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HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 287

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2/06, Beschluss v. 05.01.2006, HRRS 2006 Nr. 287


BVerfG 2 BvR 2/06 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. Januar 2006 (LG Hannover)

Grundrecht der Freien Berufsausübung (sitzungspolizeiliche Anordnung gegen einen Verteidiger; Durchsuchung; Organ der Rechtspflege; vernünftigen Erwägungen des Allgemeinwohls); Zumutbarkeit (Gefahr des Einsatzes der Person des Verteidigers als Werkzeug oder Drohmittel für Befreiungsaktionen; Übergabe von Gegenständen an den Angeklagten; polizeiliche Erkenntnisse); Umfang (Schuhe; Wirksamkeit; kein notwendiger Einsatz eines Detektionsrahmens); Begründung der Anordnung (sachlicher Grund; hinreichende Deutlichkeit; Umfang der Maßnahmen); zulässige Ungleichbehandlung gegenüber dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft (nicht gleichartiger Zugang zum Angeklagten); Nichtannahmebeschluss.

Art. 12 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK; § 176 GVG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass gestützt auf die Vorschrift des § 176 GVG grundsätzlich auch die Anordnung der Durchsuchung von Personen und der von ihnen mitgeführten Gegenstände auch in Gestalt von Einlasskontrollen in den dem Sitzungssaal vorgelagerten Räumlichkeiten gestützt wird und dass sich solche Maßnahmen auch auf die Verteidiger erstrecken (vgl. BVerfGE 48, 118, 123).

2. Der Strafverteidiger genießt kraft seiner Stellung als Organ der Rechtspflege bis zum Beweis des Gegenteils einen staatlichen Vertrauensvorschuss. Es bedarf daher grundsätzlich der Darlegung eines die Anordnung rechtfertigenden sachlichen Grundes.

3. Die Verfügung muss selbst nach ihrem Wortlaut und durch hinreichende Bestimmtheit in der Fassung sicherstellen, dass der Umfang der Durchsuchung im Einzelfall dem Maß der angenommenen Gefahr entspricht und die Überprüfung den betroffenen Verteidiger jedenfalls nur insoweit belastet, als dies unumgänglich erscheint (vgl. BVerfG NJW 1998, 296, 298).

4. Die Durchsuchung kann auch auf die Schuhe des Verteidigers erstreckt werden, wenn ein weniger einschneidendes, gleich geeignetes Mittel nicht ersichtlich ist.

5. Der Schutz der Freiheit der Berufsausübung beschränkt sich auf die Abwehr übermäßiger und unzumutbarer Belastungen (vgl. BVerfGE 7, 377, 405; 30, 1, 32 f.).

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 ff.>); sie ist unbegründet.

1. Die angegriffene sitzungspolizeiliche Anordnung und der sie bestätigende Beschluss verstoßen nicht gegen das Grundrecht der freien Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG).

a) Gesetzliche Grundlage der Anordnung ist § 176 GVG. Danach obliegt dem Gerichtsvorsitzenden die Aufrechterhaltung der Ordnung in den Sitzungen. Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass auf diese Vorschrift grundsätzlich auch die Anordnung der Durchsuchung von Personen und der von ihnen mitgeführten Gegenstände auch in Gestalt von Einlasskontrollen in den dem Sitzungssaal vorgelagerten Räumlichkeiten gestützt wird und dass sich die sitzungspolizeilichen Befugnisse auch auf die Verteidiger erstrecken (vgl. BVerfGE 48, 118 <123> ; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. September 1997 - 2 BvR 1676/97 -, NJW 1998, S. 296 <297>). Der Schutz der Freiheit der Berufsausübung beschränkt sich auf die Abwehr übermäßiger und unzumutbarer Belastungen (vgl. BVerfGE 7, 377 <405>; 30, 1 <32 f.>).

b) Die angegriffene Anordnung beruht im Kern auf der Erwägung, der Beschwerdeführer könnte durch Zwang oder Drohung als Werkzeug für Befreiungsaktionen der Angeklagten eingesetzt werden. Deshalb sei es erforderlich, ihn in den Kreis der Personen aufzunehmen, die zu durchsuchen seien. Das Bundesverfassungsgericht kann diese Annahmen als Auslegung und Anwendung des so genannten einfachen Rechts (§ 176 GVG) im Verfassungsbeschwerdeverfahren lediglich daraufhin überprüfen, ob sie von willkürlichen Erwägungen getragen sind (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 18, 315 <343>; 19, 290 <303>; stRspr). Das ist hier nicht der Fall.

