HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2021
22. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Abtreibung oder Tötung eines Zwillings bei Kaiserschnitt

Anmerkung zu BGH HRRS 2021 Nr. 33

Von Prof. Dr. Wolfgang Mitsch, Potsdam[*]

I. Einleitung

Die in den BGH gesetzten Hoffnungen, er werde sich durch die Revision gegen das Urteil des LG Berlin zu einer wegweisenden Neubestimmung der strafrechtlich so folgenreichen und folgenschweren Abgrenzung von "Schwangerschaft" und "Leben" oder – gleichbedeutend – "Leibesfrucht" und "Mensch" (bzw. "Person") inspirieren lassen, haben sich nicht erfüllt.[1] Nach dem BGH beginnt die Qualität oder Eigenschaft als taugliches Opfer von Tötungs- und Körperverletzungsdelikten mit dem Beginn der Geburt, bei Kaiserschnittentbindung mit der Öffnung des Uterus. Daher war die Tötung des zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Zwillings nicht Schwangerschaftsabbruch (§ 218 StGB), sondern Totschlag (§ 212 StGB).[2] Nach einer solchen Weichenstellung auf der Ebene des objektiven Tatbestandes ist das Ergebnis vorgezeichnet und auf den folgenden Stufen des Deliktsaufbaus kaum noch abwendbar.[3] Die Geltendmachung des Vorsatzmangels durch die Angeklagten ist angesichts ihrer Berufserfahrung nicht überzeugend. Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründe sind de lege lata nicht ersichtlich.[4]

II. Tötungsdelikt oder Schwangerschaftsabbruch

1. Totschlag, § 212 StGB

Das Reichsgericht hätte vielleicht anders als der BGH einen – dogmatisch zweifelhaften – Weg gefunden, den Angeklagten den Totschlagsvorwurf zu ersparen. Denn ein wenig ähnelt die Interessenkonstellation im "Berliner Zwillings-Fall" der, die der berühmten "Badewannen-Entscheidung" (RGSt 74,84) zugrunde gelegen hatte.[5] Dort wurde die Täterrolle der am Tötungsgeschehen weitgehend passiv beteiligten Kindesmutter zugeschrieben, während ihre Schwester, die das Neugeborene eigenhändig in der Badewanne ertränkte, nur Gehilfin gewesen sei.[6] Die Nachteile, auf deren Abwendung sich das Interesse an der Kindestötung bezog, hätten die Kindesmutter getroffen, nicht ihre Schwester. Daraus leitete der 3. Strafsenat des RG den animus auctoris der dann nur auf der Grundlage des § 217 StGB aF strafbaren nichtehelichen Mutter ab.[7] Im Berliner Fall ging es ebenfalls ausschließlich um die Abwendung von Nachteilen für die Schwangere, was ja bis zur Geburt ohne Weiteres für eine Rechtfertigung nach § 218 a Abs. 2 StGB gereicht hätte. Die Angeklagten handelten im Interesse ihrer Patientin, eine streng subjektive Tätertheorie könnte ihnen deshalb bloßen animus socii attestieren. Das würde für Straflosigkeit ausreichen, wenn der Täterin – der Schwangeren – der Vorsatz bezüglich des Lebensbeginns gefehlt hätte. Nun ist eine Rückkehr zu einer Lehre, die Entscheidungen wie "Badewanne" oder später "Staschinsky"[8] hervorbrachte, schon wegen des entgegenstehenden Wortlauts des § 25 Abs. 1 StGB ausgeschlossen.[9]

