HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2004
5. Jahrgang
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II. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

526. BGH 5 StR 588/03 - Beschluss vom 4. Mai 2004 (LG Düsseldorf)

Absehen von Strafe infolge rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung (mittelbare Folgen der Tat; Würdigung sämtlicher strafzumessungsrelevanter Gesichtspunkte);

Recht auf Verfahrensbeschleunigung (Beschleunigungsgebot; Strafzumessungslösung: Kompensation unter Einbeziehung der besonderen gesundheitlichen Folgen für den Angeklagten; Einstellung in ganz besonderen Ausnahmefällen); Verjährung (keine Modifizierung der Voraussetzungen zur Sanktionierung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 46 StGB; § 60 StGB; § 78 StGB

1. Bei den im Interesse der Rechtssicherheit zwangsläufig starren Grenzen der Verjährungsregelungen kommt es nicht darauf an, inwieweit das Verfahren innerhalb der für die Prüfung der Verjährung erheblichen Abschnitte auch tatsächlich gefördert wurde. Im Rahmen der insoweit maßgeblichen Höchstfristen reicht es aus, wenn die notwendigen Unterbrechungshandlungen erfolgt sind und mithin der Eintritt der Verjährung wirksam immer wieder unterbrochen werden konnte.

2. Eklatanten Verzögerungen durch die Strafverfolgungsbehörden ist nicht dadurch Rechnung zu tragen, dass die gesetzlich festgelegten Verjährungsvoraussetzungen modifiziert werden müssten. Vielmehr ist nach den von der Rechtsprechung zur so genannten rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung entwickelten Grundsätzen ein Ausgleich auf der Ebene der Strafzumessung zu suchen; in ganz besonderen Ausnahmefällen kommt auch die Einstellung des Verfahrens aufgrund eines dann anzunehmenden Verfahrenshindernisses in Betracht (vgl. BVerfG NJW 2003, 2225 ff.; 2228 f. und 2897; EGMR EuGRZ 1983, 371 ff.).

3. Ob eine mit dem Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes und mit Art. 6 Abs. 1 MRK nicht in Einklang stehende Verfahrensverzögerung vorliegt, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls, die in einer umfassenden Gesamtwürdigung gegeneinander abgewogen werden müssen (vgl. BGHSt 46, 159, 169 ff.). Solche in die Gesamtwürdigung einzubeziehenden Gesichtspunkte sind etwa der durch die Justiz verursachte Zeitraum der Verfahrensverlängerung, die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrensgegenstands sowie das Ausmaß der mit der Dauer des schwebenden Verfahrens für den Betroffenen verbundenen besonderen Belastungen. (Bearbeiter)

4. Die mit der Dauer des Verfahrens verbundenen besonderen Belastungen des Beschuldigten sind ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt im Rahmen der kompensatorischen Strafzumessung (vgl. BVerfG NJW 2003, 2225, 2226). Neben der Verzögerung durch die Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden muss insbesondere ersichtlich verfahrensbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Rahmen der kompensatorischen Strafzumessung entscheidendes Gewicht beigemessen werden.

5. Mittelbare (hier erst durch die Strafverfolgung bewirkte) Folgen der Tat können die Anwendung des § 60 StGB begründen.

6. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 60 StGB dürfen sämtliche strafzumessungsrelevante Gesichtspunkte nochmals gewürdigt werden, das Doppelverwertungsverbot des § 50 StGB gilt insoweit nicht (vgl. BGHSt 27, 298, 299 f.). Auch die für die kompensatorische Strafzumessung maßgeblichen Gesichtspunkte können bei der Bestimmung der (hypothetischen) Strafe einbezogen werden.


Entscheidung

528. BGH 4 StR 576/03 - Urteil vom 8. April 2004 (LG Saarbrücken)

Strafschärfende Berücksichtigung von Angriffen auf die Glaubwürdigkeit eines Belastungszeugen (Verteidigungsrecht; Konfrontationsrecht; Fragerecht; Ehrenschutz; Meinungsfreiheit; Differenzierung im Einzelfall: Einfluss der konkreten Verfahrenssituation).

Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK; Art. 10 EMRK; Art. 5 GG; § 46 StGB; § 193 StGB

1. Das Prozessverhalten eines Angeklagten, mit dem er den Angaben eines Belastungszeugen entgegentritt, darf bei der Strafzumessung nicht ohne weiteres zu seinen Lasten berücksichtigt werden (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verteidigungsverhalten 4). Dies macht entsprechende klarstellende Ausführungen des Tatgerichts erforderlich.

2. Nach ständiger Rechtsprechung darf ein Angeklagter im Rahmen seiner Verteidigung einen Belastungszeugen als unglaubwürdig hinstellen, ohne für den Fall des Misserfolgs schon deshalb eine schärfere Bestrafung befürchten zu müssen. Jedoch kann im Einzelfall ein Angriff des Angeklagten auf die Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen strafschärfendes Gewicht erlangen, wenn er die Grenze angemessener Verteidigung eindeutig überschreitet und sein Vorbringen eine selbständige Rechtsgutsverletzung enthält. Hinweise auf eine besondere Rechtsfeindschaft oder Gefährlichkeit oder eine hiernach unzulässige Herabwürdigung des Zeugen können allein dem Umstand, dass der Angeklagte den Zeugen der Lüge bezichtigt hat, nicht ohne weiteres entnommen werden (vgl. BGH StV 1994, 424). Inwieweit solche Angriffe, die die Ehre eines Zeugen berühren, erlaubt sind, beurteilt sich nach § 193 StGB (vgl. BGHSt 14, 48, 51; BGH StV 1985, 146, 147).

3. Bei der Beurteilung der Grenzen zulässigen Verteidigungsverhaltens können die Umstände des Einzelfalles nicht außer Betracht bleiben. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, ob es angesichts der konkreten Verfahrenssituation (vgl. BVerfG NJW 1991, 29), aus der Sicht des Angeklagten erforderlich erscheinen kann, seiner bestreitenden Einlassung dadurch besondere Überzeugungskraft zu verleihen, dass er den Belastungszeugen der Lüge bezichtigte. Dass er sich dazu einer scharfen Ausdrucksweise bediente, rechtfertigt für sich regelmäßig noch keine andere Bewertung, wenn sich der Vorwurf gegen einen Zeugen auf die Aussage zur verfahrensgegenständlichen Tat bezieht und nicht etwa einen vom maßgeblichen "Streitstoff" losgelösten allgemeinen

Angriff auf die Ehre des Zeugen beinhaltet (vgl. BVerfG NJW 1991, 2074, 2076).


Entscheidung

494. BGH 3 StR 113/04 - Beschluss vom 22. April 2004 (LG Lübeck)

Strafzumessung (Anwendung des Doppelverwertungsverbotes auf Regelbeispiele).

§ 177 Abs. 2 StGB; 46 Abs. 3 StGB

Die gesetzlichen Merkmale von Regelbeispielen sind Tatbestandsmerkmalen soweit angenähert, dass sie als "Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes" im Sinne von § 46 Abs. 3 StGB anzusehen sind. Ihr Vorliegen darf daher im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne, also innerhalb des zutreffend gewählten Strafrahmens des Regelbeispiels, nicht nochmals strafschärfend berücksichtigt werden (Doppelverwertungsverbot).


Entscheidung

524. BGH 4 StR 518/03 - Beschluss vom 2. März 2004 (LG Dessau)

Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (Hang: beschränkte Bedeutung des Entzugssyndroms; Erörterungsmangel).

§ 64 StGB

Eine durch Entzugserscheinungen indizierte körperliche Abhängigkeit ist ebenso wenig wie eine zumindest verminderte Schuldfähigkeit gemäß § 21 StGB (BGH NStZ-RR 2001, 12) Voraussetzung für die Bejahung eines Hanges im Sinne des § 64 StGB.