HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2021
22. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

697. BGH 5 StR 484/20 - Beschluss vom 17. Februar 2021 (LG Zwickau)

BGHSt; Wegfall der Bindungswirkung einer Verständigung und Unverwertbarkeit des Geständnisses nach Aussetzung der Hauptverhandlung (Grundsatz eines auf Fairness angelegten Strafverfahrens; Verwertungsverbot; qualifizierte Belehrung; Korrektur von Verfahrensfehlern; Mitteilungs- und Hinweispflichten).

§ 257c Abs. 4, Abs. 5 StPO; § 243 Abs. 4 StPO; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK

1. Wird das Verfahren, in dem es zu einer Verständigung gekommen war, ausgesetzt, entfällt die Bindung des Gerichts an die Verständigung. (BGHSt) 2. Das aus der Aussetzung resultierende Entfallen der Bindungswirkung führt grundsätzlich zur Unverwertbarkeit des im Vertrauen auf den Bestand der Verständigung abgegebenen Geständnisses in der neuen Hauptverhandlung. (BGHSt)

3. Eine Pflicht, den Angeklagten zu Beginn der neuen Hauptverhandlung über die Unverwertbarkeit seines in der ausgesetzten Hauptverhandlung abgegebenen Geständnisses ausdrücklich („qualifiziert“) zu belehren, besteht nicht, wenn der Angeklagte vor der Verständigung ordnungsgemäß nach § 257c Abs. 5 StPO belehrt worden war; es genügt, wenn er zu Beginn der neuen Hauptverhandlung darüber informiert wird, dass eine Bindung an die in der ausgesetzten Hauptverhandlung getroffene Verständigung entfallen ist (Abgrenzung zu BGH, Beschluss vom 24. April 2019 – 1 StR 153/19, BGHR StPO § 243 Abs. 4 Mitteilungspflicht 12). (BGHSt)

4. Kommt es infolge einer Aussetzung der Hauptverhandlung zum Wegfall der Bindungswirkung einer Verständigung, ist es im Hinblick auf den für den Gesetzgeber des Verständigungsgesetzes leitenden Grundsatz eines auf Fairness angelegten Strafverfahrens gerechtfertigt, grundsätzlich von einem Verwertungsverbot hinsichtlich des Geständnisses auszugehen. Ob hiervon ausnahmsweise abzuweichen ist, wenn sich das Tatgericht in der neuen Hauptverhandlung an die in der ausgesetzten Hauptverhandlung getroffene Verständigung binden will und dies entsprechend zu Beginn der Hauptverhandlung erklärt, braucht der Senat nicht zu entscheiden. (Bearbeiter)

5. Eine sog. qualifizierte Belehrung dient grundsätzlich dazu, einen anlässlich einer früheren Vernehmung zu Tage getretenen Verfahrensfehler zu korrigieren, mithin die Möglichkeit seiner Fortwirkung zu beseitigen und so den Einfluss des früheren Fehlers auf die neuen Angaben möglichst auszuschließen. Ein solcher Fall ist aber nicht gegeben, wenn es lediglich darum geht, ob und gegebenenfalls wie der Angeklagte über die Verwertbarkeit oder Unverwertbarkeit seiner in erster Instanz ordnungsgemäß zustande gekommenen Einlassung zu informieren ist. Ob der Angeklagte zu Beginn der Berufungshauptverhandlung neben der Belehrung nach § 332 i.V.m. § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO entsprechend § 257c Abs. 4 Satz 4 StPO „qualifiziert“ über die Unverwertbarkeit seines erstinstanzlich abgegebenen Geständnisses belehrt werden muss, wenn sich das Berufungsgericht nicht an die Verständigung binden will, muss der Senat nicht entscheiden. (Bearbeiter)


Entscheidung

666. BGH 3 StR 10/20 - Beschluss vom 25. März 2021 (LG Koblenz)

Änderung der Geschäftsverteilung während des laufenden Geschäftsjahres aufgrund von Überlastung (gesetzlicher Richter; Beschleunigungsgebot; Überleitung bereits anhängiger Verfahren; Beschluss des Präsidiums; Begründungsanforderungen; Überprüfung durch das Revisionsgerichts; Willkürkontrolle; abstrakt-generelle Regelung; Zuständigkeitsregeln; Überlastung aufgrund eines einzigen Umfangsverfahrens); Vernehmung eines ehemaligen Beschuldigten als Zeuge (Aufklärungspflicht; Beweiswert; Beurteilung des Wahrheitsgehalts); Rädelsführerschaft in bewaffneter Gruppe und krimineller Vereinigung.