aa) Der Beschwerdeführer hebt mit Recht hervor, es könnte zweifelhaft sein, ob eine sitzungspolizeiliche Anordnung, ihn vor Betreten des Gerichtssaals zu durchsuchen, vor dem Hintergrund des Schutzzwecks von Art. 12 Abs. 1 GG Bestand hätte, wenn eine solche Verfügung ausschließlich auf ein nicht durch konkrete Anhaltspunkte gegründetes Misstrauen ihm gegenüber gestützt würde. Der Strafverteidiger genießt kraft seiner Stellung als Organ der Rechtspflege bis zum Beweis des Gegenteils einen staatlichen Vertrauensvorschuss. Es bedarf daher grundsätzlich der Darlegung eines die Anordnung rechtfertigenden sachlichen Grundes. Zwar hat der Vorsitzende in seiner Sicherungsverfügung vom 24. November 2005 zum Grund der Anordnung gegenüber dem Beschwerdeführer nichts ausgeführt; ebenso findet sich in dem Vermerk des Vorsitzenden vom 25. November 2005 nur die Begründung, die Anordnung erfolge, weil die Verteidiger jederzeit während der Hauptverhandlung Gelegenheit hätten, Kontakt zu den Angeklagten aufzunehmen, bei Besprechungen auch unbeobachteten Kontakt. Wenn jedoch in dem Schreiben des Vorsitzenden an den Beschwerdeführer vom 28. November 2005 und schließlich in dem die Anordnung bestätigenden Kammerbeschluss ausgeführt wird, es sei denkbar, dass die Verteidiger, von Dritten unter Druck gesetzt, den Angeklagten Gegenstände überlassen könnten, liegt dem erkennbar die Intention zu Grunde, die Integrität des Beschwerdeführers zu schützen. Anhaltspunkte dafür, dass der Vorsitzende bei seiner Anordnung hieran gezweifelt haben könnte, sind nicht ersichtlich.

bb) Dem Vorsitzenden lagen auch ernst zu nehmende polizeiliche Erkenntnisse vor, die einen Anschlag auf das Leben eines der Angeklagten oder einen Befreiungsversuch zumindest nicht als ausgeschlossen erscheinen lassen. Dabei kann dahinstehen, ob der von der Polizei mitgeteilte Sachverhalt zutrifft, der Beschwerdeführer werde von einer Prostituierten gezwungen, er solle seinen Mandanten befreien.

Jedenfalls konnte die Polizei nicht ausschließen, dass aus der gewaltbereiten Gruppierung, der auch der Mandant des Beschwerdeführers angehört, Einfluss auf den Prozessverlauf genommen wird. Sie ist deshalb von sich aus an die Strafkammer mit entsprechenden Hinweisen herangetreten, was das Landgericht zu einer Pressemitteilung veranlasst hat, in der die Sicherheitsfrage offen angesprochen wurde. In seiner sitzungspolizeilichen Anordnung vom 24. November 2005, bei der es sich lediglich um die Aktualisierung eines Formblatts zu handeln scheint, hat der Vorsitzende hierauf zwar keinen ausdrücklichen Bezug genommen. Das Schreiben des Vorsitzenden an den Beschwerdeführer vom 28. November 2005 enthält jedoch einen Hinweis auf eine Rücksprache mit der Polizei.

cc) Der Sicherungsanordnung und dem sie bestätigenden Kammerbeschluss ist zudem noch mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass die gegenüber dem Beschwerdeführer angeordneten Sicherungsmaßnahmen in erster Linie dem Schutz seiner Integrität dienen und der Anschein vermieden werden sollte, die Verteidiger, die sich während der Hauptverhandlung in ständiger und unmittelbarer Nähe der Angeklagten befinden müssen, könnten als geeignete Helfer etwa für das "Einschmuggeln" gefährlicher Gegenstände in Betracht kommen. Die Annahme des Vorsitzenden, gerade diesen Zweck nur durch Anordnung der Durchsuchung auch der Verteidiger wirksam erreichen zu können, überschreitet von Verfassungs wegen nicht das ihm durch § 176 GVG eingeräumte pflichtgemäße Ermessen. Sind bei Eingriffen in die Berufsausübungsfreiheit eines Strafverteidigers auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten grundsätzlich Vorsicht und Zurückhaltung geboten, stellen die Erwägungen in den angegriffenen Anordnungen im vorliegenden Fall jedenfalls keine pauschale Diskriminierung des Beschwerdeführers dar.

