HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2006
7. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die HRRS-Ausgabe April wird angeführt vom Eröffnungsvortrag des diesjährigen Jubiläumsstrafverteidigertages, den Winfried Hassemer zum Thema Sicherheit durch Strafrecht gehalten hat. Fortgesetzt wird die Publikationssparte durch einen Aufsatz von André Hienzsch, der sich kritisch mit dem Scheitern der Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung von Börsenkriminalität befasst.

Die April-Ausgabe ist besonders reich an bedeutsamen Entscheidungen von BGH, BVerfG, EGMR und EuGH. Sie umfasst insgesamt 120 (!) Entscheidungen. Daher soll hier sogleich zum Blick in die reichhaltige Ausgabe eingeladen werden.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

300. EuGH C436/04 - Urteil der Zweiten Kammer vom 9. März 2006 (Van Esbroeck)

Ne bis in idem (zeitliche Geltung; Begriff 'dieselbe Tat‘ - Abgrenzung zur Straftat; Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung; Einfuhr und Ausfuhr von Betäubungsmitteln, die in verschiedenen Vertragsstaaten strafrechtlich verfolgt werden; Auslegung mit Blick auf völkerrechtliche Pönalisierungsgebote); Vorabentscheidungsverfahren; Recht auf Freizügigkeit in der EU.

Art. 54 und 71 SDÜ; § 29 BtMG; Art. 34 EU; Art. 31 EU; Art. 30 EU; Art. 14 Abs. 7 IpbpR; Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK

1. Der in Artikel 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen niedergelegte Grundsatz ne bis in idem ist auf ein Strafverfahren anzuwenden, das in einem Vertragsstaat wegen einer Tat eingeleitet worden ist, die in einem anderen Vertragsstaat bereits zur Verurteilung des Betroffenen geführt hat, auch wenn das genannte Übereinkommen in diesem letztgenannten Staat zum Zeitpunkt der Verkündung dieser Verurteilung noch nicht in Kraft war, sofern es in den betreffenden Vertragsstaaten zu dem Zeitpunkt, zu dem das mit einem zweiten Verfahren befasste Gericht die Voraussetzungen für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem geprüft hat, in Kraft war.

2.    Artikel 54 des genanten Übereinkommens ist dahin auszulegen, dass

-        das maßgebende Kriterium für die Anwendung dieses Artikels das der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, ist, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse;

-        die strafbaren Handlungen, die in der Ausfuhr und der Einfuhr derselben Betäubungsmittel bestehen und in verschiedenen Vertragsstaaten des genannten Übereinkommens strafrechtlich verfolgt worden sind, grundsätzlich als "dieselbe Tat" im Sinne des genannten Artikels 54 anzusehen sind, wobei die endgültige Beurteilung insoweit Sache der zuständigen nationalen Gerichte ist.


Entscheidung

284. BVerfG 1 BvR 1054/01 (Erster Senat) - Urteil vom 28. März 2006 (BVerwG/BayVerwGH)

Berufsfreiheit (Schutzbereich; Berufswahlfreiheit; Veranstalten und Vermitteln von Sportwetten; Begrenzung auf erlaubte Tätigkeiten; keine Sozial- und Gemeinschaftsschädlichkeit; legitimes Ziel; Geeignetheit; Erforderlichkeit; Beurteilungs- und Prognosespielraum des Gesetzgebers); staatliches Monopol für Sportwetten (Bayerisches Staatslotteriegesetz; Zulässigkeit; Ausrichtung an einer Bekämpfung der Wettsucht und einer Begrenzung der Wettleidenschaft; Selbstsperre; Spieler- und Jugendschutz; Gestaltung der Vertriebswege; geeignete Kontrollinstanzen); Gesetzgebungskompetenz; Strafbarkeit bis zur Neuregelung.

Art. 12 Abs. 1 GG; § 1 Lotteriestaatsvertrag; § 284 StGB; Art. 49 EG

1. Ein staatliches Monopol für Sportwetten ist mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG nur vereinbar, wenn es konsequent am Ziel der Bekämpfung von Suchtgefahren ausgerichtet ist. (BVerfG)

2. Art. 12 Abs. 1 GG schützt neben der freien Berufsausübung auch das Recht, einen Beruf frei zu wählen. Unter Beruf ist dabei jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit zu verstehen, die auf Dauer angelegt ist und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient (vgl. BVerfGE 105, 252, 265 m.w.N.). Sowohl das Veranstalten als auch das Vermitteln von Sportwetten erfüllen diese Merkmale und stehen somit als berufliche Tätigkeiten unter dem Schutz des Grundrechts der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG. (Bearbeiter)

3. Einer die Merkmale des Berufsbegriffs grundsätzlich erfüllenden Tätigkeit ist der Schutz durch das Grundrecht der Berufsfreiheit nicht schon dann versagt, wenn das einfache Recht die gewerbliche Ausübung dieser Tätigkeit verbietet. Vielmehr kommt eine Begrenzung des Schutzbereichs von Art. 12 Abs. 1 GG in dem Sinne, dass dessen Gewährleistung von vornherein nur erlaubte Tätigkeiten umfasst (vgl. BVerfGE 7, 377, 397), allenfalls hinsichtlich solcher Tätigkeiten in Betracht, die schon ihrem Wesen nach als verboten anzusehen sind, weil sie aufgrund ihrer Sozial- und Gemeinschaftsschädlichkeit schlechthin nicht am Schutz durch das Grundrecht der Berufsfreiheit teilhaben können. (Bearbeiter)