§ 21e Abs. 3 S. 1 GVG; Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG; § 244 Abs. 2 StPO; § 127 StGB; § 129 StGB

1. Gemäß § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG darf das Präsidium die nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift getroffenen Anordnungen im Laufe des Geschäftsjahres ändern, wenn dies etwa wegen Überlastung eines Spruchkörpers nötig wird. Die Vorschrift muss eng ausgelegt und entsprechend angewendet werden. Eine nachträgliche Änderung der Geschäftsverteilung kann allerdings nicht nur zulässig, sondern auch verfassungsrechtlich geboten sein, wenn nur auf diese Weise die Gewährung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit, insbesondere eine beschleunigte Behandlung von Strafsachen, erreicht werden kann.

2. Das Beschleunigungsgebot lässt indes bei nachträglichen Änderungen der Geschäftsverteilung das Recht auf den gesetzlichen Richter nicht vollständig zurücktreten. Vielmehr besteht Anspruch auf eine zügige Entscheidung durch diesen. Daher muss in derartigen Fällen das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter mit dem rechtsstaatlichen Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden.

3. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einer Änderung des zuständigen Spruchkörpers auch für bereits anhängige Verfah-

ren jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Neuregelung generell gilt, also etwa außer mehreren anhängigen Verfahren zugleich eine unbestimmte Vielzahl künftiger, gleichartiger Fälle erfasst, und nicht aus sachwidrigen Gründen geschieht. In Ausnahmefällen kann sogar eine Änderung des Geschäftsverteilungsplans zulässig sein, die ausschließlich bereits anhängige Verfahren überträgt, wenn nur so dem verfassungs- und konventionsrechtlichen Beschleunigungsgebot insbesondere in Haftsachen angemessen Rechnung getragen werden kann.

4. Jede Umverteilung während des laufenden Geschäftsjahres, die bereits anhängige Verfahren erfasst, muss indes geeignet sein, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen. Änderungen der Geschäftsverteilung, die hierzu nicht geeignet sind, können vor Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG keinen Bestand haben. Einfachrechtlich folgt dieses Erfordernis aus § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG, da Änderungen der Geschäftsverteilung, die nicht der Erhaltung oder Wiederherstellung der Effizienz eines Spruchkörpers dienen, nicht im Sinne dieser Vorschrift nötig sind.

5. Da eine Überleitung bereits anhängiger Verfahren, bei denen schon eine anderweitige Zuständigkeit konkretisiert und begründet war, in die Zuständigkeit eines anderen Spruchkörpers erhebliche Gefahren für das verfassungsrechtliche Gebot des gesetzlichen Richters in sich birgt, bedarf es in solchen Fällen einer umfassenden Dokumentation und Darlegung der Gründe, die eine derartige Umverteilung erfordern und rechtfertigen, um den Anschein einer willkürlichen Zuständigkeitsverschiebung auszuschließen. Der Änderungsgrund muss stets im Beschluss des Präsidiums oder einem Protokoll der entsprechenden Präsidiumssitzung festgehalten werden, damit überprüfbar ist, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die nur ausnahmsweise zulässige Änderung der Geschäftsverteilung vorlagen, wobei die Begründung so detailliert sein muss, dass eine Prüfung der Rechtmäßigkeit möglich ist.

6. Mängel in der Begründung können vom Präsidium bis zur Entscheidung über einen nach § 222b StPO erhobenen Besetzungseinwand durch einen ergänzenden Beschluss behoben werden, der ausführlich die Gründe für die Zuständigkeitsänderung so dokumentiert, dass der Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt einen berechtigten Anlass zu der Annahme hatte, die Gerichtszuständigkeit sei zu seinen Lasten manipuliert worden.

