HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2021
22. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Wann ist ein Strafmilderungsgrund verbraucht?

Zugleich Besprechung von BGH HRRS 2020 Nr. 77 und BGH HRRS 2020 Nr. 169

Von Dr. Kai Höltkemeier, Richter am Landgericht Augsburg

Die Strafzumessung ist gerade für einen Landrichter[1] ein gefährliches Terrain. Dies aber nicht etwa deshalb, weil er bei der Festsetzung einer tat- und schuldangemessenen Strafe den Eindruck hat, "ins Dunkle" oder "in die Dämmerung" zu greifen.[2] Mittels des Gesetzes und der von Fischer[3] sehr treffend so bezeichneten "intuitiven und komparativen Bezugssysteme" gelingt es erfahrenen Strafrichtern häufig sehr leicht, eine passende Strafe zu finden. Und zwar nicht nur im Bereich der Alltagskriminalität, sondern auch in komplexeren Verfahren. Schwierig wird die Strafzumessung vor allem in größeren Verfahren dann, wenn man sein mithilfe von Bauch (Intuition) und Kopf erzieltes Ergebnis rechtsfehlerfrei begründen soll, damit es einer Überprüfung in der Revisionsinstanz standhält. Hier ist jedes (ggf. auch fehlende) Wort von Gewicht.

Anhand zweier kleiner, unauffälliger Entscheidungen des Bundesgerichtshofes soll gezeigt werden, wie schwierig sich die Begründung der Strafzumessung gestaltet und dass die Strafsenate des Bundesgerichtshofes nicht immer zur Klarheit beitragen. Inhaltlich geht es um die Frage, inwieweit Umstände, die für sich betrachtet oder mit anderen zusammen eine Strafrahmenverschiebung bewirkt haben, im Rahmen des dann folgenden Strafzumessungsakts (im engeren Sinne) erneut Berücksichtigung finden dürfen. Während die erste zu besprechende Entscheidung des 1. Strafsenats (eigentlich) den Fall einer Strafzumessung nach Strafrahmenverschiebung über § 49 Abs. 1 StGB infolge eines vertypten Strafmilderungsgrundes betrifft, behandelt die zweite Entscheidung des 2. Strafsenats (eigentlich) den Fall einer Strafzumessung nach Annahme eines minder schweren Falles.

I. Verbrauch vertypter Milderungs-gründe? – BGH HRRS 2020 Nr. 77

1. Behandlung nach der herrschenden Meinung

Die Frage, inwieweit ein vertypter Strafmilderungsgrund (z.B. Versuch, § 23 Abs. 2 StGB; verminderte Schuldfähigkeit, § 21 StGB) nach einer Strafrahmenverschiebung über § 49 StGB im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne erneut berücksichtigt werden kann, hat der Bundesgerichtshof schon vielfach beantwortet. Wenn man die jeweils prägnantesten Formulierungen aus zwei Entscheidungen schamlos zusammenkopiert, ergibt sich ein – wie ich meine – klares und überzeugendes Ergebnis:

"Innerhalb eines Strafrahmens, der wegen Versuchs gemildert worden ist, kann der Umstand allein, dass ein Versuch vorliegt, keine Bedeutung für die Findung der angemessenen Strafe entfalten. Denn diese Besonderheit trifft für jeden denkbaren Punkt der Skala des gemilderten Strafrahmens zu und ist deshalb nicht geeignet, als Differenzierungsmerkmal für die Bestimmung der angemessenen Strafe innerhalb dieses Rahmens zu dienen." [4] "Da aber für die eigentliche Strafzumessung eine Ganzheitsbetrachtung von Tatgeschehen und Täterpersönlichkeit erforderlich ist, wäre es nicht angängig, wesentliche mit dem jeweiligen Milderungsgrund zusammenhängende Umstände bei der Festsetzung der Strafe innerhalb des gemilderten Strafrahmens nur deshalb unberücksichtigt zu lassen, weil etwa der Täter vermindert zurechnungsfähig war oder die Tat nur versuchte (BGHSt 16, 351[...]). In diesem Zusammenhang sind zahlreiche Gesichtspunkte der Wertung möglich. So darf beispielsweise berücksichtigt werden, daß der Versuch mehr oder weniger nahe der Vollendung, die Minderung der Schuldfähigkeit (insb. nach Alkoholgenuß) mehr oder weniger verschuldet war". [5]