4. Die Bekämpfung der Spiel- und Wettsucht ist ein besonders wichtiges Gemeinwohlziel. Weitere legitime Ziele sind der Schutz der Spieler vor betrügerischen Machenschaften seitens der Wettanbieter und ein darüber hinaus gehender Verbraucherschutz, insbesondere vor der hier besonders nahe liegenden Gefahr irreführender Werbung; außerdem die Abwehr von Gefahren aus mit dem Wetten verbundener Folge- und Begleitkriminalität. (Bearbeiter)

5. Fiskalische Interessen des Staates als solche scheiden zur Rechtfertigung der Errichtung eines Wettmonopols aus. (Bearbeiter)

6. Die gesetzliche Errichtung eines staatlichen Wettmonopols stellt grundsätzlich ein geeignetes und erforderliches Mittel zur Erreichung der legitimen Ziele dar. (Bearbeiter)

7. Der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich gehalten, den Bereich der Sportwetten unter Ausübung seines rechtspolitischen Gestaltungsspielraums neu zu regeln. Will der Gesetzgeber an einem staatlichen Wettmonopol festhalten, muss er dieses konsequent am Ziel der Bekämpfung von Wettsucht und der Begrenzung der Wettleidenschaft ausrichten. Dabei ergeben sich für die verfassungsgemäße Ausgestaltung eines Wettmonopols materiellrechtliche und organisatorische Anforderungen. Deren Umsetzung im Einzelnen und im Zusammenspiel miteinander obliegt dem Gesetzgeber. (Bearbeiter)

8. Eine Neuregelung kommt dabei grundsätzlich sowohl durch den Bundes- wie den Landesgesetzgeber in Betracht. Insoweit kann auch der Bund, gestützt auf den Gesetzgebungstitel für das Recht der Wirtschaft nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG, unter den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG tätig werden. Eine Kompetenz des Bundes scheitert nicht an dem ordnungsrechtlichen Aspekt der Regelungsmaterie. (Bearbeiter)

9. Ob in der Übergangszeit eine Strafbarkeit nach § 284 StGB gegeben ist, unterliegt der Entscheidung der Strafgerichte. (Bearbeiter)

10. Auch in der Übergangszeit muss allerdings bereits damit begonnen werden, das bestehende Wettmonopol konsequent an einer Bekämpfung der Wettsucht und einer Begrenzung der Wettleidenschaft auszurichten. (Bearbeiter)


Entscheidung

357. EGMR Nr. 51277/99 - Urteil der 2. Kammer vom 28. Februar 2006 (Krasniki v. Tschechien)

Konfrontationsrecht (Verwertungsverbot hinsichtlich einer entscheidenden Verwertung unkonfrontierter Aussagen; anonyme Zeugen: Darlegungspflichten hinsichtlich bestehender Drohungen und Gewaltanwendungen gegenüber Zeugen im "Drogenmilieu"; unmögliche Kompensation); Recht auf ein faires Strafverfahren (Gesamtbetrachtung und Gesamtrecht); Wiederaufnahme eines Strafverfahrens nach einer Verletzung des Art. 6 EMRK als optimale Form der Wiedergutmachung; redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 lit. d EMRK; Art. 41 EMRK; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 96 StPO (analog); § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO; § 261 StPO; § 359 Nr. 6 StPO

1. Wird dem entscheidenden Zeugen eine anonyme Aussage zugestanden, um ihn vor Drohungen und vor Gewaltanwendungen zu schützen, die beim Drogenhandel üblicherweise gegenüber Zeugen zu befürchten seien, ist Art. 6 EMRK verletzt, wenn dieser Schutzbedarf nicht für den Einzelfall konkret dargelegt und damit gerechtfertigt wird. Es kommt in diesem Fall auch nicht darauf an, welche Maßnahmen die staatlichen Stellen zum Ausgleich der anonymen Zeugenaussage getroffen haben.

2. Wenn eine Verurteilung allein oder in entscheidendem Ausmaß auf Aussagen beruht, die von einer Person gemacht worden sind, hinsichtlich derer der Angeklagte weder während der Ermittlungsphase noch während des gerichtlichen Hauptverfahrens eine Gelegenheit hatte, sie zu prüfen oder prüfen zu lassen, sind die Verteidigungsrechte in einem Ausmaß beschränkt, das mit den von Art. 6 EMRK gewährten Garantien unvereinbar ist.

3. Angaben, die von anonymen Informanten gemacht worden sind, können unter Umständen dann verwertet werden, wenn die nationalen Behörden relevante und hinreichende Gründe für die Geheimhaltung ihrer Identität vorweisen. Die der Verteidigung hieraus erwachsenden Erschwernisse sind jedoch zur Wahrung der Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. d EMRK hinreichend durch die von den Justizorganen angewendeten Verfahren auszugleichen. Bei der Prüfung, ob diese Verfahren einen hinreichenden Ausgleich darstellen, um die für die Verteidigung verursachten Erschwernisse auszugleichen, muss dem Ausmaß gebührendes Gewicht beigemessen werden, in welchem die anonymen Zeugenaussagen für die angegriffene Verurteilung entscheidend gewesen sind.