Gleichwohl hätten die BGH-Richter Anlass gehabt, sich bei der Findung ihrer eigenen Entscheidung an den Badewannen-Fall zu erinnern und von ihm inspirieren zu lassen. Sie hätten dann einen anderen Weg eingeschlagen und wären zu einer Entscheidung gekommen, die nicht nur die Angeklagten erfreut, sondern auch ein anderes Echo in der Fachliteratur hervorgerufen hätte. Wenn es denn stimmt, was der ehemalige Richter am Reichsgericht Fritz Hartung – aus heutiger Sicht im Lichte des damals noch nicht geltenden § 43 DRiG bedenklich – in einem Aufsatz, der 1954 in der Juristenzeitung veröffentlicht wurde, offenbarte, so lag der dogmatisch fragwürdigen Entscheidung eine ethisch bemerkenswerte Motivation zugrunde.[10] Der eigenhändig das Baby ertränkenden Schwester hätte auf der Grundlage des § 211 StGB die Todesstrafe gedroht, wenn sie als Täterin wegen Mordes verurteilt worden wäre. Obwohl auf der Grundlage der aktuell geltenden Fassung des § 211 Abs. 2 StGB nicht zu erkennen ist, welches Mordmerkmal bei der Tötung des Säuglings erfüllt worden sein soll, war die Würdigung der Tat als Mord nach dem zur Tatzeit geltenden Strafrecht richtig. Die Reichsgerichtsentscheidung erging im Jahr 1940, die Tatzeit liegt also noch länger zurück. Zu diesem Zeitpunkt war § 211 StGB noch in der Fassung in Kraft, die der Vorschrift 1871 verliehen worden war. Mord war demnach die Tötung "mit Überlegung", eine Voraussetzung, deren Erfüllung durch die Angeklagte nicht zu bestreiten ist.[11] Obwohl an sich die damalige Anwendung des § 211 StGB im Banne der Doktrin vom "Tätertyp" stand und damit Gerichte über ein Instrument verfügten, mit dem ein Angeklagter trotz Erfüllung der Tatbestandsmerkmale vor der Verurteilung wegen Mordes bewahrt werden konnte, war mit einer derartigen Milde im nationalsozialistischen Deutschland nicht zu rechnen.[12] Tatsächlich war die Schwester in erster Instanz wegen Mordes zum Tode verurteilt worden. Anders die Richter des Reichsgerichts: "Das junge Mädchen aber dem Henker zu überantworten, das schien dem Senat nach Lage des Falles unerträglich zu sein."[13] Zur bloßen Mordgehilfin herabgestuft war die Angeklagte "auf der relativ sicheren Seite". Zwar wäre die Strafe nach § 211 StGB festzusetzen, "jedoch nach den über die Bestrafung des Versuches aufgestellten Grundsätze zu ermäßigen" gewesen, § 49 Abs. 2 StGB a.F. Das bedeutete, dass bei einem Verbrechen, dessen Vollendung mit dem Tode oder mit lebenslänglichem Zuchthaus bedroht war, Zuchthausstrafe nicht unter drei Jahren (bis zu 15 Jahren, § 14 Abs. 2 StGB a.F.) zu verhängen war, § 44 Abs. 2 StGB a.F. Der Täterin der Kindestötung drohten von vornherein "nur" drei bis fünfzehn Jahre Zuchthaus, § 217 Abs. 1 StGB.

Mit der trickreichen Rollenvertauschung schafften die Richter[14] es, auch die Schwester vor dem Schafott[15] zu retten: "In der erneuten Verhandlung des Falles ist das Mädchen nur der Beihilfe zum Morde schuldig erkannt worden, und die Todesstrafe ist ihm erspart geblieben".[16]

Mitleid und das tiefe Empfinden von Ungerechtigkeit mögen die Herren Reichsgerichtsräte zu ihrer Rettungsaktion bewogen haben. Dazu haben sie das geltende Recht bis zur Schmerzgrenze verbogen und damit fassungsloses Staunen und beißende Kritik ausgelöst. Das sollte den Richtern, die für die Strafrechtsanwendung im "Berliner Zwillingsfall" zuständig waren, natürlich nicht zugemutet werden. Es wäre ihnen aber auch nicht zugemutet worden, weil sie − anders als die Mitglieder des RG-Senates – sich keine Entscheidungsbegründung hätten abringen müssen, mit der sie in gefährliche Nähe zur "Beugung des Rechts" (§ 339 StGB) geraten wären. Andererseits ist die strafrechtliche Würdigung des ärztlichen Handelns durch LG Berlin und BGH nicht nur vertretbar, sondern gut nachvollziehbar und absolut im Einklang stehend mit allen relevanten Vorschriften und deren bisheriger Auslegung durch Rechtsprechung und Strafrechtslehre. Menschliches Leben im strafrechtlichen Sinne existiert nach immer noch herrschender Auffassung ab dem Beginn des Geburtsvorganges. Die Richter haben nach juristischen Maßstäben keine Fehlentscheidung getroffen.[17] Dennoch hätten sie anders entscheiden sollen und dies auch gekonnt. Dazu gäbe ein empathisches Sichhineinversetzen in die Lage der Ärzte ausreichend Anlass. Zwar ging es für die Angeklagten nicht wie für die Schwester der Kindesmutter im Badewannen-Fall um Leben oder Tod. Aber die Folgen einer Verurteilung wegen Totschlags für die berufliche und gesellschaftliche Existenz sind auch keine Bagatellen. Nun könnte man achselzuckend einwenden, die Ärzte hätten dies ja vermeiden können, indem sie auch den zweiten Zwilling schwerst behindert, aber lebendig aus dem Mutterleib geholt hätten.[18] So einfach war es jedoch keineswegs. Einen anderen Menschen nicht zu töten, ist im Normalfall nicht schwer, weil eine solche Unterlassung im Normalfall keine relevanten Nachteile mit sich bringt. Daher erzeugt die Verurteilung als "Verbrecher" und die Bestrafung mit langjährigem Freiheitsentzug im Normalfall auch kein Gerechtigkeitsproblem. Aber ein Normalfall war die Todesverursachung in Anbetracht der außergewöhnlichen Umstände hier nicht. Egal, wie die Ärzte gehandelt hätten, in jedem Fall wäre eine schwierige Konfliktlösungsentscheidung notwendig gewesen. In jedem Fall wäre ihre Entscheidung mit erheblichen Risiken und der Folge wenigstens moralischen Fehlverhaltenstadels verbunden gewesen. Vor allem: als "Garanten" (§ 13 StGB) befanden sich die Ärzte in einer juristischen Falle. Sie konnten sich nicht wie der qualifikationslose Bürger jeglicher strafrechtlicher Verantwortung durch schlichtes Nichtstun entziehen. Sie mußten also handeln und keine der möglichen Alternativen eröffnete die Aussicht auf ein Ergebnis, mit dem am Ende alle zufrieden wären. Die zeitlich prioritäre Maßnahme, nämlich ein Schwangerschaftsabbruch vor Beginn der Geburt, wäre für die Ärzte die vorteilhafteste Variante gewesen. Die