Begründen lässt sich dieses Ergebnis, das von der ganz herrschenden Meinung im Schrifttum[6] geteilt wird, mit

dem Rechtsgedanken des § 46 Abs. 3 StGB[7]: Umstände, die schon Merkmal einer den anzuwendenden Strafrahmen begründenden Norm sind, können in der weiteren Strafzumessung nicht mehr berücksichtigt werden, weil sie für jeden Punkt innerhalb des Strafrahmens gelten und damit nicht zur Differenzierung geeignet sind. Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob der Umstand schon Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes ist (§ 46 Abs. 3 StGB) oder ob der Umstand (nur) Merkmal einer den Strafrahmen verschiebenden Norm ist.

2. BGH HRRS 2020 Nr. 77

Der Beschluss des 1. Strafsenats vom 23.10.2019 betrifft ein Urteil des Landgerichts München II, in welchem der Angeklagte – unter anderem – wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit Bedrohung verurteilt wurde. Der zu besprechenden Entscheidung des Bundesgerichtshofes lässt sich entnehmen, dass das Landgericht München II – vom Strafrahmen des § 212 Abs. 1 StGB ausgehend – eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 23 Abs. 2, 49 StGB vorgenommen hat und auf dieser Grundlage eine mehrjährige Einzelstrafe festgesetzt hat, die letztlich in eine Gesamtstrafe von sieben Jahren mündete.

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat – mit, wie ich meine, zweifelhafter Begründung[8] – nicht nur die tateinheitliche Verurteilung wegen Bedrohung beanstandet und korrigiert, sondern er hat zudem den Ausspruch über die Einzelstrafe und – hier nicht weiter von Interesse – die Gesamtstrafe aufgehoben.

a) Die Ausgangsentscheidung des Landgerichts München II

Das Landgericht musste innerhalb des nach §§ 23 Abs. 2, 49 StGB verschobenen Strafrahmens eine tat- und schuldangemessene Strafe finden. Es hatte hierzu alle für und gegen den Täter sprechenden Umstände gegeneinander abzuwägen, § 46 Abs. 2 StGB. Das Landgericht führt hierbei (unter anderem) aus[9],

"dass, da der vertypte Strafmilderungsgrund nach § 23 Abs. 2 StGB bereits zur Strafrahmenverschiebung gemäß § 49 Abs. 1 StGB geführt habe, das Vorliegen des Versuchs als solchem gemäß § 50 StGB nicht mehr bei der Strafzumessung im engeren Sinne berücksichtigt werden dürfe."

Indem das Landgericht (nur) den Versuch ‚als solchen‘ nicht berücksichtigt, scheint es die Vorgaben der dargestellten höchstrichterlichen Rechtsprechung zu beachten.

b) Die Entscheidung des BGH

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes gelangt dennoch zur Aufhebung von Einzel- und Gesamtstrafe und führt hierzu aus:

"Das Landgericht hat[...]verkannt, dass das Verbot der Doppelverwertung gemäß § 50 StGB nur für die Strafrahmenbestimmung gilt. Für die konkrete Strafzumessung ist hingegen eine Gesamtbetrachtung aller Umstände geboten, darunter auch derjenigen, die eine Strafrahmenmilderung bewirkt haben; diese sind mit verringertem Gewicht in die Gesamtwürdigung einzustellen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH[…]3 StR 452/13 und[…] 2 StR 535/92 Rn. 5 f.; Fischer, StGB, 66. Aufl., § 50 Rn. 6; SSW/Eschelbach, StGB, 4. Aufl., § 50 Rn. 17)."

aa) Fehler bei der Anwendung von § 50 StGB?