7. Die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (siehe etwa BGH HRRS 2016 Nr. 542) geht davon aus, dass bei Umverteilungen während des laufenden Geschäftsjahres von Verfassungs wegen die Regelungen der Zuständigkeit, anders als deren Anwendung, nicht lediglich am Maßstab der Willkür, sondern auf jede Rechtswidrigkeit hin zu überprüfen sind. Dies soll sich auch darauf beziehen, ob eine Überlastung vorgelegen hat und die vom Präsidium getroffenen Maßnahmen erforderlich waren (BGH HRRS 2013 Nr. 934). Der Senat neigt demgegenüber zu der (hier nicht entscheidungserheblichen) Auffassung, dass eine umfassende revisionsrechtliche Überprüfung nur bei der Frage erforderlich ist, ob eine Zuständigkeitsregel des Geschäftsverteilungsplans überhaupt als generell-abstrakte Regelung anzusehen ist. Im Übrigen sei dem Präsidium bei Beurteilung der Frage einer Überlastung zumindest ein Prognosespielraum einzuräumen.

8. Eine Überlastung im Sinne des § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG kann sich auch aus der Belastung mit einem einzelnen Umfangsverfahren eine Überlastung nach § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG ergeben. Es kommt für die Feststellung einer Überlastung im Sinne der Vorschrift nicht allein auf die Anzahl anhängiger Verfahren an. Gerade bei Staatsschutzsachen - aber ebenso bei umfangreichen Verfahren aus dem Bereich des Wirtschaftsstrafrechts oder der organisierten Kriminalität - können im Einzelfall etwa die Breite der Tatvorwürfe, die Zahl der Verfahrensbeteiligten und der Umfang der zu erhebenden Beweismittel die Durchführung von Hauptverhandlungen erfordern, die es aufgrund ihres Ausmaßes für längere Zeit nicht zulassen, dass sich der betroffene Spruchkörper mit anderen Verfahren befasst.

9. Die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) erfordert es nicht allgemein, ehemals Mitangeklagte nach Abtrennung und rechtskräftiger Verurteilung als Zeugen zu laden und zu vernehmen. Die Notwendigkeit einer erneuten Heranziehung der Auskunftsperson könnte nur daraus abzuleiten sein, dass man generell in der Aussage eines Zeugen eine gegenüber der Einlassung eines Mitangeklagten vorzugswürdige Erkenntnisquelle erblickt. Die spezifischen Zeugenpflichten oder besondere Strafvorschriften, die wahrheitsgemäße Aussagen sicherstellen sollen, rechtfertigen dies indes nicht.

10. Der Beweiswert der Aussagen von Zeugen und Mitangeklagten ist regelmäßig weitgehend angenähert. Entscheidend für die Beurteilung des Wahrheitsgehalts einer Aussage ist grundsätzlich weniger die verfahrensrechtliche Rolle als vielmehr der persönliche Gesamteindruck, die Art und Weise der Bekundung, die innere Wahrscheinlichkeit der Schilderung und andere in der Aussage oder Auskunftsperson selbst liegende Umstände. Dabei kann auch zu berücksichtigen sein, ob spezifische Motive eine Falschbelastung nahelegen, etwa die Erwartung der Milderung der eigenen Strafe aufgrund von Aufklärungshilfe.


Entscheidung

643. BGH 1 StR 10/20 - Urteil vom 7. April 2021 (LG Duisburg)

Unterjährige Änderung der Geschäftsverteilung für bereits anhängige Verfahren (Abwägung des Rechts auf den gesetzlichen Richter mit dem rechtsstaatlichen Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz: umfassende Dokumentation der Begründung; Zulässigkeit nur bei abstrakt-genereller Überleitung bereits anhängiger Sachen im Geschäftsverteilungsplan); Besetzungsrüge (erforderliche Begründung entsprechend § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; erforderliche Begründung bei Rüge einer Überleitungsklausel bei unterjähriger Entlastung).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG; § 338 Nr. 1 lit. b StPO aF; § 222b Abs. 1 Satz 2 StPO aF; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Eine nachträgliche Änderung der Geschäftsverteilung (§ 21e Abs. 3 Satz 1 GVG) kann insbesondere dann geboten sein, wenn nur auf diese Weise dem Verfassungsgebot einer beschleunigten Behandlung namentlich von Strafsachen nachzukommen ist. Allerdings tritt in diesen Fällen das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht vollständig zurück; denn es besteht der Anspruch auf zügige Entscheidung durch den gesetzlichen Richter. Deshalb ist in diesen Fällen das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter mit dem rechtsstaatlichen Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. In solchen Fällen sind – mit Rücksicht auf die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) – die Gründe, die eine derartige Umverteilung erfordern und rechtfertigen, umfassend zu dokumentieren und darzulegen, um den Anschein einer willkürlichen Zuständigkeitsverschiebung auszuschließen.

2. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG steht einer Änderung der Zuständigkeit auch für bereits anhängige Verfahren jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Neuregelung generell gilt, zum Beispiel mehrere anhängige Verfahren und eine unbestimmte Vielzahl künftiger, gleichartiger Fälle erfasst, und sie nicht auf sachwidrigen Gründen fußt. Jedoch müssen sämtliche Regelungen eines Geschäftsverteilungsplanes, der die gesetzlichen Bestimmungen über die Zuständigkeiten der jeweiligen Spruchkörper ergänzt, die wesentlichen Merkmale gesetzlicher Vorschriften aufweisen. Die Regelungen eines Geschäftsverteilungsplanes müssen also im Voraus generell-abstrakt die Zuständigkeit der Spruchkörper und die Zuweisung der einzelnen Richter regeln, damit die einzelne Sache ?blindlings? aufgrund allgemeiner, vorab festgelegter Merkmale an den entscheidenden Richter gelangt und so der Verdacht einer Manipulation der rechtsprechenden Gewalt ausgeschlossen wird.

3. Soweit bereits anhängige Verfahren von einer Neuverteilung bestehender Zuständigkeiten erfasst werden, sind Regelungen nur dann im Voraus generell-abstrakt, wenn der Geschäftsverteilungsplan selbst die Sachen neu verteilt. Sie sind demgegenüber nicht im Voraus generell-abstrakt, wenn sie im Einzelfall sowohl die Neuverteilung als auch die Beibehaltung bestehender Zuständigkeiten ermöglichen und dabei die konkreten Zuständigkeiten von Beschlüssen einzelner Spruchkörper abhängig machen, die gerade Adressaten der generell-abstrakten Zuständigkeit sein sollen.

4. Die Vorschrift des § 338 Nr. 1 Buchst. b StPO aF nimmt damit Bezug auf § 222b Abs. 1 Satz 2 StPO aF, der bestimmt, dass die Tatsachen, aus denen sich die vorschriftswidrige Besetzung ergeben soll, anzugeben sind. Die Begründungsanforderungen an den Besetzungseinwand entsprechen dabei nach den Vorstellungen des Gesetzgebers im Kern den Rügeanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Fehlt die erforderliche umfassende Begründung, insbesondere ein hinreichend substantiierter Tatsachenvortrag, so ist der Besetzungseinwand nicht in der vorgeschriebenen Form geltend gemacht und damit nicht zulässig erhoben (vgl. BGHSt 44, 161, 162).

5. Je nach der Eigenart des gerügten Verfahrensverstoßes ergeben sich auf der Grundlage der vorhandenen Dogmatik im Bereich des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO spezielle Anforderungen an die Begründung der Rüge. Freilich darf das Revisionsgericht an die Vortragspflichten weder unerfüllbare noch unzumutbare oder aus Sachgründen nicht zu rechtfertigende Anforderungen stellen; das Rechtsmittel der Revision darf nicht ineffektiv gemacht werden. Dem strengen Ausnahmecharakter der Präklusionsvorschriften § 222b Abs. 1 i.V.m. § 338 Nr. 1 Buchst. b) StPO aF ist bei ihrer Anwendung Rechnung zu tragen.

6. Ein zulässiger Besetzungseinwand bezüglich einer Überleitungsklausel bei unterjähriger Entlastung erfordert namentlich die Vorlage sämtlicher Überlastungsanzeigen, der Präsidiumsbeschlüsse und sonstiger hierzu erteilter Auskünfte des Landgerichts).


Entscheidung

646. BGH 1 StR 50/21 - Beschluss vom 23. März 2021 (LG München II)

Vergewaltigung (Beweiswürdigung: mögliches Einverständnis des Opfers bei Geschehen in einer längeren gelebten Liebes- und Intimbeziehung).

§ 177 Abs. 1, Abs. 6 Nr. 1 StGB; § 261 StPO

Für die Beweiswürdigung zu der Frage, ob eine sexuelle Handlung an einer Person mit oder ohne deren Einverständnis vorgenommen wurde, kann, wenn es um ein Geschehen in einer längeren gelebten Liebes- und Intimbeziehung geht, nicht nur den von den Intimpartnern einvernehmlich praktizierten sexuellen Gewohnheiten und Üblichkeiten, sondern auch deren sonstiger Interaktion erhebliche Bedeutung zukommen. Gleiches gilt für die Beweiswürdigung dazu, ob der angeklagte Intimpartner in der konkreten Situation subjektiv vom Vorliegen eines Einverständnisses seines Partners mit der jeweiligen sexuellen Handlung ausging. Gerade bei ambivalenten Intimbeziehungen ist insoweit eine kritische und besonders gewissenhafte, alle Besonderheiten der Paarbeziehung in den Blick nehmende Gesamtbetrachtung von besonderer Bedeutung.