4. Wurde ein Beschwerdeführer trotz einer Verletzung seiner von Art. 6 EMRK garantierten Rechte verurteilt, sollte er soweit wie möglich in die Position versetzt werden, in der er sich ohne diese Verletzung befunden hätte. Die optimale Form der Wiedergutmachtung ist prinzipiell ein neues Verfahren oder die Wiederaufnahme des früheren Prozesses, wenn der Beschwerdeführer dies beantragt.


Entscheidung

287. BVerfG 2 BvR 2/06 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. Januar 2006 (LG Hannover)

Grundrecht der freien Berufsausübung (sitzungspolizeiliche Anordnung gegen einen Verteidiger; Durchsuchung; Organ der Rechtspflege; vernünftigen Erwägungen des Allgemeinwohls); Zumutbarkeit (Gefahr des Einsatzes der Person des Verteidigers als Werkzeug oder Drohmittel für Befreiungsaktionen; Übergabe von Gegenständen an den Angeklagten; polizeiliche Erkenntnisse); Umfang (Schuhe; Wirksamkeit; kein notwendiger Einsatz eines Detektionsrahmens); Begründung der Anordnung (sachlicher Grund; hinreichende Deutlichkeit; Umfang der Maßnahmen); zulässige Ungleichbehandlung gegenüber dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft (nicht gleichartiger Zugang zum Angeklagten); Nichtannahmebeschluss.

Art. 12 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK; § 176 GVG

1. Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass gestützt auf die Vorschrift des § 176 GVG grundsätzlich auch die Anordnung der Durchsuchung von Personen und der von ihnen mitgeführten Gegenstände auch in Gestalt von Einlasskontrollen in den dem Sitzungssaal vorgelagerten Räumlichkeiten gestützt wird und dass sich solche Maßnahmen auch auf die Verteidiger erstrecken (vgl. BVerfGE 48, 118, 123).

2. Der Strafverteidiger genießt kraft seiner Stellung als Organ der Rechtspflege bis zum Beweis des Gegenteils einen staatlichen Vertrauensvorschuss. Es bedarf daher grundsätzlich der Darlegung eines die Anordnung rechtfertigenden sachlichen Grundes.

3. Die Verfügung muss selbst nach ihrem Wortlaut und durch hinreichende Bestimmtheit in der Fassung sicherstellen, dass der Umfang der Durchsuchung im Einzelfall dem Maß der angenommenen Gefahr entspricht und die Überprüfung den betroffenen Verteidiger jedenfalls nur insoweit belastet, als dies unumgänglich erscheint (vgl. BVerfG NJW 1998, 296, 298).

4. Die Durchsuchung kann auch auf die Schuhe des Verteidigers erstreckt werden, wenn ein weniger einschneidendes, gleich geeignetes Mittel nicht ersichtlich ist.

5. Der Schutz der Freiheit der Berufsausübung beschränkt sich auf die Abwehr übermäßiger und unzumutbarer Belastungen (vgl. BVerfGE 7, 377, 405; 30, 1, 32 f.).


Entscheidung

303. BVerfG 2 BvR 2085/05 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 16. Februar 2006 (BGH)

Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Vortrag zur Verfassungswidrigkeit einer Norm bereits im fachgerichtlichen Verfahren; Bestimmtheitsgebot; Mord; Heimtücke); faires Verfahren (zulässige Verwertung früherer Aussagen; Vernehmungsfähigkeit; amtsärztliche Untersuchung; unterlassene Pflichtverteidigerbeiordnung bei ausreichender Belehrung über Verteidigerkonsultation); redaktioneller Hinweis.

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 140 Abs. 1 StPO; § 141 Abs. 3 StPO; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 211 Abs. 2 2. Gruppe StGB

1. Zwar braucht ein Beschwerdeführer bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht darzulegen, dass er von Beginn des fachgerichtlichen Verfahrens an verfassungsrechtliche Erwägungen vorgetragen habe, weil das fachgerichtliche Verfahren nicht bereits als "Verfassungsprozess" zu führen ist; etwas anderes gilt aber in den Fällen, in denen der Ausgang des Verfahrens von der Verfassungswidrigkeit einer Norm abhängt oder eine bestimmte Normauslegung angestrebt wird, die ohne verfassungsrechtliche Erwägungen nicht begründbar ist (vgl. BVerfGE 112, 50, 61 f.).

2. Aus dem Prozessgrundrecht auf eine faires, rechtsstaatliches Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), ergeben sich Mindesterfordernisse für eine Verfahrensregelung, die eine zuverlässige und rechtsstaatliche Wahrheitsforschung im prozessualen Hauptverfahren sicherstellen. Erst wenn rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind, können aus dem Prinzip konkrete Folgerungen für die Verfahrensgestal-

tung gezogen werden (vgl. BVerfGE 57, 250, 276; 86, 288, 317 f.).

3. Es besteht kein Rechtssatz des Inhalts, dass im Fall einer rechtsfehlerhaften Beweiserhebung die Verwertung der gewonnenen Beweise stets unzulässig ist (vgl. BVerfG NJW 2000, 3557; BVerfG NStZ 2006, 46, 47).