Der erste Satz der Begründung überzeugt zumindest auf den ersten Blick: Der vom Landgericht München II zitierte § 50 StGB betrifft nach ganz h.M. tatsächlich nur die Strafrahmenwahl und nicht etwa die Strafzumessung im engeren Sinne.[10]

Auf den zweiten Blick ist die Rechtslage nicht ganz so klar: Das Landgericht kann seine Rechtsauffassung nämlich auf eine Entscheidung des 3. Strafsenats aus dem Jahr 1987 stützen[11], die ebenfalls § 50 StGB heranzieht[12] und zu der sich das Urteil des 1. Strafsenats nicht verhält:

"Selbst in den Fällen des § 50 StGB sind auch die dem jeweiligen gesetzlich vertypten Milderungsgrund nach Art und Maß unterschiedlich konkretisierenden Umstände zu berücksichtigen. Lediglich der die Milderung des Strafrahmens bewirkende gesetzlich vertypte Grund als solcher ("Versuch”, "Gehilfe” usw.) scheidet nach § 50 StGB als Strafzumessungserwägung aus (BGHSt 26, 311; BGH, NStZ 1984, 548). [13] "

bb) Fehler bei der Gesamtwürdigung?

Letztlich geht es dem 1. Strafsenat aber wohl auch um etwas anderes: Er bemängelt, dass die Umstände, die die Strafrahmenmilderung bewirkt haben, nicht – mit verringertem Gewicht – in die Abwägung eingestellt wurden und befürchtet, dass die Strafe in der Folge zu hoch ausgefallen sein könnte.

Und genau das ist es, was (kurz) irritiert: Denn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist ja in den Fällen einer Strafrahmenverschiebung wegen

eines vertypten Milderungsgrundes dieser Milderungsgrund als solcher – im Fall also der tatsächliche Umstand der fehlenden Tatvollendung – gerade verbraucht. Er ist zur Differenzierung innerhalb des neuen Strafrahmens nicht geeignet, weil er auf alle Punkte innerhalb des Strafrahmens zutrifft.

Eine genauere Betrachtung des zweiten Satzes der Begründung beweist, dass sich der 1. Strafsenat wohl schlicht geirrt und in die falsche Schublade gegriffen hat. Der (wortgleich aus der zitierten Entscheidung BGH 3 StR 452/13 übernommene) Textbaustein betrifft nämlich die Konstellation einer Strafzumessung im engeren Sinne nach Annahme eines minder schweren Falles.[14] Für das Landgericht München II ist das ärgerlich, denn es hat – soweit ersichtlich – genau das getan, was Fischer und Eschelbach in den vom 1. Strafsenat zitierten Kommentarfundstellen fordern und was ständiger Rechtsprechung entspricht[15]: Es hat eine Gesamtbetrachtung angestellt und alle Umstände eingestellt, dies mit Ausnahme des nicht zur Differenzierung innerhalb des verschobenen Strafrahmens geeigneten Umstands, dass die Tat nicht vollendet wurde.

cc) Beruhen

Der 1. Strafsenat hat ein Beruhen des Urteils auf dem festgestellten Fehler in der Anwendung des § 50 StGB – im Ergebnis letztlich wohl konsequent[16] – bejaht:

[…]Der Senat vermag mit Blick auf die weiteren Strafzumessungserwägungen, unter anderem den Umstand, dass das Landgericht zulasten des Angeklagten berücksichtigt hat, dass er tateinheitlich auch eine Bedrohung begangen hat, und die Höhe der Strafe nicht auszuschließen, dass der Strafausspruch für diese Tat auf dem Rechtsfehler beruht."