Abtreibung des schwerst geschädigten Fötus wäre gemäß § 218 a Abs. 2 StGB gerechtfertigt.[19] Hätte dieser Eingriff unvermeidbar auch den gesunden Fötus getötet, läge auch dieser Erfolg noch im Rechtfertigungsbereich des § 218 a Abs. 2 StGB.[20] Zwar entspräche dieser Ausgang nicht dem Willen der Schwangeren. Wenn sie aber in Kenntnis des Risikos ihre Einwilligung in den Abort erteilt hätte, dann bezöge diese auch den unerwünschten Tod des gesunden Kindes mit ein. Die Ärzte haben mit Rücksicht auf den verständlichen Wunsch der Schwangeren, wenigstens ein gesundes Kind lebend zu gebären, von diesem Schwangerschaftsabbruch abgesehen und sich auf die für sie selbst rechtlich riskantere Alternative eingelassen. Dabei lag jedoch ein Eingriff gegenüber dem behinderten Fötus, der noch in den sicheren Bereich der §§ 218, 218 a StGB fiele, jenseits der medizinischen Möglichkeiten. Dieser mußte entweder als "Mensch" getötet werden oder wie sein gesunder Zwilling lebend zur Welt gebracht werden. Letzteres nicht getan zu haben, wirft die Justiz den Angeklagten vor. Und in der Tat wäre das die Alternative gewesen, durch deren Wahl die Angeklagten sich jeglicher strafrechtlicher Konsequenzen enthoben hätten. Sie hätten aber damit nicht nur gegen den Willen der Schwangeren gehandelt. Sie hätten vielmehr dazu beigetragen, dass von der Mutter, die nun nicht mehr "Schwangere" ist, die "Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes" nicht abgewendet wird. Denn an der Notlage, die wenige Minuten zuvor noch die Tötung des nasciturus im Mutterleib gerechtfertigt hätte, hat sich in der Geburt und hätte sich nach der Geburt nichts geändert. Geändert hat sich die Qualität des Gutes, gegen dessen Erhaltung das Interesse an der Abwendung der Gefahr für die Frau abzuwägen ist. Diese Änderung ist nach der herrschenden Anschauung vom Beginn des Lebens so schwerwiegend, dass nach Ansicht der Gerichte weder eine Rechtfertigung noch eine Entschuldigung mehr möglich sei. In Bezug auf § 34 StGB ist das gewiss zutreffend[21], soweit es um § 35 StGB geht, schadet den Angeklagten wohl nur, dass sie keine der Frau nahestehenden Personen sind.