Entscheidung

696. BGH 5 StR 482/20 - Beschluss vom 25. Mai 2021 (LG Dresden)

Diplomatische Immunität (Ermöglichung des ungestörten diplomatischen Verkehrs zwischen Entsende- und Empfangsstaat); Unzulässigkeit des Befangenheitsantrags nach dem letzten Wort.

Art. 54 Abs. 1 WÜK; § 25 Abs. 2 S. 2 StPO

1. Nach Art. 54 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen (WÜK) ist Immunität auf Reisen durch einen Drittstaat gegeben, wenn deren Zweck ausschließlich der Transit mit dem Ziel ist, den Empfangs- oder den Entsendestaat zu erreichen. Dieser Zweck ist auch dann nicht erfüllt, wenn sich der Diplomat oder Konsularbeamte aus anderen Gründen dienstlich vorübergehend in einem Drittstaat aufhält oder diesen durchquert. Denn die Anwendung von Art. 54 Abs. 1 WÜK ist auf dasjenige beschränkt, was zur Ermöglichung eines ungestörten diplomatischen Verkehrs zwischen dem Entsende- und dem Empfangsstaat notwendig ist.

2. Befangenheitsgesuche nach dem letzten Wort des Angeklagten sind nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut von § 25 Abs. 2 Satz 2 StPO absolut ausgeschlossen und damit unzulässig. Ob es in Fällen einer deutlich zu Tage getretenen Voreingenommenheit möglich ist, von diesem Grundsatz durch eine einschränkende Auslegung der Vorschrift abzuweichen, wenn Ablehnungsgründe erst nach dem letzten Wort entstanden oder bekannt geworden sind und anders unerträgliche Ergebnisse nicht vermieden werden können, braucht der Senat hier nicht zu entscheiden.


Entscheidung

694. BGH 5 StR 458/20 - Beschluss vom 26. Mai 2021 (LG Berlin)

Einheitliche Kostenentscheidung in der Revisionsinstanz nach Absehen von der Einziehungsentscheidung.

§ 421 Abs. 1 StPO; § 473 Abs. 4 StPO

In allen Fällen des vollständigen Absehens von der Einziehungsentscheidung nach § 421 Abs. 1 StPO ist in der Revisionsinstanz im Rahmen verfahrensabschließender Entscheidung eine einheitliche Kostenentscheidung nach § 473 Abs. 4 StPO zu treffen. Dies gilt auch bei einer Teilbeschränkung innerhalb der Einziehungsentscheidung und beim sonstigen Teilerfolg der Revision hinsichtlich der Einziehungsentscheidung. In allen diesen Fällen wird – neben der Erwägung, ob der Revisionsführer das Rechtsmittel auch eingelegt hätte, wenn das angegriffene Urteil wie die Revisionsentscheidung gelautet hätte – der Teilerfolg des Rechtsmittels hinsichtlich der Einziehungsentscheidung ins Verhältnis zum Revisionsbegehren insgesamt gesetzt, um Maß, Gewicht und Umfang des Teilerfolgs zu bestimmen und auf dieser Grundlage eine Billigkeitsentscheidung zu treffen.


Entscheidung

704. BGH 2 StR 450/19 - Beschluss vom 29. März 2021 (LG Schwerin)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Abweichen von einem Sachverständigengutachten: Darlegungsanforderungen; Pseudoerinnerungen: nur begrenzte Überprüfbarkeit durch merkmalsorientierte Aussageninhaltsanalysen; zur Würdigung der Aktenkenntnis eines Zeugen); sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (geltende Verjährungsfrist vor dem Hintergrund der Gesetzesentwicklung; Verlängerung der Verjährungsfrist; anwendbare Fassung).