Auch diese Ausführungen überzeugen aber nicht voll, weil der Aspekt der aus Sicht des 1. Strafsenats zu Unrecht angenommenen Bedrohung mit dem eigentlich geprüften Beruhen des Urteils auf dem Fehler "Versuch zu Unrecht nicht in Gesamtabwägung eingestellt" nichts zu tun hat. Hinzu kommt, dass es eine tatbestandsmäßige Bedrohung nach Abschluss der Körperverletzungshandlungen gegeben hat.[17] Hierdurch wurde meines Erachtens neues Unrecht verwirklicht, das bei der Strafzumessung unabhängig von der konkurrenzrechtlichen Bewertung berücksichtigt werden durfte.

II. Verbrauch mildernder Umstände beim minder schweren Fall? – BGH HRRS 2020 Nr. 169

1. Behandlung nach der herrschenden Meinung

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und ganz herrschender Meinung können und müssen Umstände, die als Abwägungsgesichtspunkte zur Annahme eines minder schweren Falles geführt haben, im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne erneut herangezogen werden.[18] Das ist insofern richtig, als dem Angeklagten ansonsten der Vorteil der Strafrahmenverschiebung durch eine umso strengere Behandlung innerhalb dieses Strafrahmens wieder genommen würde. Gleichzeitig wird man diejenigen Umstände, die zur Annahme des minder schweren Falles geführt haben, im neuen, verschobenen Strafrahmen aber auch nicht mit vollem, sondern nur mit verringertem Gewicht berücksichtigen können, weil sonst der neue Strafrahmen nach oben hin ja niemals ausgeschöpft werden könnte, was kaum beabsichtigt sein kann.

2. BGH HRRS 2020 Nr. 169

a) Die Ausgangsentscheidung des Landgerichts Aachen

Das Landgericht Aachen hat den Angeklagten wegen einer Vielzahl von Straftaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahre verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Für die Zwecke dieser Besprechung ist dabei nur eine Einzelstrafe von Interesse, die eine versuchte besonders schwere räuberische Erpressung (§§ 253, 255, 250 Abs. 2 StGB) sanktionieren sollte. Der 2. Strafsenat gibt die Ausführungen des Landgerichts Aachen hierbei wie folgt wieder:

"Zu Fall 1 der Urteilsgründe nimmt die StrK einen minder schweren Fall i. ? S. des § 250 Abs. 3 StGB an, wobei "ausdrücklich das Vorliegen der verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB und der Umstand, dass die Tat im Versuchsstadium nach §§ 22 , 23 Abs. 1 StGB stecken geblieben ist, zur Bejahung eines minder schweren Falles heranzuziehen war". Eine weitere Milderung "nach § 21 , § 23 II , 46 , 49 StGB" komme im Hinblick auf § 50 StGB nicht mehr in Betracht, da diese Milderungsgründe bereits verbraucht seien "und auch im Rahmen der weiteren Strafzumessung im engeren Sinne keine Berücksichtigung mehr finden" könnten."

b) Beurteilung der Entscheidung des LG Aachen

Akzeptiert man einmal, dass die Annahme eines minder schweren Falles unter Berücksichtigung von Versuch und verminderter Schuldfähigkeit im konkreten Fall veranlasst war[19], so war zwar richtig, dass eine erneute Ver-

schiebung des Strafrahmens über §§ 21, 49 oder 23 Abs. 2, 49 StGB wegen § 50 StGB ausschied.

Das Landgericht hat aber übersehen, dass die den minder schweren Fall begründenden Umstände im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne wieder – wenn auch mit geringerem Gewicht – beachtet werden durften und mussten (s.o., II.1). Das gilt auch für solche Umstände, die zugleich typisierte Milderungsgründe darstellen (Versuch, verminderte Schuldfähigkeit etc.), weil sie – anders als in der zuvor diskutierten Fallgruppe einer Strafrahmenverschiebung über § 49 StGB – zur Differenzierung innerhalb des neuen Strafrahmens geeignet und erforderlich sind.

c) Die Entscheidung des BGH
aa) Ergebnis überzeugt

Der 2. Strafsenat hat das Urteil des Landgerichts Aachen demnach im Ergebnis zu Recht im Ausspruch über die konkrete Einzelstrafe und die Gesamtstrafe aufgehoben.[20] Und auch die Begründung vermag zunächst zu überzeugen:

"Dies ist insofern rechtsfehlerhaft, als für die konkrete Strafzumessung eine Gesamtbetrachtung aller Umstände geboten ist, darunter auch diejenigen, die eine Strafrahmenmilderung bewirkt haben; diese sind mit verringertem Gewicht in die Gesamtwürdigung einzustellen (…)."

bb) Weitere Begründung

Der 2. Strafsenat hätte es hierbei belassen können und sollen. Denn seine weiteren Ausführungen betreffen zum einen schon gar nicht die zur Entscheidung stehende Fallkonstellation, zum anderen verkomplizieren sie eine eigentlich hinreichend geklärte Rechtsfrage (s.o., I.1.) so sehr, dass hieraus neue Unsicherheit erwächst. Der 2. Strafsenat schreibt:

Wenn in einzelnen Entscheidungen darauf hingewiesen wird, der vertypte Milderungsgrund "als solcher" dürfe bei der Strafzumessung im engeren Sinne nicht berücksichtigt werden (BGH […]3 StR 308/87;[…]2 StR 353/89[…]), so ist damit nicht gemeint, dass ein bestimmter Milderungsgrund verbraucht sei, sondern lediglich klargestellt, dass das abstraktrechtliche Wertungsergebnis als solches, das die gesetzliche Grundlage für die Strafrahmenmilderung bietet, selbst keinen strafzumessungserheblichen Umstand darstellt. Hingegen ist die Tatsache, dass der Angeklagte nur vermindert schuldfähig war, für die Bewertung der relevanten Strafzumessungstatsachen regelmäßig von wesentlicher Bedeutung und wirkt dann bei der Strafzumessung in engerem Sinne strafmildernd ([…] 2 StR 535/92 Rn. 6).

cc) Falsche Schublade

Dieser Absatz wurde wortwörtlich aus der am Ende zitierten Entscheidung aus dem Jahr 1992 übernommen.[21] Das ist ärgerlich genug, weil sich diese Entscheidung gar nicht mit der hier relevanten Konstellation eines minder schweren Falles[22], sondern vielmehr mit einer Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 StGB beschäftigt. Auch die weiteren zitierten Entscheidungen betreffen diese Konstellation.[23]

dd) Missglückte Formulierung

Viel schlimmer ist aber, dass der 2. Strafsenat ausgerechnet einen Textbaustein aus der Versenkung holt, der inhaltlich nicht überzeugt und eine eigentlich geklärte Rechtsfrage – auch sprachlich – unnötig verkompliziert. Die wohl beabsichtigte Abschichtung von ‚strafzumessungserheblichen Umständen‘ und dem nicht strafzumessungserheblichen ‚abstraktrechtlichen Wertungsergebnis‘ ist – wie zu zeigen sein wird – zum Scheitern verurteilt.

Zur Erinnerung (vgl. näher oben, I.): Die der typisierten Strafmilderung unmittelbar zugrunde liegenden Tatsachen (also z.B. fehlende Tatvollendung, verminderte Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit) können im Rahmen der Abwägung nach § 46 Abs. 2 StGB keine Berücksichtigung finden, weil sie für jeden Punkt innerhalb des gemilderten Strafrahmens zutreffen und damit nicht zur Differenzierung innerhalb des Strafrahmens taugen. Sie sind – anders als der 2. Strafsenat meint – verbraucht und können damit auch nicht erneut strafmildernd wirken! Die "konkret-tatsächlichen Gegebenheiten, die den jeweiligen Fall kennzeichnen"[24], also z.B. die Frage, wie stark war die Einsichtsfähigkeit vermindert war, erlauben hingegen eine Differenzierung innerhalb des gemilderten Strafrahmens und dürfen und müssen von daher Eingang in die Strafzumessung im engeren Sinne finden.