Straflosigkeit ist in dem Fall somit allein durch Weichenstellung auf der Stufe des objektiven Tatbestandes erreichbar. Dazu bedürfte es einer Verschiebung der Grenze zwischen nasciturus und Mensch. Nicht beim Beginn der Geburt, sondern bei deren Vollendung müßte die Linie gezogen werden.[22] Der Wortlaut des Gesetzes, also z. B. § 212 StGB, stünde dem nicht entgegen, wenngleich der frühere Zeitpunkt der Menschwerdung ebenfalls mit dem Wortlaut vereinbar ist.[23] Was ein "Mensch" ist, legt das StGB nicht fest und ist deshalb einer Auslegung zugänglich. Diese könnte auch restriktiver sein als die in Rechtsprechung und Lehre zugrunde gelegte. Die einst aus § 217 StGB aF abgeleitete und aus systematischen Gründen für alle Tötungs- und Körperverletzungstatbestände einheitlich geltende Bindung des Menschseins an den Beginn der Geburt existiert nach dem ersatzlosen Wegfall des Kindestötungstatbestandes nicht mehr.[24] Letztlich sind es also teleologische Erwägungen, die für den frühen Zeitpunkt sprechen. Da § 218 StGB Beschädigungen des nasciturus, die zur Geburt eines behinderten Säuglings führen, sowie den fahrlässigen Abbruch der Schwangerschaft nicht erfasst, bestünde eine Schutzlücke, wenn §§ 211 ff, 223 ff StGB nicht anwendbar wären.[25] Denn in der Phase der Geburt ist das Mensch werdende Lebewesen spezifischen Risiken und Gefahren – insbesondere geburtshelferlichen Fehlverhaltens – ausgesetzt, die ein Bestrafungsbedürfnis erzeugen.[26] Im zu entscheidenden Fall bestand dieses Bedürfnis nicht. Daher hätte sich der 5. Strafsenat von der ständigen Rechtsprechung abwenden und damit zugleich den Gesetzgeber zu notwendigen Reformschritten auffordern können.[27]

2. Mord, § 211 StGB

Die geltende Fassung des § 211 StGB erweist sich mitunter als durchaus geeignete Rechtsgrundlage für Verurteilungen wegen Mordes, gegen die nicht nur das Rechtsgefühl, sondern vor allem auch die Vernunft heftigst protestieren. Fälle der Tötung eines "Haustyrannen" durch eine jahrelang gepeinigte und gedemütigte Ehefrau sind dafür paradigmatisch.[28] Der vorliegende Sachverhalt evoziert – wie gesehen − erhebliche Bedenken sogar gegen die Verurteilung wegen Totschlags. Wie sähen wohl die Reaktionen aus, wenn die Angeklagten wegen Mordes schuldig gesprochen worden wären? Aber wäre das so abwegig? Der BGH hat die Strafzumessungsbegründung des LG Berlin beanstandet, mit der den Angeklagten angelastet wurde, "dass sie die Tat nicht etwa in einer schnelle Entscheidungen erfordernden Notfallsituation begangen haben, sondern vielmehr planvoll ein mehr als zwei Wochen zuvor verabredetes Vorgehen umsetzten". Die strafschärfende Berücksichtigung dieses Umstands sei rechtsfehlerhaft. Auf der Basis des Mordtatbestandes von 1871, nach dem Mord eine Tötung "mit Überlegung" war[29], erschiene die Wertung der Strafkammer aber zunächst einmal gesetzeswortlautkonform. Es hätte also einer teleologischen Reduktion der Strafvorschrift bedurft, um das wertungsmäßig richtige Ergebnis nicht als Mißachtung des sprachlich eindeutigen Gesetzesbefehls erscheinen zu lassen. Für diese Einschränkung gibt der Senat hier eine überzeugende Erklärung, indem er die sorgfältige Planung und Vorbereitung des Eingriffs nicht als "Ausdruck krimineller Energie" identifiziert. Spezifische Schwächen waren dem Mordmerkmal "mit Überlegung" immanent und seine Beseitigung ist kein Verlust. Was allerdings im Jahr 1941 an seine Stelle gesetzt wurde, kann auch niemanden zufriedenstellen. Inwieweit Staatsanwaltschaft und Gerichte über Mordmerkmale