§ 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 174 Abs. 1 StGB; § 261 StPO

1. Es ist einem Tatgericht zwar nicht verwehrt, vom Gutachten eines Sachverständigen abzuweichen. Wenn es aber eine Frage, für die es geglaubt hat, des Rates eines Sachverständigen zu bedürfen, im Widerspruch zu dem Gutachten lösen will, muss es die maßgeblichen Überlegungen des Sachverständigen wiedergeben und seine Gegenansicht unter Auseinandersetzung mit diesen begründen, damit ersichtlich wird, dass es mit Recht besseres Wissen in Anspruch nimmt.

2. Pseudoerinnerungen können nicht ohne weiteres durch merkmalsorientierte Aussageninhaltsanalysen überprüft werden; denn scheinbare Realkennzeichen sind bei Pseudoerinnerungen in ähnlicher Weise anzutreffen wie in realen Erlebnisbeschreibungen.

3. Zur Beweiswürdigung, wenn ein Zeuge vor seiner Aussage Kenntnis vom Akteninhalt hatte.

4. Die Verjährungsfrist für Taten nach § 174 Abs. 1 StGB beträgt fünf Jahre. Der mit Wirkung vom 23. Juni 1994 eingefügte § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, wonach die Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers ruht, galt zunächst nicht für Straftaten im Sinne des § 174 StGB und zwar auch dann nicht, wenn das Vergehen tateinheitlich mit sexuellem Missbrauch von Kindern zusammentraf. Erst in der geänderten Fassung, die ab dem 1. April 2004 galt, wurde das Ruhen der Verjährung bis zum vollendeten 18. Lebensjahr des Opfers auch für die Strafbarkeit nach § 174 StGB eingeführt. Die Dauer des Ruhens der Verjährungsfrist wurde mit Wirkung vom 30. Juni 2013 auf die Vollendung des 21. Lebensjahres verlängert. Die Neufassungen finden auch für vor ihrem Inkrafttreten begangene Taten Anwendung, sofern deren Verfolgung zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährt ist; dies ergibt sich aus der erklärten Intention des Gesetzgebers und der Regelungssystematik des Gesetzes.


Entscheidung

686. BGH 5 StR 143/20 - Urteil vom 14. April 2021 (LG Dresden)

Gerichtliche Kognitionspflicht und prozessualer Tatbegriff; Handeltreiben mit Betäubungsmitteln; Nichtanordnung er Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.

§ 264 StPO; § 29 BtMG; § 64 StGB

Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Fehlt es daran, so stellt dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar (siehe zuletzt bereits BGH HRRS 2020 Nr. 1274). Die Tat als Gegenstand der Urteilsfindung im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO ist der geschichtliche Vorgang, wie er in der zugelassenen Anklageschrift umschrieben ist und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Sie wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild bestimmt. Zur Tat im prozessualen Sinn gehört das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach der Lebensauffassung ein einheitliches Geschehen darstellt.


Entscheidung

714. BGH 4 StR 46/21 - Urteil vom 29. April 2021 (LG Bochum)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Anforderungen an die Darstellung der einer DNA-Vergleichsuntersuchung; ausnahmsweise kein Beruhen des Urteils auf einem Darstellungsmangel in Bezug auf DNA-Mischspuren).

§ 261 StPO; § 337 StPO

1. Die Darstellung der Ergebnisse einer auf einer molekulargenetischen Vergleichsuntersuchung beruhenden Wahrscheinlichkeitsberechnung ist so auszugestalten, dass die Wahrscheinlichkeitsberechnung für das Revisionsgericht nachvollziehbar ist. Deshalb muss das Tatgericht in den Urteilsgründen mitteilen, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstim-

mungen in den untersuchten Systemen ergaben, mit welcher „Wahrscheinlichkeit“ die festgestellte Merkmalskombination bei einer weiteren Person zu erwarten ist und, sofern der Angeklagte einer fremden Ethnie angehört, inwieweit dieser Umstand bei der Auswahl der Vergleichspopulation von Bedeutung war.

2. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt nach neuer Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur bei DNA-Vergleichsuntersuchungen, die sich auf eindeutige Einzelspuren beziehen und keine Besonderheiten in der forensischen Fragestellung aufweisen. In diesen Fällen genügt die Mitteilung, mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination bei einer weiteren Person zu erwarten ist.

