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HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 299

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1765/05, Beschluss v. 03.02.2006, HRRS 2006 Nr. 299


BVerfG 2 BvR 1765/05 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 3. Februar 2006 (BGH/LG Kassel)

Recht auf den gesetzlichen Richter (Auslegung einer Norm; willkürliche Entscheidung; Verletzung durch eigene Sachaufklärung durch ein an Feststellungen gebundenes Revisionsgericht); Bestätigung der Rechtsprechung des BGH zur größtmöglichen Aufrechterhaltung der von den Gesetzesverletzungen nicht berührten Feststellungen; Nichtannahmebeschluss.

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 EMRK; § 353 Abs. 2 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Grundsätzlich ist es denkbar, dass ein Angeklagter seinem gesetzlichen Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG dadurch entzogen wird, dass ein an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz gebundenes Revisionsgericht den Sachverhalt selbst erforscht oder eine nach dem Stand des Verfahrens gebotene Zurückverweisung an das Tatsachengericht zwecks weiterer Sachaufklärung unterlässt (vgl. BVerfGE 31, 145, 165; BVerfGK 2, 207, 209). Dabei verstößt eine Entscheidung eines Gerichts nur dann gegen das Gebot des gesetzlichen Richters, wenn sie von willkürlichen Erwägungen bestimmt ist.

2. Die Auslegung der Vorschrift des § 353 Abs. 2 StPO durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Sinne eines Grundsatzes größtmöglicher Aufrechterhaltung der von den Gesetzesverletzungen nicht berührten Feststellungen (vgl. BGHSt 14, 30, 35 ff.; 33, 378, 382) unterliegt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Unter den Gesichtspunkten der Verfahrensökonomie und Verfahrensbeschleunigung, denen gerade im Strafprozess eine wichtige Bedeutung zukommt, ist eine solche Auslegung nicht willkürlich. Eigene Würdigungen des neuen Tatgerichts zu den Feststellungen sind jedoch in Betracht zu ziehen, wenn die aufrechterhaltenen Feststellungen zu möglicherweise andersartigen Erkenntnissen im neuen Verfahren in Widerspruch treten können.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts wird abgelehnt.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

1. Eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt nicht vor.

a) Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet dem Einzelnen das Recht auf den gesetzlichen Richter. Ziel der Verfassungsgarantie ist es, der Gefahr einer möglichen Einflussnahme auf den Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung vorzubeugen, die durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter eröffnet sein könnte. Darüber hinaus enthält Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch eine materielle Gewährleistung. Die Verfassungsnorm garantiert, dass der Rechtssuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (vgl. BVerfGE 82, 286 <298>; 89, 28 <36> m.w.N.).

b) Grundsätzlich ist es denkbar, dass ein Angeklagter seinem gesetzlichen Richter dadurch entzogen wird, dass ein an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz gebundenes Revisionsgericht den Sachverhalt selbst erforscht oder eine nach dem Stand des Verfahrens gebotene Zurückverweisung an das Tatsachengericht zwecks weiterer Sachaufklärung unterlässt (vgl. BVerfGE 31, 145 <165>; 54, 100 <115> ; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Mai 1991 - 2 BvR 1380/90 -, NJW 1991, S. 2893; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 2000 - 2 BvR 2049/99 -, juris; BVerfGK 2, 207 <209>). Dabei verstößt eine Entscheidung eines Gerichts nur dann gegen das Gebot des gesetzlichen Richters, wenn sie von willkürlichen Erwägungen bestimmt ist. Dies ist der Fall, wenn die Entscheidung des Gerichts sich bei der Auslegung und Anwendung der Norm so weit von dem sie beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass sie nicht mehr zu rechtfertigen ist (vgl. BVerfGE 3, 359 <364>; 29, 45 <48 f.> m.w.N.).

2. Nach diesem Prüfungsmaßstab verletzen die angegriffenen Entscheidungen das Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter nicht.

a) Die Auslegung der Vorschrift des § 353 Abs. 2 StPO durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Sinne eines Grundsatzes größtmöglicher Aufrechterhaltung der von den Gesetzesverletzungen nicht berührten Feststellungen (vgl. BGHSt 14, 30 <35 ff.>; 33, 378 <382>; Meyer-Goßner, 48. Aufl., § 353 Rn. 15) unterliegt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Unter den Gesichtspunkten der Verfahrensökonomie und Verfahrensbeschleunigung, denen gerade im Strafprozess eine wichtige Bedeutung zukommt, ist eine solche Auslegung nicht willkürlich.

b) Anhaltspunkte für eine willkürliche Anwendung des § 353 Abs. 2 StPO durch das Revisionsgericht sind hier nicht ersichtlich. Das Landgericht hatte die ihm vorliegenden Erkenntnisse zu den äußeren Umständen der Tötung der Ehefrau des Beschwerdeführers - insbesondere in Form aufwändiger schusstechnischer Gutachten - umfassend und eingehend gewürdigt. Es ist kein Grund ersichtlich, warum diese rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen durch das Revisionsgericht nicht aufrecht erhalten bleiben können, sondern vielmehr eine eigene Würdigung durch das neue Tatgericht erforderlich sein sollte. Zwar sind eigene Würdigungen des neuen Tatgerichts in Betracht zu ziehen, wenn die aufrechterhaltenen Feststellungen zu möglicherweise andersartigen Erkenntnissen im neuen Verfahren in Widerspruch treten können (vgl. Meyer-Goßner, § 353 Rn. 12; Kuckein, in: Karlsruher Kommentar, 5. Aufl., § 353 Rn. 30, 32; Wohlers, in: Systematischer Kommentar zur StPO, Stand: September 2003, § 353 Rn. 17; Hanack, in: Löwe-Rosenberg, 25. Aufl., § 353 Rn. 18 a); solche anderweitigen Erkenntnisse sind hier aber nicht ersichtlich und werden vom Beschwerdeführer auch nicht dargelegt.

Das Tatgeschehen gliederte sich in zwei zeitlich wie räumlich abgrenzbare Sachverhaltskomplexe. Das erste Geschehen, die Tötung des vermeintlichen Liebhabers, fand zu einem früheren Zeitpunkt und in einem anderen Raum statt als die anschließende Tat gegen die Ehefrau des Beschwerdeführers. Insbesondere hinsichtlich der schusstechnischen Gutachten war eine Beeinflussung der Beweisführung bei der ersten Tat durch die Beweisergebnisse zur zweiten Tat ausgeschlossen. Es bestanden für das Revisionsgericht auch sonst keine Anhaltspunkte dafür, dass die äußeren Umstände zur Tötung der Ehefrau des Beschwerdeführers vom neuen Tatgericht aufgrund anderweitiger Erkenntnisse anders beurteilt werden könnten. Eigenen Feststellungen des neuen Tatgerichts zur Tötung des angeblichen Liebhabers der Ehefrau des Beschwerdeführers standen die aufrechterhaltenen Feststellungen nicht entgegen. Also durfte das neue Tatgericht die in Rechtskraft erwachsenen Feststellungen als Indizien heranziehen, die nach seiner - willkürfreien - Ansicht geeignet waren, die auf der Behauptung eines Suizids seiner Ehefrau fußende Einlassung des Beschwerdeführers zu entkräften.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 299

Bearbeiter: Stephan Schlegel