dd) Die aus den Anordnungen folgenden Beschränkungen der anwaltlichen Berufsausübung sind auch von vernünftigen Erwägungen des Allgemeinwohls gedeckt. Sie begegnen unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die angeordneten Eingriffe stehen nicht außer Verhältnis zu dem gegebenen Anlass und belasten die betroffenen Verteidiger nicht unzumutbar.

(1) Die Durchsuchung des Beschwerdeführers, die sich auch auf die Schuhe erstreckt, ist ersichtlich geeignet und erforderlich. Ein weniger einschneidendes Mittel, das geeignet wäre, den mit der Durchsuchung angestrebten Erfolg ebenso wirksam sicherzustellen, ist nicht ersichtlich. Auch der vom Beschwerdeführer geforderte Einsatz des Detektionsrahmens kann nicht als gleich wirksam gegenüber der Abtastung der Kleidung und der Durchsuchung der Schuhe angesehen werden, denn hierdurch können - anders als bei einer gegenüber Menschen indes untunlichen Durchleuchtung - nur Metall-, nicht aber Glas- und Keramikgegenstände erkannt werden, die ebenfalls ein erhebliches Gefahrenpotential bergen können.

(2) Auch im Blick auf seine Stellung als Organ der Rechtspflege sind die mit den Durchsuchungen verbundenen Beschränkungen der anwaltlichen Berufsausübung zumutbar.

Zwar genügt es nicht, wenn eine Verfügung die Durchsuchung der Verteidiger nur generell anordnet, die Bestimmung des Umfangs der Zwangsmaßnahmen aber den für die Durchsuchung zuständigen Bediensteten überlässt. Vielmehr muss die Verfügung selbst nach ihrem Wortlaut und durch hinreichende Bestimmtheit in der Fassung sicherstellen, dass der Umfang der Durchsuchung im Einzelfall dem Maß der angenommenen Gefahr entspricht und die Überprüfung den betroffenen Verteidiger jedenfalls nur insoweit belastet, als dies unumgänglich erscheint (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. September 1997 - 2 BvR 1676/97 -, NJW 1998, S. 296 <298>).

Diesen Anforderungen ist hier genügt. Die Abtastung und Durchsuchung waren generell für alle nicht der Justiz angehörigen Personen im Sitzungssaal festgelegt, so dass dem sie durchführenden Justizbeamten die Durchsuchungsmethode vorgegeben war, die er gleichmäßig auf alle Personen anzuwenden hatte und - nach der dem Beschwerdeführer gegebenen Auskunft - auch auf alle Personen angewendet hat. Auch dass die Justizbeamten von der Metallsonde keinen Gebrauch gemacht haben, stellt keine Belastung dar, die nicht durch die Sicherungsanordnung gedeckt wäre.

Vor allem ergibt sich aus dem Zusammenhang der Anordnung, dass der Vorsitzende es für denkbar hielt, dass der Beschwerdeführer, etwa von Dritten unter Druck gesetzt, den Angeklagten anlässlich der Hauptverhandlung Gegenstände überlassen könnte. Angesichts dieser Einschätzung ist die sich auch auf die Schuhe des Beschwerdeführers erstreckende Durchsuchung zumutbar.

2. Eine gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende Ungleichbehandlung des Beschwerdeführers mit dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft ist nicht ersichtlich. Der Beschwerdeführer hat bereits nicht vorgetragen, dass der Staatsanwalt in dem von der Kammer benutzen Sicherheitssaal des Oberlandesgerichts in gleichem Maße Zugang zu den Angeklagten hat wie der Beschwerdeführer.

3. Da die Durchsuchung des Beschwerdeführers ihre gesetzliche Grundlage in § 176 GVG findet und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen wird, verletzen die angegriffenen Anordnungen den Beschwerdeführer auch nicht in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG.

4. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 287

Externe Fundstellen: NJW 2006, 1500

Bearbeiter: Stephan Schlegel