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HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 303

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2085/05, Beschluss v. 16.02.2006, HRRS 2006 Nr. 303


BVerfG 2 BvR 2085/05 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 16. Februar 2006 (BGH)

Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Vortrag zur Verfassungswidrigkeit einer Norm bereits im fachgerichtlichen Verfahren; Bestimmtheitsgebot; Mord; Heimtücke); faires Verfahren (zulässige Verwertung früherer Aussagen; Vernehmungsfähigkeit; amtsärztliche Untersuchung; unterlassene Pflichtverteidigerbeiordnung bei ausreichender Belehrung über Verteidigerkonsultation); redaktioneller Hinweis.

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 140 Abs. 1 StPO; § 141 Abs. 3 StPO; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 211 Abs. 2 2. Gruppe StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Zwar braucht ein Beschwerdeführer bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht darzulegen, dass er von Beginn des fachgerichtlichen Verfahrens an verfassungsrechtliche Erwägungen vorgetragen habe, weil das fachgerichtliche Verfahren nicht bereits als "Verfassungsprozess" zu führen ist; etwas anderes gilt aber in den Fällen, in denen der Ausgang des Verfahrens von der Verfassungswidrigkeit einer Norm abhängt oder eine bestimmte Normauslegung angestrebt wird, die ohne verfassungsrechtliche Erwägungen nicht begründbar ist (vgl. BVerfGE 112, 50, 61 f.).

2. Aus dem Prozessgrundrecht auf eine faires, rechtsstaatliches Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), ergeben sich Mindesterfordernisse für eine Verfahrensregelung, die eine zuverlässige und rechtsstaatliche Wahrheitsforschung im prozessualen Hauptverfahren sicherstellen. Erst wenn rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind, können aus dem Prinzip konkrete Folgerungen für die Verfahrensgestaltung gezogen werden (vgl. BVerfGE 57, 250, 276; 86, 288, 317 f.).

3. Es besteht kein Rechtssatz des Inhalts, dass im Fall einer rechtsfehlerhaften Beweiserhebung die Verwertung der gewonnenen Beweise stets unzulässig ist (vgl. BVerfG NJW 2000, 3557; BVerfG NStZ 2006, 46, 47).

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG liegt nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg.

I.

Soweit der Beschwerdeführer die Verletzung des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG beanstandet, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Der Beschwerdeführer hat insoweit den Grundsatz der materiellen Subsidiarität nicht beachtet, weil er seine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die hinreichende Bestimmtheit des Mordmerkmals der Heimtücke nicht bereits im fachgerichtlichen Verfahren vorgetragen hatte. Zwar braucht ein Beschwerdeführer bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht darzulegen, dass er von Beginn des fachgerichtlichen Verfahrens an verfassungsrechtliche Erwägungen vorgetragen habe, weil das fachgerichtliche Verfahren nicht bereits als "Verfassungsprozess" zu führen ist; etwas anderes gilt aber in den Fällen, in denen, wie hier, der Ausgang des Verfahrens von der Verfassungswidrigkeit einer Norm abhängt oder eine bestimmte Normauslegung angestrebt wird, die ohne verfassungsrechtliche Erwägungen nicht begründbar ist (vgl. BVerfGE 112, 50, 61 f.).

II.

Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet.

1. Die Verwertung der Angaben des Beschwerdeführers gegenüber dem Oberstaatsanwalt und Ermittlungsrichter begründet keinen Verstoß gegen sein Recht auf ein faires Verfahren.