Was aber hat es nun mit der – auf den ersten Blick so klug anmutenden – Abschichtung von ‚strafzumessungserheblichen Umständen‘ und dem (nicht strafzumessungserheblichen) ‚abstraktrechtlichen Wertungsergebnis‘ auf sich, die der Bundesgerichtshof – soweit ersichtlich – erstmals im Jahr 1989 unternommen hat und seitdem immer mal wieder aufgreift?[25] Erklärtes Ziel dieser Abschichtung war und ist es, den Grundsatz "Umstände, die zu einer Strafrahmenverschiebung geführt haben, müssen bei

der Strafzumessung im engeren Sinne erneut berücksichtigt werden", vor Durchbrechungen zu bewahren. Das wiederum kann nur gelingen, wenn man die typisierten Strafmilderungsgründe ‚als solche‘ nicht als "Umstände" versteht. In den Worten des BGH[26]:

"Doch steht der Begriff der "Umstände” in diesem Zusammenhang stets und ausschließlich für die konkret-tatsächlichen Gegebenheiten, die den jeweiligen Fall kennzeichnen;[…]Nicht gemeint ist dagegen das abstrakt-rechtliche Wertungsergebnis als solches, das die gesetzliche Grundlage für die Strafrahmenmilderung bietet; es stellt selbst keinen strafzumessungserheblichen Umstand dar. So kann die Wertung, ein minder schwerer Fall liege vor, bei der Bemessung der Strafe innerhalb des für den minder schweren Fall vorgesehenen Strafrahmens keine Bedeutung erlangen. Ebensowenig läßt sich dem Angekl. im Rahmen des nach §§ 21, 49 StGB gemilderten Strafrahmens zugutehalten, er habe unter den Voraussetzungen des § 21 StGB gehandelt. Aus demselben Grunde ist es rechtsfehlerhaft, nach einer Strafrahmenmilderung gemäß den §§ 23 II, 49 StGB bei der konkreten Strafzumessung zu Gunsten des Angekl. zu werten, daß die Tat nur versucht worden ist. "

Mich überzeugt das – für die Fallgruppe der typisierten Milderungsgründe – nicht: Es ist zwar richtig, dass der Strafrahmenverschiebung wegen eines typisierten Milderungsgrundes grundsätzlich eine umfassende Gesamtwürdigung (und damit eine abstraktrechtliche Wertung) zugrunde liegt, die bei der Strafzumessung im engeren Sinne keine Rolle mehr spielt. Das ändert aber nichts daran, dass die Strafrahmenverschiebung von vornherein nur dann erfolgen kann, wenn der konkret-tatsächliche Umstand der fehlenden Tatvollendung (§ 23 Abs. 2 StGB), der Verminderung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB), des vermeidbaren Irrtums über das Unrecht der Tat (§ 17 S. 2 StGB) usw. gegeben ist. Diese Umstände bleiben Umstände, auch wenn die Rechtsfolge (Strafrahmenverschiebung ja/nein) erst mittels einer abstraktrechtlichen Abwägung bestimmt werden kann. Die angestrebte Abschichtung (Umstände dürfen noch berücksichtigt werden, Wertungsergebnisse nicht) ist deshalb nicht zielführend.

Im Ergebnis ist festzuhalten, dass der 2. Strafsenat ohne jede Notwendigkeit (er hatte über eine andere Konstellation zu befinden) eine klare und zutreffende Aussage (‚der vertypte Milderungsgrund ‚als solcher‘ ist nach einer Strafrahmenverschiebung über § 49 StGB verbraucht) in eine ganz andere und noch dazu missverständliche Aussage (‚das abstraktrechtliche Wertungsergebnis stellt keinen strafzumessungserheblichen Umstand dar) uminterpretiert und hieraus dann auch noch den falschen Schluss zieht. Das kann nicht befriedigen.