Entscheidung

283. BVerfG 2 BvR 449/05 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 8. Dezember 2005 (BGH/LG Lübeck)

Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Rechtsstaatsprinzip; Schutzbereich; Verbot Rechtsmittel ineffektiv werden zu lassen); Revision in Strafsachen (Begründungsanforderungen an Verfahrensrügen; Auslegung; Unklarheiten); Verfahrensabsprache (Deal; Geständnis); verbotene Vernehmungsmethoden (Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils; Sanktionsschere; zu Eigen machen durch das Gericht; Entgegentreten); Recht auf ein faires Verfahren.

Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 136a StPO

1. Eine gewollte oder geduldete Informalisierung des Verfahrens durch Absprachen im Strafverfahren darf nicht durch eine Überspannung der Anforderungen an den Vortrag zur Verfahrensrüge zum Ausschluss der rechtlichen Kontrolle dieser Verfahrensart praeter legem führen. Wenn sowohl das zu Grunde liegende "Verfahrensrecht" als auch der angelegte Prüfungsmaßstab noch nicht derart verfestigt sind, wie dies im Hinblick auf die Verfahrensvorschriften und -prinzipien der StPO der Fall ist, gebietet die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Rechtsschutzgarantie zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes in besonderem Maße, Unklarheiten der Begründung einer Verfahrensrüge durch Auslegung zu beheben.

2. Die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Rechtsschutzgarantie gewährleistet nicht nur, dass überhaupt ein Rechtsweg zu den Gerichten offen steht. Sie garantiert vielmehr auch die Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 88, 118, 123; 94, 166, 226; stRspr).

3. Die Rechtsschutzgarantie gilt für das gesamte Verfahren (vgl. BVerfGE 40, 272, 275; 88, 118, 125). Zwar gewährleistet sie keinen Anspruch auf einen Instanzenzug (vgl. BVerfGE 92, 365, 410; stRspr). Wird ein Instanzenzug aber von den Prozessordnungen eröffnet, dann gebietet die Rechtsschutzgarantie in allen von der Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen seine Effektivität; der Einzelne muss seine Rechte tatsächlich wirksam durchsetzen können (vgl. BVerfGE 104, 220, 232 m.w.N.; stRspr).

4. Das Rechtsstaatsgebot verbietet es dem Gericht, bei der Auslegung und Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen von Voraussetzungen abhängig zu machen, die unerfüllbar oder unzumutbar sind oder den Zugang in einer Weise erschweren, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist (vgl. ausdrücklich zu § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, BVerfGE 63, 45, 70 f.; s. auch BVerfGE 74, 228, 234; 78, 88, 99).

5. Die Auslegung des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO durch den Bundesgerichtshof, nach der der Revisionsführer, der eine Verletzung des Verfahrensrechts geltend machen will, die den Mangel enthaltenden Tatsachen so vollständig und so genau angeben muss, dass das Revisionsgericht allein aufgrund der Rechtfertigungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorläge, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen wären, ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.


Entscheidung

301. BVerfG 2 BvR 523/06 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 4. April 2006 (OLG Rostock)

Freiheit der Person; Untersuchungshaft; Entscheidung über die Haftfortdauer (Begründung; Abwägungsdefizit; Abwägungsdisproportionalität; Verhältnismäßigkeit; fehlende Berücksichtigung zwischenzeitlicher Verfahrensentwicklungen); Beschleunigungsgebot (Auswirkungen auf Abwägung und Verhältnismäßigkeit); Grenzen der Haftdauer.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG; Art. 104 GG; § 57 StGB; § 121 Abs. 1 StPO; § 94 BVerfGG

1. Auf Grund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 3 i.V.m. Art. 104 GG) muss das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde so ausgestaltet sein, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition besteht. Dem ist durch eine verfahrensrechtliche Kompensation des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Grundrechtseingriffs, namentlich durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen Rechnung zu tragen.

2. Die Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft bedarf einer eingehenden Auseinandersetzung mit deren Voraussetzungen und eine entsprechende Begründung. In der Regel sind daher in jedem Beschluss aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten.

3. Wird die von Verfassungs wegen gebotene Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse nicht - auch nicht ansatzweise - vorgenommen, so hat dies regelmäßig eine Verletzung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) zur Folge. Gleiches gilt auch für den Fall eines Abwägungsdefizits oder einer Abwägungsdisproportionalität.

4. Im Rahmen der Abwägung hat sich Gericht auch zur voraussichtlichen Gesamtdauer des Verfahrens, zu der für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehenden Straferwartung und - unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des Strafrestes gemäß § 57 StGB - zum hypothetischen Ende einer möglicherweise zu verhängenden Freiheitsstrafe zu äußern. Diese Ausführ-

ungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewährleisten. Ferner müssen die Ausführungen in sich schlüssig und nachvollziehbar sein.

5. Die aktuelle Bewertung des Verfahrensstandes beinhaltet auch die Prüfung, ob dem Beschleunigungsgebot entsprochen wurde. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantiert die Freiheit der Person. In diesem Freiheitsgrundrecht ist das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot angesiedelt.

6. Aus § 121 Abs. 1 StPO kann nicht der Schluss gezogen werden, dass das Strafverfahren bis zu diesem Zeitpunkt nicht dem Beschleunigungsgebot gemäß geführt werden muss. Vielmehr gilt auch vor diesem Zeitpunkt der Grundsatz, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen haben, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen.

