HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2005
6. Jahrgang
PDF-Download

Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

847. BGH 4 StR 216/05 - Urteil vom 15. September 2005 (LG Saarbrücken)

Strafbefreiender Rücktritt (fehlgeschlagener Versuch; Freiwilligkeit; mögliche Eigengefährdung); Doppelverwertungsverbot; Schwangerschaftsabbruch; tiefgreifende Bewusstseinsstörung (affektbedingte Minderung der Steuerungsfähigkeit).

§ 22 StGB; § 24 StGB; § 46 Abs. 3 StGB; § 218 StGB; § 21 StGB

1. Ein Fehlschlag, der nach der Rechtsprechung einen Rücktritt ausschließt (vgl. BGHSt 34, 53, 56; 39, 221, 228), liegt vor, wenn der Täter die Tat, wie er weiß, mit den bereits eingesetzten oder den zur Hand liegenden Mitteln nicht mehr ohne zeitliche Zäsur vollenden kann (vgl. BGHSt 39, 221, 228; BGHSt 41, 368, 369), so dass ein erneutes Ansetzen notwendig ist, um zu dem gewünschten Ziel zu gelangen (vgl. BGHSt 39, 221, 232; 41, 368, 369).

2. Hat sich aus der Sicht des Täters durch nicht vorhergesehene Umstände das für ihn mit der Tatbegehung verbundene Risiko beträchtlich erhöht und sieht er deshalb von der weiteren Tatausführung ab (BGH NStZ 1993,

76, 77 und 279 jew. m. w. Nachw.), ist der Rücktritt nicht freiwillig.

3. Die Verletzung mehrerer Strafgesetze (hier: §§ 212, 218 StGB) durch dieselbe Handlung ist jedenfalls dann ein Grund, die Tat innerhalb des Strafrahmens der insoweit bestimmenden Norm nachteiliger zu bewerten, wenn das tateinheitlich verwirklichte Delikt selbständiges Unrecht verkörpert (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Wertungsfehler 20; BGH NStZ 1993, 434).


Entscheidung

832. BGH 3 StR 324/05 - Beschluss vom 20. September 2005 (LG Oldenburg)

Überzeugungsbildung; Beweiswürdigung (Schluss von der äußeren auf die innere Tatseite; Nachtatverhalten; Alkoholisierung); Tötungsvorsatz.

§ 261 StPO; § 212 StGB; § 15 StGB

1. Wer gegen sein Opfer äußerst gefährliche Gewalthandlungen ausführt, wird in aller Regel erkennen, dass sein Tun zum Tod des Geschädigten führen kann, und diesen Erfolg, da er von seinem Vorhaben trotz der Erkenntnis der Gefährlichkeit seines Handelns keinen Abstand nimmt, auch zumindest billigend in Kauf nehmen. Daher muss der Tatrichter hier im Allgemeinen seine Schlussfolgerung vom objektiven Tatgeschehen auf den bedingten Tötungsvorsatz nicht näher begründen.

2. Anders liegt es aber, wenn sich aus dem Tatbild besondere Umstände ergeben, die es zweifelhaft erscheinen lassen können, ob der Täter tatsächlich die Lebensgefährlichkeit seines Tuns erkannt beziehungsweise den Tod seines Opfers im Sinne billigender Inkaufnahme hingenommen hat. Solche Umstände können in besonders starker Alkoholisierung und im Nachtatverhalten (Rettungsversuche) zu sehen sein und dürfen bei der Überzeugungsbildung zur subjektiven Tatseite zumindest nicht völlig unberücksichtigt bleiben, wenn sie auch der Feststellung bedingten Tötungsvorsatzes nicht zwingend entgegenstehen.

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

872. BGH 3 StR 60/05 - Urteil vom 28. Juli 2005 (LG Karlsruhe)

BGHSt; Zur Strafbarkeit der Parole "Ruhm und Ehre der Waffen-SS" (Waffen-SS als nationalsozialistische Organisation; Hitlerjugend; Begriff "zum Verwechseln ähnlich"; Gesamtvergleich bei veränderten Parolen); Verbreitung über einen Anrufbeantworter; Strafbarkeit bei Verwendung als Propagandamittel (aktiv kämpferische, aggressive Tendenz gegen die freiheitliche Grundordnung; Fortsetzung der Bestrebungen der ehemaligen nationalsozialistischen Organisation; Wewelsburg).