III. Fazit

Die rechtsfehlerfreie und damit revisionsfeste Begründung von Strafzumessungsentscheidungen ist schwierig. Sie erfordert einen genauen Umgang mit Gesetz und obergerichtlicher Rechtsprechung und einen gewissen Erfahrungsschatz (Welche Formulierungen will das Revisionsgericht lesen?). In Zeiten häufiger Referatswechsel gerade im Bereich der landgerichtlichen Berichterstatter (Elternzeit, Abordnungen u.a.) und eines großen Erledigungsdrucks angesichts hoher Fallzahlen sind das keine guten Voraussetzungen. Fehler in der Strafzumessung können vom Revisionsgericht manchmal korrigiert werden, häufig wird das Urteil aber – jedenfalls im Hinblick auf den Strafausspruch – mit zum Teil sehr deutlichen Worten aufgehoben, was eine erneute Verhandlung vor einem ohnehin schon stark belasteten Instanzgericht nach sich zieht.

Angesichts dieser Ausgangssituation ist es umso wichtiger, dass die Vorgaben des Bundesgerichtshofes in eigentlich längst geklärten Bereichen der Strafzumessung einheitlich und maximal klar und verständlich sind. Denn der junge Instanzrichter fragt heutzutage nicht mehr (nur) die erfahrene Kollegin am anderen Ende des Flurs, sondern eine Entscheidungsdatenbank im Internet, um nach passender obergerichtlicher Rechtsprechung zu suchen. Das wiederum geht nur solange gut, wie die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs dessen ständige Rechtsprechung in verständlicher Weise verlässlich wiedergeben. Für eine Entscheidungsdatenbank ist jede Entscheidung des Bundesgerichtshofs gleich wichtig, jeder noch so eilig beratene Absatz kann zur Grundlage zukünftiger instanzrichterlicher Entscheidungen werden, wodurch ein ärgerlicher Teufelskreis entsteht .


[1] Am Amtsgericht erweist sich die Strafzumessung mitunter natürlich als genauso kompliziert, die "Pufferinstanz" der Berufung führt aber dazu, dass eine Urteilsbegründung häufig deutlich leichter von der Hand geht.

[2] Vgl. hierzu Kaspar in der Einleitung zu seinem außerordentlich lesenswerten DJT-Gutachten 2018 unter Bezugnahme auf v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge Band 1, Berlin 1905, S. 393.

[3] Fischer StGB, 67. Auflage 2020, § 46 Rn. 13.

[4] BGH NJW 1989, 3230.

[5] BGH NJW 1976, 1326.

[6] S. nur SSW-StGB/Kaspar, 4. Auflage 2019, § 21 Rn. 34; SSW-StGB/Kudlich/Schuhr, 4. Auflage 2019, § 23 Rn. 12; Fischer, 67. Auflage 2020, § 23 Rn. 5; Ziegler, Das Strafurteil, 7. Auflage Rn. 329.

[7] So wohl auch SSW-StGB/Kudlich/Schuhr, 4. Auflage 2019, § 23 Rn. 12 und – deutlicher – SSW-StGB/Eschelbach, 4. Auflage 2019, § 50 Rn. 18.

[8] Es liegt zwar auf der Hand, dass eine Bedrohung zurücktritt, wenn Sie im Verlaufe der Begehung eines Verbrechens begangen wird (Täter schlägt und brüllt dabei "Ich bring Dich um!"). Der vorliegende Fall lag aber anders: Wenn dem flüchtenden Opfer die Drohung gleichsam hinterhergerufen wird, dann spricht vieles dafür, dass der Täter mit einer neuen Tat droht. Das sollte in einer tateinheitlichen Verurteilung zum Ausdruck kommen.

[9] Dies ausweislich der Entscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH HRRS 2020 Nr. 77).

[10] BGH NJW 1975, 837; SSW-StGB/Eschelbach, 4. Auflage 2019, § 50 Rn. 1; MüKoStGB/Maier, 3. Aufl. 2016, § 50 Rn. 3; Schönke/Schröder/Kinzig, 30. Aufl. 2019, § 50 Rn. 4.

[11] BGH NStZ 1987, 504 = BeckRS 9998, 85615.

[12] Diese Entscheidung hat auch in der Kommentarliteratur Widerhall gefunden, vgl. BeckOK-StGB/Heintschel-Heinegg, 46. Ed. 1.5.2020, StGB § 50 Rn. 2 a.E.