7. Die Verletzung des Beschleunigungsgebots kann auch schon vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist des § 121 Abs. 1 StPO die Aufhebung des Haftbefehls gebieten, wenn es auf Grund vermeidbarer Fehler der Justizorgane zu einer erheblichen Verzögerung kommt.


Entscheidung

302. BVerfG 2 BvR 917/05 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 15. März 2006 (LG Koblenz)

Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (wirksame Kontrolle; Auslegung der Anträge; Rechtsschutzziel); Anfechtung von Maßnahmen im Strafvollzug (Besitzerlaubnis für elektronische Geräte); einstweilige Aussetzung einer Widerrufsentscheidung (Rückgabe von Geräten als Vollzugsfolgenbeseitigung; kein Verpflichtungsbegehren; keine Vorwegnahme der Hauptsache); Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Rechtswegerschöpfung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG; § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG

1. Für die Gerichte ergeben sich aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen über den Eilrechtsschutz (vgl. BVerfGE 49, 220, 226; 77, 275, 284). Diese muss darauf ausgerichtet sein, dass der Rechtsschutz sich auch im Eilverfahren nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpft, sondern zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht führt.

2. Allein, dass im Falle der einstweiligen Aufhebung des Widerrufs einer Besitzerlaubnis von technischen Geräten im Strafvollzug diese zurückzugeben sind, macht aus dem Anfechtungsbegehren kein Verpflichtungsbegehren; vielmehr liegt darin lediglich eine Beseitigung der Vollzugsfolgen.

3. Die bloße Tatsache, dass die vorübergehende Aussetzung eines Widerrufes der Besitzerlaubnis als solche nicht wieder rückgängig gemacht werden kann, macht die vorläufige Regelung nicht zu einer faktisch endgültigen. Die vorläufige Aussetzung ist vielmehr, sofern die Voraussetzungen für eine stattgebende Eilentscheidung im Übrigen vorliegen, gerade der typische, vom Gesetzgeber vorgesehene Regelungsgehalt des vorläufigen Rechtsschutzes gegen belastende Maßnahmen (BVerfGK 1, 201, 206).


Entscheidung

299. BVerfG 2 BvR 1765/05 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 3. Februar 2006 (BGH/LG Kassel)

Recht auf den gesetzlichen Richter (Auslegung einer Norm; willkürliche Entscheidung; Verletzung durch eigene Sachaufklärung durch ein an Feststellungen gebundenes Revisionsgericht); Bestätigung der Rechtsprechung des BGH zur größtmöglichen Aufrechterhaltung der von den Gesetzesverletzungen nicht berührten Feststellungen; Nichtannahmebeschluss.

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 EMRK; § 353 Abs. 2 StPO

1. Grundsätzlich ist es denkbar, dass ein Angeklagter seinem gesetzlichen Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG dadurch entzogen wird, dass ein an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz gebundenes Revisionsgericht den Sachverhalt selbst erforscht oder eine nach dem Stand des Verfahrens gebotene Zurückverweisung an das Tatsachengericht zwecks weiterer Sachaufklärung unterlässt (vgl. BVerfGE 31, 145, 165; BVerfGK 2, 207, 209). Dabei verstößt eine Entscheidung eines Gerichts nur dann gegen das Gebot des gesetzlichen Richters, wenn sie von willkürlichen Erwägungen bestimmt ist.

2. Die Auslegung der Vorschrift des § 353 Abs. 2 StPO durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Sinne eines Grundsatzes größtmöglicher Aufrechterhaltung der von den Gesetzesverletzungen nicht berührten Feststellungen (vgl. BGHSt 14, 30, 35 ff.; 33, 378, 382) unterliegt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Unter den Gesichtspunkten der Verfahrensökonomie und Verfahrensbeschleunigung, denen gerade im Strafprozess eine wichtige Bedeutung zukommt, ist eine solche Auslegung nicht willkürlich. Eigene Würdigungen des neuen Tatgerichts zu den Feststellungen sind jedoch in Betracht zu ziehen, wenn die aufrechterhaltenen Feststellungen zu möglicherweise andersartigen Erkenntnissen im neuen Verfahren in Widerspruch treten können.


Entscheidung

290. BVerfG 2 BvR 147/06 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 1. Februar 2006 LG Bremen/AG Bremen)

Unverletzlichkeit der Wohnung; allgemeines Persönlichkeitsrecht (unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung); Durchsuchung; Beschlagnahme (Kalender; private Aufzeichnungen; Durchsicht; größtmögliche Zurückhaltung); Nichtannahmebeschluss.

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 13 GG; Art. 8 EMRK; § 94 StPO; § 102 StPO; § 105 StPO; § 110 StPO

1. Bei der Überprüfung von Durchsuchungsanordnungen anhand der verfassungsrechtlichen Maßstäbe greift das Bundesverfassungsgericht nur ein, wenn die Feststellungen und Wertungen der Fachgerichte objektiv willkürlich sind oder Fehler erkennen lassen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung der Grundrechte beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85, 92, stRspr). Weder die Annahme des Verdachts steht zur vollständigen Überprüfung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 95, 96, 128) noch die Bewertungen der befassten Gerichte zur Verhältnismäßigkeit der Durchsuchung.