nachgedacht haben, ist nicht bekannt. Elisa Hoven berichtet in ihrem Beitrag, der Vorsitzende Richter am LG Berlin habe das Vorgehen der Ärzte als "Aussortieren" des kranken Zwillings und als "Schlag ins Gesicht behinderter Menschen" kritisiert.[30] Vielleicht hatte er dabei Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG vor Augen. Einen "niedrigen Beweggrund" hat das Gericht gleichwohl nicht angenommen. Dass offenbar auch das Mordmerkmal "Heimtücke" nicht in Erwägung gezogen wurde, ist menschlich verständlich, juristisch einleuchtend hingegen nicht. Gewiss ist das getötete Kind arglosigkeitsuntauglich[31] und die Mutter als "schutzbereite Dritte"[32] war tatsächlich nicht arglos. Aber hat es keine anderen Personen gegeben, die hätten schützend eingreifen können oder müssen und dies nicht getan haben, weil sie arglos waren? Selbst wenn das nicht der Fall war, sind die Angeklagten recht glücklich der Verurteilung aus § 211 StGB entgangen. In dem Abschlussbericht der Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte war eine Ergänzung des Heimtückemerkmals um die Variante "oder einer aus anderen Gründen bestehenden Schutzlosigkeit" vorgeschlagen worden. Diese wäre in dem Fall gewiss einschlägig. Zwar ist die Reform in der 18. Legislaturperiode gescheitert und die Mordmerkmalserweiterung hätte gemäß § 2 Abs. 1, Abs. 3 StGB in dem Verfahren nicht gegolten. Die Reformbedürftigkeit des § 211 StGB existiert jedoch, seit die 1941 geschaffene Gesetzesfassung geltendes Recht ist. Es hätte also schon früher zu einer Umgestaltung des § 211 StGB kommen können, mit der die nicht heimtückische Tötung eines Säuglings in den Katalog der Mordmerkmale aufgenommen wird. Nach geltendem französischen Strafrecht wäre die Tötungsqualifikation sogar zweifach begründet: wegen Tötung mit "Vorbedacht" (Art. 221-3 c.p.) und weil das Opfer ein Minderjähriger unter 15 Jahren ist (Art. 221-4 Nr. 1 c.p.).

Die manchem vielleicht deplatziert erscheinenden Bemerkungen zu § 211 StGB sollen den Blick dafür öffnen, dass hinter dem "Statuswechsel" des Opfers noch krassere Wertungsdiskrepanzen lauern, als den mit dem "Berliner Zwillingsfall" kraft Amtes befaßten und seine justizielle Behandlung kritisch kommentierenden Juristen vor Augen stand. Der denkbare "worst case" ist nicht, was hier passiert ist, die Verurteilung wegen Totschlags, sondern die Verurteilung wegen Mordes.

III. Strafbarkeit der Schwangeren

Es ist nicht bekannt, ob die Justiz auch gegen die Mutter der Zwillinge ein Strafverfahren durchgeführt und mit welchem Ergebnis dieses geendet hat. Nachdem das Handeln der Ärzte nicht als Schwangerschaftsabbruch, sondern als Totschlag bewertet wurde, fällt es nicht ganz leicht zu begründen, dass das Verhalten der Mutter straflos ist. Dem getöteten Kind gegenüber hatte sie eine Beschützergarantenstellung. Daraus könnte sich im Verhältnis zu den Ärzten eine täterschaftliche Beteiligtenposition ergeben.[33] Allerdings hatte sie während der sectio keine Möglichkeit des rettenden Eingreifens. Anzuknüpfen ist also an ihr Verhalten vor der Geburt. Da die Ärzte gewiss nicht ohne Einwilligung der Schwangeren tätig geworden sind, kommt jedenfalls Anstiftung in Betracht. Möglicherweise waren der Schwangeren aber nicht die Tatsachen bewusst, die nach Ansicht der Gerichte die Tat aus dem Bereich des § 218 StGB in den Bereich des § 212 StGB verlagerten. Auch die Angeklagten hatten sich – erfolglos – auf Vorsatzmangel (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB) berufen. Das hatte ihnen die Strafkammer nicht abgenommen, da sie "langjährig erfahrene und fachlich besonders versierte Geburtsmediziner" gewesen sind. Der Schwangeren einen entsprechenden Kenntnisstand zu unterstellen wäre lebensfremd. Dass sie strafrechtlich unbehelligt blieb, dürfte wohl auf § 16 Abs. 1 S. 1 StGB zurückzuführen sein.

IV. Schluss

Der "Berliner Zwillingsfall" hat Ansätze einer Debatte über das strafrechtliche Reglement des Geburtsgeschehens ausgelöst. Wünschenswert wäre darüber hinaus ein Revival von 2014. Damit meine ich den leider gescheiterten Versuch einer Reform der Tötungsdelikte. Damals wurde einige Monate lang mit Engagement und Intensität darüber diskutiert, wie man §§ 211 ff StGB verbessern könnte. Endlich ist der lange Winterschlaf zu Ende, so glaubten vielleicht auch andere. Leider war das nur ein kurzlebiges Aufflackern. Alsbald nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts der Arbeitsgruppe kam der Mehltau zurück.


