; § 46 StGB

In Kapitalstrafsachen besteht in der Mehrzahl der Fälle, zumal im Bereich der Anwendbarkeit von Jugendstrafrecht, - wenn nicht ein länger geplantes, wenngleich verwerfliches, so doch rational nachvollziehbar motiviertes Verbrechen vorliegt - Anlass, rechtzeitig im Vorfeld der Hauptverhandlung einen psychiatrischen Sachverständigen mit der Erstattung eines Gutachtens zur Schuldfähigkeit zu betrauen.


Entscheidung

824. BGH 1 StR 296/07 - Beschluss vom 18. Juli 2007 (LG Stuttgart)

Verzicht auf das Verwertungsverbot nach § 252 StPO (Belehrungspflicht; Erklärung durch Dritte außerhalb der Hauptverhandlung; Aufklärungspflicht); Darlegungsvoraussetzungen für eine Rüge nach § 252 StPO (ergänzender Rückgriff auf die Urteilsgründe); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK; § 252 StPO; § 244 Abs. 2 StPO

1. Ein Zeuge kann sein Zeugnisverweigerungsrecht in Anspruch nehmen und zugleich über seinen Rechtsanwalt erklären lassen, er sei mit der Verwertbarkeit seiner früheren nichtrichterlichen Vernehmung einverstanden (BGHSt 45, 203, 205 ff.; StV 2007, 401, 402 m.w.N.). Dieser Verzicht auf das Verwertungsverbot muss nicht notwendig in der Hauptverhandlung erklärt werden. Entscheidend ist, dass er eindeutig erklärt wird und sich der Zeuge zur Überzeugung des Gerichts darüber klar ist, dass ohne seine Zustimmung die in Rede stehende nichtrichterliche Vernehmung nicht verwertet werden könnte.

2. Erklärt ein, zumal anwaltlich vertretener, Zeuge schriftlich oder durch seinen Rechtsanwalt im Zusammenhang mit der Berufung auf sein Aussageverweigerungsrecht, er sei mit der Verwertung seiner früheren, z.B. vor der Polizei gemachten Aussagen einverstanden, folgt hieraus in der Regel die Kenntnis des Zeugen, dass ohne seine Einverständniserklärung auf die früheren Aussagen nicht zurückgegriffen werden könnte (BGH StV 2007, 401, 402). Bleibt dagegen zweifelhaft, dass der

Zeuge all dies erfasst hat, muss das Gericht sein Erscheinen in der Hauptverhandlung veranlassen. Der Zeuge ist dann gerichtlich, ebenso wie über sein Aussageverweigerungsrecht auch über die Rechtslage im Übrigen, insbesondere über das mit seiner Aussageverweigerung sonst notwendig verbundene Verwertungsverbot hinsichtlich der nichtrichterlichen Vernehmung zu belehren. All dies ist dann ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung und als solcher auch im Protokoll festzuhalten.

3. Ein Zeuge, dem schon anderweit bekannt ist, dass ihm ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht, kann sich auch ohne ausdrückliche Belehrung wirksam auf dieses Recht berufen. Dies kann schriftlich erfolgen (BGHSt 21, 12 f.), aber auch durch Erklärung des anwaltlichen Beistands in der Hauptverhandlung.

4. Beruft sich der Zeuge außerhalb der Hauptverhandlung auf sein Aussageverweigerungsrecht, hat das Gericht regelmäßig keine Veranlassung, gleichwohl auf seinem Erscheinen in der Hauptverhandlung zu bestehen (BGHSt 21, 12 f.). Allerdings kann sich im Einzelfall anderes aus der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) ergeben, etwa bei konkreten Anhaltspunkten dafür, dass der Zeuge über die Tragweite seiner Erklärung irrt (vgl. BGHSt 21, 12), oder z.B. dafür, dass der Zeuge bei Abwesenheit des Angeklagten (§§ 247, 247a StPO) oder Ausschluss der Öffentlichkeit (§§ 171b, 172 Nr. 4 GVG) doch aussagen werde (BGH NStZ 1999, 94 f.).


Entscheidung

840. BGH 4 StR 142/07 - Beschluss vom 7. August 2007

Verspätetes Ablehnungsgesuch gegen Richter des BGH; rechtliches Gehör; Rekonstruktionsverbot in der Revision.

Art. 103 Abs. 1 GG; § 26a Abs. 1 Nr. 1 StPO; § 356a StPO

§ 356a StPO dient nicht dazu, einem unzulässigen Ablehnungsgesuch durch die unzutreffende Behauptung einer Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG doch noch Geltung zu verschaffen.