2. Es ist nicht offensichtlich sachfremd, bei einer betrügerischen Überweisung mit gefälschten Formularen auf die Täterschaft der Begünstigten zu schließen, wenn Erkenntnisse fehlen, die die Begünstigten von vornherein als Täter ausschließen oder die auf andere Verdächtige hindeuten.

3. Es ist von Verfassungs wegen auch nichts dagegen zu erinnern, noch mehr als zwei Jahre nach der Tat die Suche nach Belegen für Zahlungsflüsse und nach Schriftproben zur Aufklärung des Fälschungsverdachts für Erfolg versprechend zu halten und aus dem Gewicht der vorgeworfenen Tat auf die Verhältnismäßigkeit einer Wohnungsdurchsuchung zu schließen.

4. Ein letzter unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung ist unter dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen. Allein die Aufnahme in ein Tagebuch oder eine ähnliche private Aufzeichnung ordnet eine Information indes nicht diesem absolut geschützten Bereich zu.

5. Besteht Anlass zu der Annahme, dass Tagebücher oder ähnliche private Aufzeichnungen auch über strafbare Handlungen Aufschluss geben, dann besteht kein verfassungsrechtliches Hindernis, solche Schriftstücke daraufhin durchzusehen, ob sie der prozessualen Verwertung zugängliche Informationen enthalten. Hierbei ist größtmögliche Zurückhaltung zu wahren (vgl. BVerfGE 80, 367, 373, 374 f.).

6. Die Verfassungsgemäßheit bereits der Beschlagnahme von Tagebüchern oder ähnlichen privaten Aufzeichnungen kann nur dann berührt sein, wenn eine Verwertbarkeit des gesamten Inhalts einer Aufzeichnung von vornherein ausgeschlossen werden kann.


Entscheidung

288. BVerfG 2 BvR 109/06 - Beschluss vom 14. Februar 2006 (BGH)

Begründung der Verfassungsbeschwerde (Auseinandersetzung mit der Judikatur des BVerfG in der Antragsbegründung; kein pauschales Behaupten von Überholung); Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (rechtliche Ausführungen zu verfassungsrechtlichen Bedenken bereits im fachgerichtlichen Verfahren); Recht auf den gesetzlichen Richter (unbedenkliche Zurückverweisung der Sache an ein anderes Gericht durch das Revisionsgericht); Anspruch auf rechtliches Gehör (Verletzung; Verfahren nach § 356a StPO); Nichtannahmebeschluss.

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 354 Abs. 2 StPO

Hat das Bundesverfassungsgericht zu einer vom Beschwerdeführer aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Problematik bereits Stellung genommen, gehört die substantiierte Auseinandersetzung mit den Gründen der ergangenen bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung zum notwendigen Inhalt der Beschwerdebegründung (vgl. BVerfGE 102, 147, 164). Nicht ausreichend ist die bloße Behauptung, der Entscheidungsinhalt sei durch neuere Judikate möglicherweise überholt.


Entscheidung

305. BVerfG 2 BvR 2224/05 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 23. Februar 2006 (OLG München)

Anforderungen an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde (Vorlage bzw. inhaltliche Wiedergabe angegriffener fachgerichtlicher Entscheidungen; weitere Unterlagen).

§ 23 BVerfGG; § 92 BVerfGG

Zur erforderlichen Begründung einer Verfassungsbeschwerde gegen fachgerichtliche Entscheidungen gehört, dass - innerhalb der Beschwerdefrist - die angegriffenen Entscheidungen vorgelegt oder in der Beschwerdeschrift derart wiedergegeben werden, dass dem Bundesverfassungsgericht eine zumindest vorläufige Beurteilung ihrer Verfassungsmäßigkeit anhand des Beschwerdevorbringens ermöglicht wird (vgl. BVerfGE 88, 40, 45; 93, 266, 288). Vorgelegt oder inhaltlich wiedergegeben werden müssen auch andere Unterlagen aus dem fachgerichtlichen Verfahren, soweit ohne ihre Kenntnis eine Einschätzung, ob die Verfassungsbeschwerde Erfolg haben kann, nicht möglich ist


Entscheidung

292. BVerfG 2 BvR 168/06 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 16. Februar 2006 (OLG Braunschweig/LG Braunschweig)

Subsidiarität einer Verfassungsbeschwerde (Erfordernis verfassungsrechtlichen Vortrages zur Normauslegung bereits im fachgerichtlichen Verfahren; Bestimmtheitsgebot); Rechtsstaatsprinzip (faires Verfahren; Begründung eines Urteils; Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe); Nötigung (Lichthupe, Auffahren; Sozialwidrigkeit der Tathandlung).

Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 240 StGB

1. Zwar ist es mit Blick auf den Grundsatz der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich nicht erforderlich, das fachgerichtliche Verfahren auch als "Verfassungsprozess" zu führen, weshalb der Beschwerdeführer grundsätzlich nicht von Beginn des fachgerichtlichen Verfahrens an verfassungsrechtliche Argumente vorzutragen braucht; etwas anderes gilt aber, wenn, eine bestimmte Normauslegung angestrebt wird, die ohne verfassungsrechtliche Erwägungen nicht begründbar ist (vgl. BVerfGE 112, 50, 61 f.).