§ 86 a Abs. 2 Satz 2 StGB; § 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB; § 86 Abs. 2 StGB

1. Zur Frage, wann ein verwendetes Kennzeichen einem Originalkennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation nach Änderungen und/oder Zusätzen zum Verwechseln ähnlich ist. (BGHSt)

2. Die Verwendung eines Fantasiekennzeichens oder eines erheblich abgewandelten Kennzeichens, das dem Originalkennzeichen nicht zum Verwechseln ähnlich ist, wird auch dann nicht von § 86 a Abs. 2 Satz 2 StGB erfasst, wenn es den Anschein erweckt, es handele sich um ein Kennzeichen dieser Organisation. (BGHSt)

3. Die Parole "Ruhm und Ehre der Waffen-SS" ist weder der Originalparole der Hitlerjugend noch derjenigen der Waffen-SS zum Verwechseln ähnlich. (BGHSt)

4. "Zum Verwechseln ähnlich" im Sinne des § 86 a Abs. 2 Satz 2 StGB ist eine Parole - wie auch ein sonstiges Kennzeichen - dann, wenn ein gesteigerter Grad sinnlich wahrnehmbarer Ähnlichkeit gegeben ist. Erforderlich ist eine objektiv vorhandene Übereinstimmung in wesentlichen Vergleichspunkten. Es muss nach dem Gesamteindruck eines durchschnittlichen, nicht genau prüfenden Betrachters eine Verwechslung mit dem Original möglich sein. Dafür genügt nicht, dass sich lediglich einzelne Merkmale des Vorbilds in der Abwandlung wieder finden, ohne dass dadurch einem unbefangenen Betrachter, der das Original kennt, der Eindruck des Originalkennzeichens vermittelt wird (BGH NStZ 2003, 31, 32). (Bearbeiter)

5. Bei der Waffen-SS handelt es sich um eine ehemalige nationalsozialistische Organisation im Sinne von § 86 a Abs. 1 Nr. 1, § 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB, so dass sowohl die Verbreitung von Propagandamitteln, die nach ihrem Inhalt dazu bestimmt sind, ihre Bestrebungen fortzusetzen, als auch die Verwendung ihrer Kennzeichen strafbar ist. (Bearbeiter)

6. Wird die Parole einer nationalsozialistischen Organisation - unverändert oder nur geringfügig verändert - um einen Zusatz (hier "der Waffen-SS") erweitert, hängt die Frage, ob die neue Parole der ursprünglichen zum Verwechseln ähnlich ist, von einem Gesamtvergleich ab. Dabei ist im Einzelfall nach Form und Inhalt zu beurteilen, ob in der neu entstandenen Parole ungeachtet der vorgenommenen Ergänzungen und - gegebenenfalls - Änderungen letztlich die Originalparole hervorsticht und Aussage sowie Erscheinungsbild prägt. (Bearbeiter)

7. Die Verwen-

dung von Kennzeichen der hier in Rede stehenden Art, auch wenn sie nicht vom Tatbestand des § 86 a StGB erfasst wird, ist jedoch nicht notwendigerweise straflos. Sie kann im Einzelfall - unter Berücksichtigung der ihn prägenden Umstände - nach anderen Vorschriften strafbar sein. Nämlich dann, wenn die Verwendung von Kennzeichen unter solchen Umständen erfolgt, dass es sich nach der Gesamtaussage um Propagandamittel im Sinne des § 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB handelt, die nach ihrem Inhalt gegen die freiheitliche Grundordnung gerichtet und dazu bestimmt sind, Bestrebungen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation fortzusetzen. (Bearbeiter)


Entscheidung

835. BGH 1 StR 159/05 - Urteil vom 8. September 2005 (LG Hof)

Feststellung der besonderen Schwere der Schuld (Begehung eines weiteren Mordmerkmals; gebotene Gesamtwürdigung einschließlich der Täterpersönlichkeit); Mord (grausam: Verursachung und Aufrechterhaltung von Todesangst).

§ 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB; § 57b StGB; § 211 Abs. 2 StGB

1. Die Entscheidung über die Frage, ob die besondere Schuldschwere im Sinne von § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu bejahen ist, hat der Tatrichter ohne Bindung an begriffliche Vorgaben im Wege einer zusammenfassenden Würdigung von Tat und Täterpersönlichkeit zu treffen, wobei ein Bejahen nur möglich ist, wenn Umstände von Gewicht vorliegen. Dem Revisionsgericht ist bei der Nachprüfung der Entscheidung eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle versagt; es hat lediglich zu prüfen, ob der Tatrichter alle maßgeblichen Umstände bedacht und abgewogen hat, ist aber gehindert, seine eigene Wertung an die Stelle der tatrichterlichen Wertung zu setzen (BGHSt 40, 360, 370). Auf ein bloßes Zusammenzählen von Mordmerkmalen kommt es im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtwürdigung nicht an (vgl. BGHSt 41, 57, 63). Mitentscheidend ist insbesondere die Täterpersönlichkeit (hier: unterdurchschnittliche Intelligenz des Angeklagten).

