HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2004
5. Jahrgang
PDF-Download

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

mit der Juni-Ausgabe der HRRS bieten wir Ihnen mit der Entscheidung Weh v. Österreich eine für die zukünftige Entwicklung des Art. 6 EMRK höchst bedeutende und lesenswerte Entscheidung. Der BGH hat unter anderem den Begriff des Straßenverkehrs bei Werksgeländen präzisiert und weitere beachtliche Entscheidungen zur Absprachenpraxis getroffen. Das BVerfG hat den erweiterten Verfall bestätigt.

Unsere Publikationssparte umfasst neben vier Rezensionen einen grundlegenden Aufsatz zur "Gegenwärtigkeit des Angriffs" i.S. des § 32 Abs. 2 StGB von Wiegand und Zabel (jeweils Leipzig). Wir wünschen Ihnen auch in diesem Monat ein ertragreiches Studium der HRRS und freuen uns auf die Anregungen, das Lob oder die Kritik unserer Leserinnen und Leser.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede Wiss. Ass.


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

459. EGMR Nr. 38544/97 - Urteil vom 8. April 2004 (Weh v. Österreich)

Recht auf ein faires Strafverfahren: Schweigerecht und Selbstbelastungsfreiheit (Ausmaß des erforderlichen Zwangs; Verletzungen durch Anwendung von Zwang in Strafverfahren oder durch Verwertung von außerhalb eines Strafverfahrens erzwungener Äußerungen; Verwertungsverbot; Offenbarungspflichten des Fahrzeughalters nach Straßenverkehrsrecht; deliktsunabhängige Geltung der Rechte; Sondervotum Lorenzen, Levits und Hajiyev; Beziehung zur Unschuldsvermutung; partielle Zulässigkeit nachteiliger Schlüsse beim Schweigen des Angeklagten); Begriff der strafrechtlichen Anklage (zeitlicher und gegenständlicher Anwendungsbereich des fairen Strafverfahrens).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EMRK; Art. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 136a StPO

1. Das Schweigerecht und das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, gehören zum Kernbereich des von Art. 6 EMRK garantierten fairen Strafverfahrens. Das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, dient in erster Linie dem Schutz des Willens eines Angeklagten, zur Anklage schweigen zu wollen.

2. Verletzungen liegen vor, wenn Zwang angewendet wird, um Informationen zu erlangen, welche die betroffene Person in laufenden oder zu erwartenden Strafverfahren bzw. hinsichtlich einer im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK angeklagten Straftat belasten können. Die Selbstbelastungsfreiheit untersagt nicht per se den Gebrauch von Zwangsmitteln gegen die betroffene Person zur Erlangung von Informationen außerhalb des Kontextes von Strafverfahren. Verletzungen können aber auch aus der Verwendung von belastenden Informationen in späteren Strafverfahren resultieren, die außerhalb eines strafverfahrensrechtlichen Kontextes unter Zwang erlangt worden sind.

3. Obschon eine Verletzung des Schweigerechts und des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, auch infolge der Ausübung von Zwang vor der Einleitung eines Strafverfahrens vorliegen kann, muss - wenn keine Verwertung von erzwungenen Informationen gegen den Betroffenen erfolgt - hierfür ein konkreter und nicht nur hypothetischer Zusammenhang zwischen einer dem Betroffenen auferlegten Informationspflicht (hier: Pflicht des Fahrzeughalters zur Benennung des Fahrers als Beitrag zur Aufklärung eines bereits anonym verfolgten Straßenverkehrsvergehens) und der möglichen späteren Einleitung eines gegen ihn gerichteten Strafverfahrens bestehen (entschieden mit vier zu drei Stimmen).