2. Zu einem Fall der strafrechtlichen Nötigung durch dichtes Auffahren und Lichthupe.


Entscheidung

286. BVerfG 1 BvR 2602/05 (1. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 24. Januar 2006 (LG Frankfurt am Main/AG Frankfurt am Main)

Allgemeines Persönlichkeitsrecht; Mitteilung zwischen Privaten über eine wegen Fristablaufs getilgte Verurteilung wegen einer Sexualstraftat (Abwägung von Rechtspositionen; überwiegendes Informationsinteresse; keine konkrete Gefährdung von anderen Rechtsgütern und Interessen; beschränkte Weiterleitung der Informationen); Nichtannahmebeschluss.

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 8 EMRK; § 51 BZRG; § 190 Abs. 1 StGB

1. Die Anwendung des einfachen Rechts durch die Fachgerichte wird vom Bundesverfassungsgericht allein darauf überprüft, ob die Gerichte die Bedeutung und Tragweite der von ihrer Entscheidung berührten Grundrechte unrichtig oder unvollkommen bestimmt oder ihr Gewicht unzutreffend eingeschätzt haben (vgl. BVerfGE 18, 85, 93; 101, 361, 388; stRspr). Dass die Abwägung von Rechtspositionen in komplexen Kollisionsfällen auch anders ausfallen könnte, ist dabei kein hinreichender Anlass für die verfassungsgerichtliche Korrektur der Entscheidung der Fachgerichte.

2. Es beruht nicht auf einer Verkennung der Belange des Persönlichkeitsschutzes, wenn ein Gericht - verfassungsrechtlich bedenkenfrei - der Auffassung folgt, der Äußernde dürfe bei Überwiegen seines Informationsinteresses über die Belange des Persönlichkeitsschutzes auch eine getilgte Verurteilung des Betroffenen offen legen und sei für diesen Fall gemäß § 190 Satz 1 StGB befugt, sich zum Beweis der Wahrheit auf ein ihm bekannt gewordenes Strafurteil zu beziehen, ohne dass dem das Verwertungsverbot des § 51 BZRG entgegen stünde.

3. Verfassungsrechtlich ist es nicht gefordert, die Offenlegung einer getilgten Vorstrafe nur dort als zulässig anzusehen, wo eine konkrete Gefährdung anderer Rechtsgüter oder öffentlicher Interessen droht (vgl. BVerfG NJW 1993, 1463, 1464).


Entscheidung

293. BVerfG 2 BvR 173/06 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 23. Februar 2006 (BGH/LG Aachen)

Schutz von Ehe und Familie (Begrenzung nachteiliger Auswirkungen der Freiheitsentziehung); Strafzumessung (Eltern von minderjährigen Kindern; besondere Haftempfindlichkeit; keine Strafaussetzung zur Bewährung; Willkürverbot; Einheit der Urteilsgründe); Nichtannahmebeschluss.

Art. 6 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; § 46 StGB; § 56 StGB; § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO

1. Die Strafzumessung ist Sache der Tatgerichte und der Prüfung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich entzogen. Erst wenn Fehler der Tatgerichte sichtbar werden, die auf eine grundlegende Verkennung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken hindeuten oder sich die Strafzumessung so sehr davon entfernt, gerechter Schuldausgleich zu sein, und sich damit als objektiv willkürlich erweist, ist ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts geboten (vgl. BVerfGE 18, 85, 92 ff.; 54, 100, 108, 111).

2. Aus der verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates, für die Erhaltung von Ehe und Familie zu sorgen, folgt die Aufgabe nachteiligen Auswirkungen des Freiheitsentzuges für Ehe und Familie im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren, aber auch unter angemessener Beachtung der Belange der Allgemeinheit zu begrenzen (vgl. BVerfGE 42, 95, 101).

3. Es verstößt nicht gegen das Willkürverbot, wenn nach Auffassung des verurteilenden Gerichtes, das Bestreben, den angeklagten Eltern minderjähriger Kinder eine Strafaussetzung zur Bewährung zu bewilligen, nicht dazu führen darf, dass die schuldangemessene Strafe unterschritten wird.


Entscheidung

282. BVerfG 2 BvR 170/06 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 16. März 2006

Untersuchungshaft (Verhältnismäßigkeit); Beschleunigungsgebot (Haftsache); Verfahren innerhalb abgemessener Frist; Verzögerungen im nichtrichterlichen Bereich; Grundrechtsschutz durch Verfahren (Begründungsanforderungen an Haftfortdauerentscheidungen; Abwägungsausfall; Abwägungsdefizit; Abwägungsdisproportionalität); redaktioneller Hinweis.

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 104 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 112 StPO; § 117 StPO; Art. 6 Abs. 1 EMRK; Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK

1. Der verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen umfasst das gesamte Verfahren. Er verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert.

2. Der weitere Vollzug von Untersuchungshaft verstößt gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, wenn die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte nicht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen haben, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen. Denn die Untersuchungshaft kann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, um ein geordnetes Strafverfahrens durchzuführen und eine eventuelle spätere Strafvollstreckung sicherzustellen, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist.

3. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch

objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an. Diese kann etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein.

4. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft sind höhere Anforderungen an das Vorliegen eines die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigenden Grundes zu stellen. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat kann die Fortdauer der Untersuchungshaft zwar trotz kleinerer Verfahrensverzögerungen gerechtfertigt sein. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermag aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen.