3. Bei Mischspuren, d.h. bei Spuren, die mehr als zwei Allele in einem DNA-System aufweisen und demnach von mehr als einer einzelnen Person stammen, wird von den Tatgerichten grundsätzlich weiterhin verlangt, in den Urteilsgründen mitzuteilen, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergaben und mit welcher „Wahrscheinlichkeit“ die festgestellte Merkmalskombination bei einer weiteren Person zu erwarten ist. Lediglich in Fällen, in denen Mischspuren eine eindeutige Hauptkomponente aufweisen, können für die Darstellung der DNA-Vergleichsuntersuchung die für die Einzelspur entwickelten Grundsätze gelten.

4. Ein Beruhen des Urteils auf einer mangelhaften Darstellung in Bezug auf DNA-Mischspuren kann ausgeschlossen werden, wenn das Landgericht seine Überzeugung von der Täterschaft des Beschuldigten bereits „allein“ daraus gewinnen konnte, dass bei ihm kurz nach einem Brandstiftungsdelikt frisch gewaschene Kleidungsstücke festgestellt wurden, die ausweislich einer Videoaufzeichnung vom Tatort in Art und Farbe der Täterkleidung gleichkamen und bei der tatzeitnahen Durchsuchung anderweit nicht erklärbarer Benzin- und Brandgeruch in der Wohnung des Beschuldigten festgestellt wurde.


Entscheidung

684. BGH 5 StR 110/21 - Beschluss vom 11. Mai 2021 (LG Berlin)

Darlegungserfordernisse bei der Rüge der rechtsfehlerhaften Behandlung eines Beweisantrags.

§ 344 Abs. 2 StPO; § 244 Abs. 3 StPO

Bei einer Verfahrensrüge, mit der der die rechtsfehlerhafte Behandlung eines Beweisantrags gerügt wird, müssen gem. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO neben dem vollständigen Inhalt des Beweisantrags einschließlich der Antragsbegründung sowie dem gerichtlichen Ablehnungsbeschluss auch die im Beweisantrag und in dem ablehnenden Beschluss in Bezug genommenen Unterlagen und Aktenbestandteile mit der Begründungsschrift vorgelegt oder jedenfalls inhaltlich vorgetragen werden.


Entscheidung

665. BGH 1 BGs 190/21 – Beschluss vom 20. Mai 2021

Beweisantrag im parlamentarischen Untersuchungsausschuss (Exklusivität der Ermächtigungsgrundlagen für Herausgabeverlangen gegenüber Privaten und öffentlichen Stellen; Entscheidung des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs über einen Beweisantrag: keine eigene Beweiserhebung des Ermittlungsrichters).

Art. 44 GG; § 18 PUAG; § 29 PUAG, § 30 PUAG; § 17 Abs. 4 PUAG

1. Die §§ 29, 30 PUAG sind nur auf Herausgabeverlangen gegenüber Privaten anwendbar, nicht auf die Vorlage von Unterlagen durch öffentliche Stellen. Die Vorlagepflicht öffentlicher Stellen bemisst sich ausschließlich nach § 18 PUAG.

2. Ein ausdrücklich auf die §§ 29, 30 PUAG gestützter Beweisantrag kann vom Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs nicht nach § 18 PUAG für begründet gehalten werden, da es damit zur Anwendung eines gänzlich anderen Regelungsregimes käme.

3. Die Beweiserhebung ist ureigene Aufgabe des Untersuchungsausschusses. Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs „entscheidet“ gemäß § 17 Abs. 4 PUAG „über die Erhebung der Beweise“, erhebt sie aber nicht selbst. Das Verfahren nach § 17 Abs. 4 PUAG ist der Sache nach ein einfachgesetzliches (kontradiktorisches) Organstreitverfahren, in dem grundsätzlich allein Feststellungsentscheidungen getroffen werden können.


Entscheidung

692. BGH 5 StR 406/17 - Beschluss vom 9. Juni 2021 (LG Berlin)

Lediglich ausnahmsweise Zulässigkeit der rückwirkenden Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Adhäsionsverfahren.

§ 404 StPO; § 117 ZPO

Der Bewilligung von Prozesskostenhilfe steht zwar nicht bereits entgegen, dass das Revisionsverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist. Eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe kommt aber nur ausnahmsweise in Betracht, wenn der Antrag bereits vor Verfahrensabschluss gestellt, jedoch versehentlich nicht beschieden worden ist und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe Erforderliche getan, insbesondere die gemäß § 404 Abs. 5 Satz 1 StPO iVm § 117 Abs. 2 Satz 1 ZPO erforderliche Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse beigefügt hat.