2. "Grausam" tötet, wer dem Opfer aus gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung, Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zufügt, die nach Stärke oder Dauer über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgehen (st. Rspr., vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2 Grausam 1 m.w.N.). Die Grausamkeit muss nicht notwendig in der eigentlichen Ausführungshandlung im engeren Sinne und den durch diese verursachten Leiden liegen; sie kann sich auch aus den Umständen ergeben, unter denen die Tötung eingeleitet und vollzogen wird. Das grausame Verhalten muss vor Abschluss der den tödlichen Erfolg herbeiführenden Handlung auftreten und vom Tötungsvorsatz umfasst sein (vgl. BGHSt 37, 40 m.w.N.).


Entscheidung

840. BGH 1 StR 86/05 - Urteil vom 20. September 2005 (LG Mosbach)

Geiselnahme (funktionaler und zeitlicher Zusammenhang); Nötigungserfolg (ausreichende Teilerfolge); Freiheitsberaubung; schwere Körperverletzung (dauerhafte Entstellung); angemessene Rechtsfolge; Entziehung der Fahrerlaubnis (Bereitschaft, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Bedürfnissen unterzuordnen).

§ 239b StGB; § 240 StGB; § 239 StGB; § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 69 StGB; § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es erforderlich, dass zwischen der Entführung eines Opfers und einer beabsichtigten Nötigung ein funktionaler und zeitlicher Zusammenhang derart besteht, dass der Täter das Opfer während der Dauer der Entführung nötigen will (vgl. BGHSt 40, 350, 355, 359) und die abgenötigte Handlung auch während der Dauer der Zwangslage vorgenommen werden soll (BGHR StGB § 239b Entführen 4). Denn der Zweck dieser Strafvorschrift, die schon wegen ihrer hohen Mindeststrafe der einschränkenden Auslegung bedarf, besteht gerade darin, das Sich-Bemächtigen oder die Entführung des Opfers deshalb besonders unter Strafe zu stellen, weil der Täter seine Drohung während der Dauer der Zwangslage jederzeit realisieren kann (BGH, Beschluss vom 14. Mai 1996 - 4 StR 174/96).

2. Eine vollendete Nötigung liegt bereits dann vor, wenn der Täter mehrere Verhaltensweisen des Opfers erstrebt, aber nur eine davon realisiert wird (BGH bei Dallinger MDR 1972, 386 f.), wobei auch das Erreichen eines Teilerfolges des Täters, der mit Blick auf ein weitergehendes Ziel jedenfalls vorbereitend wirkt, für eine Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB) ausreichend sein kann. Ebenso kann eine beliebige Handlung, Duldung oder Unterlassung einen Nötigungserfolg im Sinne des § 239b StGB darstellen. Jedenfalls solche Handlungen des Opfers, die eine nach der Vorstellung des Täters eigenständig bedeutsame Vorstufe des gewollten Enderfolgs darstellen, führen zur Vollendung der mit der qualifizierten Drohung erstrebten Nötigung (BGHR StGB § 239b Nötigungserfolg 1).

3. Ob eine Rechtsfolge als angemessen im Sinne des § 354 Abs. 1a StPO angesehen werden kann, hat das Revisionsgericht auf der Grundlage der Feststellungen des angefochtenen Urteils unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte, insbesondere aller nach § 46 StGB für die Strafzumessung erheblichen Umstände zu beurteilen.


Entscheidung

834. BGH 3 StR 464/04 - Beschluss vom 9. August 2005 (LG Hannover)

Vergewaltigung (schutzlose Lage); sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen.

§ 177 Abs. 2 StGB; § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB

Eine schutzlose Lage im Sinne von § 177 StGB ergibt sich noch nicht allein daraus, dass sich der Täter mit dem Opfer allein in einer Wohnung befindet. Vielmehr müssen weitere Umstände hinzutreten, etwa die Einsamkeit der Wohnung, das Fehlen von Fluchtmöglichkeiten infolge Versperrens der Türe.


Entscheidung

827. BGH 3 StR 282/05 - Beschluss vom 15. September 2005 (LG Kleve)

Hehlerei (Absetzen; Absatzhilfe; Versuch).

§ 259 StGB

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann vollendete Hehlerei zwar auch dann vorliegen, wenn der Absatz an einen Dritten nicht durchgeführt und auch

noch nicht versucht worden ist; es ist nicht erforderlich, dass der Absatz schon gelungen ist. Die Vorbereitung eines späteren Absatzes stellt indessen nur dann eine vollendete Tat dar, wenn Umstände vorliegen, die für den Vortäter einen Beginn des Absetzens bedeuten.