[*] Der Verfasser ist Professor für Strafrecht an der Universität Potsdam.

[1] Zutreffend prognostiziert von Lorenz/Bade ZfL 2020, 429, 455, die eine Abkehr von der h. M. als "wünschenswert" bezeichneten, aber zugleich wenig Hoffnung sahen, dass sich der 5. Strafsenat dieser Sichtweise anschließen würde.

[2] Zur Strafbarkeit aus § 211 StGB unten B. II.

[3] Lorenz/Bade ZfL 2020, 429, 450.

[4] Hoven medstra 2020, 65, 66 hält allerdings einen Verbotsirrtum für "nicht so abseitig, wie das Landgericht Berlin offenbar meint". Das ist richtig, die entscheidende Frage ist aber die Vermeidbarkeit dieses Irrtums.

[5] Aus der jüngeren Literatur sehr lesenswert Renzikowski, in: Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil 2, 8. Aufl. (2014), § 47 Rn. 43 ff.

[6] Gegen die Täterqualifikation der Kindesmutter ist im Ergebnis aus heutiger Sicht wegen § 13 StGB nichts einzuwenden. Kritikwürdig ist die RG-Entscheidung allein wegen der Herabstufung der eigenhändig tötenden Schwester zur bloßen Gehilfin. Insoweit dürften die RG-Richter Rechtsbeugung begangen haben.

[7] Der Tatbestand "Kindestötung" war ein privilegierender Tatbestand der vorsätzlichen Tötung und verdrängte daher auf der Ebene der Gesetzeskonkurrenz den § 212 StGB sowie auch den § 211 StGB; vgl. Struensee, in: Dencker/Struensee/Nelles/Stein, Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz 1998, 2. Teil Rn. 5.

[8] BGHSt 18, 87.

[9] Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. (1996), § 61 IV 3; Renzikowski, in: Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, 8. Aufl. (2014), § 47 Rn. 51; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil II, 2003, § 25 Rn. 41.

[10] Hartung JZ 1954, 430.

[11] Hartung JZ 1954, 430.

[12] Nach Hartung JZ 1954, 430 sei ein "Ausweichen" in den Totschlag nach Lage der Sache nicht möglich gewesen.

[13] So Hartung JZ 1954, 430.

[14] Den Anstoß dazu gab Hartung nach eigenem Bekunden selbst, ders. JZ 1954, 430, 431: "Und ich stehe nicht an, einzugestehen, daß ich selbst es gewesen bin, der ihn vorgeschlagen hat."

[15] § 13 StGB a.F.: "Die Todesstrafe ist durch Enthauptung zu vollstrecken".

[16] Hartung JZ 1954, 430, 431.

[17] Grünewald ZfL 2020, 419, 426 Fn. 28.

[18] Vgl. den Hinweis auf entsprechende Argumentation der Staatsanwaltschaft bei Grünewald ZfL 2020, 419, 427 Fn. 29.

[19] Grünewald ZfL 2020, 419, 425.

[20] Grünewald ZfL 2020, 419, 426; Hoven medstra 2020, 65.

[21] Grünewald ZfL 2020, 419, 427.

[22] Dafür im Ergebnis Hoven medstra 2020, 65, 66; Lorenz/Bade ZfL 2020, 429, 446.

[23] Schneider, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 3. Aufl. (2017), vor § 211 Rn. 7; a. A. Lorenz/Bade ZfL 2020, 429, 444.

[24] Lorenz/Bade ZfL 2020, 429, 442; Schneider, in: Müko-StGB, Bd. 4, 3. Aufl. (2017), vor § 211 Rn. 7.

[25] Lorenz/Bade ZfL 2020, 429, 435.

[26] Lorenz/Bade ZfL 2020, 429, 45); Schneider, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 3. Aufl. (2017), vor § 211 Rn. 8.

[27] Vorschläge dazu bei Lorenz/Bade ZfL 2020, 429, 450 ff.

[28] BGHSt 48, 255.

[29] "Wer vorsätzlich einen Menschen tödtet, wird, wenn er die Tödtung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft."

[30] Hoven medstra 2020, 65, 66.

[31] Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 22. Aufl. (2021), § 4 Rn. 57.

[32] Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 22. Aufl. (2021), § 4 Rn. 62.

[33] Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), vor § 25 Rn. 90 ff.