Entscheidung

851. BGH 4 StR 236/07 alt: 4 StR 36/06 - Beschluss vom 24. Juli 2007 (LG Bochum)

Absoluter Revisionsgrund der Abwesenheit eines notwendigen Verteidigers (konkludente Bestellung des Wahlverteidigers nach Mandatsniederlegung zum Pflichtverteidiger); Ablehnungsgesuch gegen Schöffen (Besorgnis der Befangenheit: teilweise Kenntnisnahme von einem unverwertbaren Urteil; mangelnde dienstliche Äußerung der Schöffen).

§ 338 Nr. 5 StPO; § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO; § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO; Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 lit. c EMRK; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 338 Nr. 3 StPO; § 24 Abs. 2 StPO; § 31 Abs. 1 StPO; § 51 Abs. 1 BZRG

Dass abgelehnte Schöffen sich über den in dem Ablehnungsgesuch geltend gemachten Ablehnungsgrund nicht dienstlich geäußert haben, steht einer Überprüfung der Entscheidung des Landgerichts über das Ablehnungsgesuch durch das Revisionsgericht (nach Beschwerdegrundsätzen) nicht entgegen. Zwar ist eine solche dienstliche Äußerung gemäß § 26 Abs. 3 StPO, der gemäß § 31 Abs. 3 für Schöffen entsprechend gilt, grundsätzlich erforderlich. Ihr Fehlen ist aber dann unschädlich, wenn der zu beurteilende Sachverhalt eindeutig feststeht. Eine Äußerung des abgelehnten Schöffen ist, ebenso wie die eines abgelehnten Richters, nur zu Tatsachen erforderlich.


Entscheidung

788. BGH 2 StR 258/07 - Beschluss vom 4. Juli 2007 (LG Kassel)

Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen; lückenhafte Beweiswürdigung (Aussagekonstanz; teilweise Zugrundelegung von Zeugenaussagen; Urteilsgründe).

§ 179 StGB; § 261 StPO

1. Stützt der Tatrichter seine Überzeugung von der Glaubwürdigkeit eines Zeugen auch auf die Konstanz seiner Aussagen im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung, so bedarf es einer umfassenden Darlegung der jeweiligen Angaben des Zeugen in den Urteilsgründen, um dem Revisionsgericht eine Überprüfung der Konstanz der Aussagen zu ermöglichen.

2. Wenn ein Zeuge zu einem im Zusammenhang stehenden gewichtigen Geschehen ersichtlich die Unwahrheit erzählt hat, bedarf es der nachvollziehbaren Begründung, weshalb ihm gleichwohl für das weitere Geschehen die Glaubwürdigkeit zugebilligt wird.


Entscheidung

780. BGH 2 StR 4/07 - Beschluss vom 27. Juni 2007 (LG Bonn)

Auslieferung (Spezialitätsgrundsatz; Tat im prozessualen Sinne); unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln (unmittelbares Ansetzen zum Versuch); Verabredung zum Verbrechen.

§ 260 Abs. 3 StPO; § 22 StGB; § 29a BtMG; § 30 BtMG; § 30 StGB

Eine Auslieferungsbewilligung umfasst ohne nähere Beschränkung grundsätzlich die gesamte Tat im Sinne des § 264 StPO (vgl. BGH NStZ 2003, 68; NStZ-RR 2000, 333).


Entscheidung

898. BGH 5 StR 461/06 - Beschluss vom 20. Juni 2007

Unbegründeter Antrag auf eine Pauschgebühr für das Revisionsverfahren (Unzumutbarkeit der gesetzlichen Gebühren; Unterschiede zwischen Wahlverteidigern und Pflichtverteidigern).

§ 42 Abs. 1 RVG

Da ein Wahlverteidiger, anders als ein gerichtlich bestellter Verteidiger, Betragsrahmengebühren erhält, innerhalb derer unterschiedliche Umstände weitgehend berücksichtigt werden können, ist wesentlich seltener als bei der Vorschrift für die Pflichtverteidigervergütung (§ 51 RVG) Unzumutbarkeit im Sinne des § 42 Abs. 1 Satz 1 RVG anzunehmen (BGH, Beschluss vom 3. April 2007 - 3 StR 486/06 m.N.). Dabei bestimmt sich die Zumutbarkeit der gesetzlich vorgesehenen Gebühren vor allem nach der vom Antragsteller selbst entfalteten Tätigkeit (vgl. BGH, Beschluss vom 2. April 2007 - 1 StR 579/05).