[13] Der 3. Strafsenat hatte eigentlich über einen minder schweren Fall zu entscheiden. Der zitierte Teil der Entscheidung aber beschäftigt sich – wie aus dem Gesamtzusammenhang und den zitierten Entscheidungen ersichtlich ist – mit dem hier relevanten Fall einer Strafrahmenverschiebung infolge eines vertypten Milderungsgrundes nach § 49 StGB. Und für diesen Fall stützt der 3. Strafsenat den Verbrauch des vertypten Milderungsgrundes "als solchem" auf § 50 StGB.

[14] Der zitierte Satz aus der Entscheidung 3 StR 452/13 betrifft ebenso wie 2 StR 535/92 und die zitierten Kommentarfundstellen die Konstellation eines minder schweren Falles.

[15] Vgl. nur die oben in Fn. 4 und 5 zitierten Entscheidungen.

[16] Nachdem es ausreicht, dass ein Beruhen des Urteils auf dem Fehler nicht auszuschließen ist, wird man – eine Gesetzesverletzung "Versuch zu Unrecht nicht in Gesamtabwägung eingestellt" unterstellt – ein Beruhen bejahen können. Sollte der BGH – wofür nichts spricht – Ausführungen zu Begleitumständen des Versuches vermisst haben, so sieht die Sache anders aus. Bei einem Täter, der seinem Opfer mit vier Messerstichen in Richtung des Oberkörpers Verletzungen an Brustkorb und Flanke zufügt und das fliehende Opfer dann noch unter Ausstoß von Morddrohungen verfolgt, liegen strafmildernde Begleitumstände des Versuches nämlich fern, womit man über die Beruhensfrage insoweit kräftig streiten könnte.

[17] Vgl. hierzu schon oben Fn. 8.

[18] S. nur BGH HRRS 2014 Nr. 329, BGH BeckRS 9998, 25006 und BGH BeckRS 1992, 31097271. Vgl. auch Fischer , 67. Auflage 2020, § 50 Rn. 6 sowie SSW-StGB/Eschelbach, StGB, 4. Auflage 2019, § 50 Rn. 18.

[19] Das ist deshalb keine Selbstverständlichkeit, weil das Landgericht vorab ausschließen musste, dass schon die allgemeinen Strafzumessungserwägungen bzw. die allgemeinen Strafzumessungserwägungen in Verbindung mit einem typisierten Strafmilderungsgrund den minder schweren Fall begründeten. Weiter musste das Gericht die Möglichkeit einer doppelten Strafrahmenverschiebung über §§ 21, 23 Abs. 2, 49 StGB im Blick behalten.

[20] Der Bundesgerichtshof hat Einzel- und Gesamtstrafe noch aus einem weiteren Grund aufgehoben. Er konnte den Ausführungen des Landgerichts nämlich nicht entnehmen, dass alternativ auch eine – ggf. sogar doppelte – Verschiebung über § 49 Abs. 1 StGB erwogen wurde. Vgl. näher BGH HRRS 2020 Nr. 169, Rz. 8.

[21] Dagegen ist vom Grundsatz her nichts einzuwenden, weil die Verwendung einheitlicher Formulierungen für eine höhere Verlässlichkeit der obergerichtlichen Rechtsprechung sorgt.

[22] Der minder schwere Fall der gefährlichen Körperverletzung wurde erst zum 1. Dezember 1994 ins Strafgesetzbuch eingeführt. Der vorherige § 223a StGB enthielt noch keinen minder schweren Fall.

[23] Für 2 StR 353/89 liegt das auf der Hand. Aber auch 3 StR 308/87 beschäftigt sich in der zitierten Passage mit dieser Konstellation ("Selbst in den Fällen des § 50 StGB …").

[24] BGH NJW 1989, 3230.

[25] Vgl. z.B. auch BGH BeckRS 2000, 30094628.

[26] BGH NJW 1989, 3230.