5. Auf Grund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 3 i.V.m. Art. 104 GG) muss das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde so ausgestaltet sein, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition besteht. In der Regel sind daher in jedem Beschluss über die Fortdauer der Untersuchungshaft Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht und dem Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten. In diesem Zusammenhang hat sich das Gericht auch zur voraussichtlichen Gesamtdauer des Verfahrens, zu der für den Fall einer Verurteilung konkret im Raume stehenden Straferwartung und - unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des Strafrestes gemäß § 57 StGB - zum hypothetischen Ende einer möglicherweise zu verhängenden Freiheitsstrafe zu verhalten.

6. Liegt bei der getroffenen Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft ein Abwägungsausfall vor, so hat dies regelmäßig eine Verletzung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) zur Folge. Gleiches gilt für den Fall eines für das Abwägungsergebnis erheblichen Abwägungsdefizits - es wird nicht eingestellt, was nach Lage der Dinge eingestellt werden muss - oder einer Abwägungsdisproportionalität (Fehlgewichtung einzelner oder mehrerer Belange).

7. Die Organisation des Schreibdienstes, der Geschäftsstellen und des Aktentransports hat ebenfalls dem Beschleunigungsgebot Rechnung zu tragen. Es kann nicht hingenommen werden, dass die von Verfassungs wegen gebotene zügige richterliche Bearbeitung durch eine unzureichende Arbeitserledigung im nichtrichterlichen Bereich konterkariert wird.


Entscheidung

295. BVerfG 2 BvR 413/06 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 27. Februar 2006 (OLG Hamm/LG Bochum)

Allgemeine Handlungsfreiheit; Rechtsstaatsprinzip; Recht auf effektive Verteidigung (kein bindender Anspruch auf Beiordnung anderer Personen i.S.d. § 138 Abs. 2 StPO als Rechtsbeistand; pflichtgemäßes Ermessen; Pflicht zur Sachlichkeit); Nichtannahmebeschluss.

Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 5 GG; Art. 6 EMRK; Art. 10 EMRK; § 138 Abs. 2 StPO; § 43 a BRAO

1. Das Recht des Beschuldigten, sich im Strafverfahren von einem Anwalt seiner Wahl und seines Vertrauens verteidigen zu lassen, ist durch Artikel 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes verfassungsrechtlich verbürgt (vgl. BVerfGE 110, 226, 253 m.w.N.).

2. Der Beschuldigte hat jedoch keinen bindenden Anspruch auf Beiordnung eines von ihm bezeichneten Rechtsbeistands (vgl. BVerfGE 9, 36, 38; 39, 238, 243). Dies gilt auch für den Wunsch des Beschuldigten, von einer Person, die nicht zugelassener Rechtsanwalt oder Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule mit Befähigung zum Richteramt ist, verteidigt zu werden.

3. Es ist nicht ermessensfehlerhaft, wenn das Gericht bei seiner Entscheidung über die Zulassung anderer Personen i.S.d. § 138 Abs. 2 StPO als Maßstab die Sachlichkeitspflicht des § 43 a BRAO heranzieht.


Entscheidung

298. BVerfG 2 BvR 1761/05 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 19. Januar 2006 (OLG Braunschweig/LG Göttingen)

Freiheit der Person; Sicherungsverwahrung (keine zwingend externe Begutachtung; Verhältnismäßigkeit; zulässige Berücksichtigung strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen des Untergebrachten durch die Strafvollstreckungskammer); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Rügevortrag; keine Übermittlung der Ausgangsverurteilung); Nichtannahmebeschluss.

Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 463 Abs. 3 Satz 4 StPO; § 67 d Abs. 3 StGB

Zwar mag das Gericht bei der Vorbereitung einer Entscheidung über die Fortdauer einer Unterbringung regelmäßig angehalten sein, einen externen Sachverständigen zu beauftragen, um der Beeinflussung des Gutachtens durch anstaltsinterne Belange, die Beziehung zwischen Therapeuten und Untergebrachtem oder Routinebeurteilungen vorzubeugen (vgl. BVerfGE 109, 133, 164). Indes liegt im Unterlassen einer externen Begutachtung jedenfalls dann kein Verfassungsverstoß, wenn aus den Umständen des konkreten Falles nicht ersichtlich ist, dass die genannten Gefahren bestehen.


Entscheidung

285. BVerfG 1 BvR 187/06 (1. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 8. Februar 2006 (OLG Celle/LG Verden/AG Verden)

Volksverhetzung (Leugnung des Holocaust; "Fall Zündel"); Missbrauchsgebühr (Rechtsanwalt; fehlende sachliche Befassung mit der angegriffenen Entscheidung; Ausbreitung von Verschwörungstheorien in der Antrags-

schrift; Sachlichkeitsgebot); Nichtannahmebeschluss.

Art. 5 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK; § 130 Abs. 3 StGB; § 130 Abs. 4 StGB; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 34 Abs. 2 BVerfGG; § 43 a Abs. 3 BRAO.

Es stellt einen Missbrauch der Verfassungsbeschwerde dar, wenn deren Begründung jegliche Sachlichkeit und Ernsthaftigkeit vermissen lässt und zeigt, dass es dem Beschwerdeführer weniger darum geht, einen vermeintlichen Grundrechtsverstoß zu rügen, als darum, sachfremde Zwecke zu verfolgen.