a) Aus dem Prozessgrundrecht auf eine faires, rechtsstaatliches Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), dessen Wurzeln in der freiheitssichernden Funktion der Grundrechte liegen (vgl. BVerfGE 57, 250 <275>), ergeben sich Mindesterfordernisse für eine Verfahrensregelung, die eine zuverlässige und rechtsstaatliche Wahrheitsforschung im prozessualen Hauptverfahren sicherstellen. Erst wenn rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind, können aus dem Prinzip konkrete Folgerungen für die Verfahrensgestaltung gezogen werden (vgl. BVerfGE 57, 250 <276>; 70, 297 <309>; 86, 288 <317 f.>). Dabei besteht kein Rechtssatz des Inhalts, dass im Fall einer rechtsfehlerhaften Beweiserhebung die Verwertung der gewonnenen Beweise stets unzulässig sei (vgl. Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. April 2000 - 2 BvR 75/94 -, NJW 2000, S. 3557 und vom 30. Juni 2005 - 2 BvR 1502/04 -, NStZ 2006, S. 46 <47>).

b) Danach stand der Anspruch des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren der Verwertung seiner früheren Angaben nicht entgegen, weil hier schon keine fehlerhafte Beweiserhebung vorlag.

aa) Die Strafverfolgungsbehörden waren nicht wegen Vernehmungsunfähigkeit des Beschwerdeführers gehindert, diesen als Beschuldigten zu vernehmen, zumal seiner Vorführung vor dem Ermittlungsrichter eine amtsärztliche Untersuchung vorausgegangen war, aufgrund derer der Amtsarzt dem Beschwerdeführer eine Verhandlungs- und Vernehmungsfähigkeit sowohl für die wenige Stunden zuvor durchgeführte staatsanwaltschaftliche Vernehmung als auch für die anstehende richterliche Anhörung attestierte.

bb) Ein Verwertungsverbot ergibt sich auch nicht daraus, dass dem Beschwerdeführer zunächst kein Pflichtverteidiger beigeordnet worden war. Der vernehmende Staatsanwalt hatte den Beschwerdeführer umfassend über sein Schweigerecht und sein Recht auf jederzeitige Konsultation eines Anwalts belehrt und auch die Möglichkeit einer Pflichtverteidigerbestellung angesprochen. Ausweislich des Vernehmungsprotokolls hatte der Beschwerdeführer hierauf jedoch verzichtet und freiwillig das Tatgeschehen geschildert.

Ebenso war der Beschwerdeführer vor seiner richterlichen Vernehmung umfassend belehrt worden. Da der von ihm erwünschte Anwalt erklärt hatte, zwar die Verteidigung zu übernehmen, der richterlichen Vernehmung aber nicht beiwohnen zu wollen, hätte der Beschwerdeführer entweder einen anderen Verteidiger beauftragen oder von seinem Schweigerecht Gebrauch machen können. Bei dieser Sachlage war der Staat verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, dem Beschwerdeführer gegen dessen erklärten Willen einen anderen Verteidiger an die Seite zu stellen.

2. Soweit sich der Beschwerdeführer unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens gegen die Anwendung des Mordmerkmals der "Heimtücke" wendet, ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet.

Von Verfassungs wegen ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht neben der Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers auch das Vorliegen einer in feindlicher Willensrichtung ausgeführten Tathandlung bejaht hat. Den Ausnahmefall, dass ein Täter Familienangehörige mit sich in den Tod nehmen will, weil er in seiner Verblendung meint, zu deren Besten zu handeln, hat das Tatgericht mit einer tragfähigen Begründung ausgeschlossen.

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


[Redaktioneller Hinweis: Zum hier vom BVerfG kaum beachteten aber insbesondere bei Art. 6 I 1, III lit. c EMRK geltenden Grundsatz, dass die Auslegung von Menschenrechten konkret und wirksam zu erfolgen hat vgl. - auch zum dabei gebotenen "Schutz des Angeklagten vor seinem Verteidiger" - demnächst näher Gaede, Fairness als Teilhabe - Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK, Kap. B § 2 III 2, Kap. I § 4 (Diss. Univ. Zürich WS 2005/06; zur Publikation in den Strafrechtlichen Abhandlungen N.F. bei Duncker & Humblot in Vorbereitung).

HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 303

Bearbeiter: Stephan Schlegel