Entscheidung

460. BVerfG 2 BvR 564/95 - Beschluss vom 14. Januar 2004 (BGH/LG Bochum)

Erweiterter Verfall (keine pönale Funktion; vermögensordnende Funktion; präventive Funktion; keine Abschreckungsfunktion; Bruttoprinzip; Gewinnabschöpfung);

Rechtsstaatsprinzip (Schuldgrundsatz/nulla poena sine culpa; Unschuldsvermutung; Selbstbelastungsfreiheit/nemo tenetur se ipsum accusare; Bestimmtheitsgebot); Rückwirkungsverbot; Gleichbehandlungsgebot; verfassungsrechtlicher Begriff der Strafe; restriktive Auslegung des erweiterten Verfalls durch den Bundesgerichtshof (Willkürfreiheit; keine Verkennung der Bedeutung und Tragweite grundrechtlicher Gewährleistungen; Verhältnismäßigkeit); gesetzgeberische Wahlfreiheit bezüglich des Mittels zum Entzug rechtswidrig erlangter wirtschaftlicher Vorteile.

§ 73d StGB; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art 103 Abs. 2 GG; Art 14 Abs. 1 GG; Art 14 Abs. 2 GG; Art 3 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK; § 73a StGB; § 73c StGB; § 73e StGB; § 73 StGB; § 812 BGB; § 818 Abs. 3 BGB; § 818 Abs. 4 BGB; § 819 BGB; § 817 Satz 2 BGB

1. Der erweiterte Verfall (§ 73d StGB) verfolgt nicht repressiv-vergeltende, sondern präventiv-ordnende Ziele und ist daher keine dem Schuldgrundsatz unterliegende strafähnliche Maßnahme. (BVerfG)

2. § 73d StGB verletzt die Unschuldsvermutung nicht. (BVerfG)

3. Die Annahme der deliktischen Herkunft eines Gegenstands im Sinne des § 73d Abs. 1 Satz 1 StGB ist gerechtfertigt, wenn sich der Tatrichter durch Ausschöpfung der vorhandenen Beweismittel von ihr überzeugt hat. (BVerfG)

4. Die vom Bundesgerichtshof gestellten Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung, nach der keine Feststellungen über konkrete Herkunftstaten erforderlich sind und der Tatrichter nicht gehindert ist, sondern gehalten, die nachgewiesenen Anlasstaten in seine Überzeugungsbildung einzubeziehen, selbst wenn aus ihnen kein Gewinn erzielt worden sei (vgl. BGHSt 40, 371 ff.), sind von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. (Bearbeiter)

5. Die Regelung über den erweiterten Verfall nach § 73 d StGB enthält in der Auslegung des Bundesgerichtshofs eine sachgerechte Beschränkung der Eigentümerbefugnisse i.S.d. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG. Sie wahrt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. (Bearbeiter)

6. Strafe im Sinne des Grundgesetzes ist die Auferlegung eines Rechtsnachteils wegen einer schuldhaft begangenen rechtswidrigen Tat. Sie ist - neben ihrer Aufgabe abzuschrecken und zu resozialisieren - eine angemessene Antwort auf strafrechtlich verbotenes Verhalten (vgl. BVerfGE 21, 378, 383; 95, 96, 140). Mit ihr wird ein rechtswidriges sozial-ethisches Fehlverhalten vergolten. Das dem Täter auferlegte Strafübel soll den schuldhaften Normverstoß ausgleichen; es ist Ausdruck vergeltender Gerechtigkeit (vgl. BVerfGE 9, 167, 171; 96, 10, 25). (Bearbeiter)

7. Dem Schuldgrundsatz unterliegen auch Sanktionen, die wie eine Strafe wirken (vgl. BVerfGE 22, 125, 131; 74, 358, 375 f.). Dies ist jedoch nicht schon dann der Fall, wenn die Sanktion mit einer Einbuße an Freiheit oder Vermögen verbunden ist und damit faktisch die Wirkung eines Übels entfaltet. Vielmehr sind bei der Beurteilung des pönalen Charakters einer Rechtsfolge weitere wertende Kriterien heranzuziehen, insbesondere der Rechtsgrund der Anordnung und der vom Gesetzgeber mit ihr verfolgte Zweck (vgl. BVerfGE 9, 137, 144 ff.; 80, 109, 120 ff.; Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Februar 2004 - 2 BvR 2029/01 - C. III. 2.). (Bearbeiter)

8. Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips. Sie muss in einem prozessordnungsgemäßen Verfahren widerlegt werden, bevor wegen eines Tatvorwurfs Entscheidungen getroffen werden, die die Feststellung von Schuld erfordern. Sie schützt den Beschuldigten vor Nachteilen, die Schuldspruch oder Strafe gleichkommen, denen aber kein rechtsstaatliches, prozessordnungsgemäßes Verfahren zur Schuldfeststellung und Strafbemessung vorausgegangen ist (vgl. BVerfGE 19, 342, 347 f.; 35, 311, 320; 74, 358, 369 ff.; 82, 106, 118 ff.). (Bearbeiter)


Entscheidung

461. BVerfG 2 BvR 2043/03 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 20. April 2004 (LG Offenburg/AG Offenburg)

Unverletzlichkeit der Wohnung; Durchsuchung; Beschlagnahme; Richtervorbehalt (eigenverantwortliche Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen; Begrenzung der Durchsuchungsbefehls; genaue Bezeichnung der Beweismittel; genaue Umschreibung des Tatvorwurfes); prozessuale Überholung (Prüfungsumfang des Beschwerdegerichtes; Möglichkeit der Nachbesserung); Verdacht der Steuerhinterziehung (Tafelgeschäfte als Bargeschäfte; Einlösung von Zinscoupons im Ausland; Anonymisierung).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; Art. 8 EMRK; § 102 StPO; § 370 AO; § 152 StPO; § 94 StPO

1. Mängel bei der ermittlungsrichterlich zu verantwortenden Umschreibung des Tatvorwurfs und der zu suchenden Beweismittel bei einer Durchsuchungsanordnung können im Beschwerdeverfahren nicht geheilt werden. Die eigene Entscheidung des Beschwerdegerichtes kann die zuvor erledigte Vollziehung der Maßnahme nicht mehr beeinflussen, denn eine Nachbesserung der ermittlungsrichterlichen Durchsuchungsgestattung ist mit Blick auf dessen Umgrenzungsfunktion nicht mehr möglich. Hingegen können Defizite in der Begründung des zugrundeliegenden Tatverdachts und der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme im Beschwerdeverfahren grundsätzlich nachgebessert werden.

2. Es ist auch in Betracht der Eingriffsintensität einer Wohnungsdurchsuchung verfassungsrechtlich nicht geboten, die Maßnahme vom Vorliegen eines erhöhten

Verdachtsgrads abhängig zu machen, wie er für andere Maßnahmen gilt. Eine erhöhte Wahrscheinlichkeit wie sie die akustische Wohnraumüberwachung nach Art. 13 Abs. 3 GG voraussetzt, verlangt die Wohnungsdurchsuchung gemäß Art. 13 Abs. 2 GG nicht.

3. Die bloße Inhaberschaft von Tafelpapieren und deren Einlieferung zur Verwahrung in ein Depot begründet für sich allein noch keinen Anfangsverdacht einer Steuerstraftat. Anders verhält es sich jedoch, wenn konkrete Hinweise auf eine gezielte Anonymisierung vorliegen (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 2002 - 2 BvR 972/00 -, NStZ 2002, S. 371).


Entscheidung

462. BVerfG 2 BvR 785/04 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 3. Mai 2004 (LG Hamburg)

Einstweilige Anordnung im Verfahren der Verfassungsbeschwerde (Subsidiarität; fehlende offensichtliche Unzulässigkeit und Unbegründetheit der Hauptsache; Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache; Folgenabwägung); faires Verfahren (Terminierung der Hauptverhandlung im Strafprozess; Verhandlungsunfähigkeit: Abtrennung und vorläufige Einstellung des Verfahrens wegen Schwangerschaft der Angeklagten, Risikoschwangerschaft, Gefahr einer Frühgeburt); Schutz der werdenden Mutter; Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

Art. 6 Abs. 4 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 205 StPO

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet.

2. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 85, 94, 95 f.; stRspr)

3. Zur Folgenabwägung bei einer Risikoschwangerschaft einer angeklagten Beschwerdeführerin.