HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2005
6. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

mit der Ausgabe November 2005 publizieren wir unter anderem den Beschluss des Großen Senats für Strafsachen zur Auslegung des Handeltreibens im Betäubungsmittelstrafrecht. Seitens des EGMR ist eine Entscheidung zur Isolationshaft aufgenommen, in welcher der EGMR auch die Absolutheit des Folterverbots bekräftigt. In unserer Publikationssparte wird die Entscheidung BGH HRRS 2005 Nr. 726 des 1. Strafsenats zum Recht auf Verfahrensbeschleunigung kritisch besprochen.

Viele weitere Entscheidungen von BVerfG und BGH laden dazu ein, die nunmehr verfügbare Ausgabe einzusehen.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

800. EGMR Nr. 69332/01 - Urteil 21. Juli 2005 (Rhode v. Dänemark)

Isolationshaft (Einzelhaft; Kontaktsperre; konkrete Begründung und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; medizinische [psychiatrische] Betreuung; Untersuchungshaftvollzug) und unmenschliche Behandlung (absolutes Folterverbot); Recht auf Freiheit und Sicherheit; Schweigerecht als Teilrecht des Rechts auf ein faires Verfahren; redaktioneller Hinweis.

Art. 3 EMRK; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 5 EMRK; § 112 StPO; § 119 Abs. 3 StPO

1. Art. 3 EMRK verbürgt nach ständiger Rechtsprechung einen der fundamentalsten Werte einer demokratischen Gesellschaft. Er verbietet in absoluter Form die Folter und die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung; unbeschadet der vorliegenden Umstände und des Verhaltens des Betroffenen.

2. Im Lichte des Art. 3 EMRK muss ein Staat gewährleisten, dass eine Person unter Bedingungen inhaftiert wird, welche die Menschenwürde achten, dass die Art und Weise der Vollstreckung der Maßnahme den Einzelnen nicht über das der Inhaftierung immanente Maß hinaus Schmerzen oder Härten unterwirft und dass die Gesundheit und das Wohlergehen des Inhaftierten im Rahmen der Erfordernisse der Inhaftierung gesichert bleiben, wobei Vorkehrungen für den erforderlichen medizinischen Beistand und eine medizinische Behandlung zu treffen sind. Bei der Einschätzung der Bedingungen einer Inhaftierung sind die kumulativen Effekte der Haftbedingungen ebenso wie das jeweilige Vorbringen des Beschwerdeführers zu berücksichtigen.

3. Isolationshaft ist nicht per se mit Art. 3 EMRK unvereinbar. Die fortgesetzte Vorenthaltung von Kontakten zu anderen ist zwar nach Art. 3 EMRK prinzipiell problematisch, jedoch nur nach den jeweils vorliegenden konkreten Bedingungen ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK. Zu diesen Bedingungen zählen die Striktheit der Maßnahme, das verfolgte Ziel und die Auswirkungen auf die betroffene Person.

4. Zu einem Einzelfall, in dem eine rund elfeinhalb Monate währende Isolationshaft mit vier zu drei Stimmen nicht als Verletzung angesehen worden ist.


Entscheidung

802. BVerfG 2 BvR 1618/05 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 26. Oktober 2005 (OLG Hamburg)

Freiheit der Person; Beschwerde gegen Haftbefehl (Bindung des Gerichtes der weiteren Beschwerde; keine Aufhebung eines Haftverschonungsbeschlusses bei alleiniger Beschwerde des Beschuldigten gegen die Aufrechterhalt-

ung des Haftbefehls); Willkürverbot; effektiver Rechtsschutz.

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG; § 116 Abs. 4 StPO; § 304 StPO

1. Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls durch den Richter nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben, gehört zu den bedeutsamsten (Verfahrens-)Garantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht. Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so ist jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich.

2. Jedenfalls in den Fällen, in denen alleine der vom Vollzug der Untersuchungshaft verschonte Beschuldigte Beschwerde gegen den Haftbefehl mit dem Ziel einlegt, diesen zu beseitigen, kommt der Widerruf einer gewährten Haftverschonung nur in Betracht, wenn sich die Umstände verändert haben. In diesen Fällen ist es unzulässig, auf die Beschwerde des Beschuldigten gegen einen einmal unangefochten außer Vollzug gesetzten Haftbefehl diesen wieder in Vollzug zu setzen, wenn die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO nicht vorliegen.

3. Den Rechtsmittelgerichten kommt, wenn allein der vom Vollzug der Untersuchungshaft verschonte Beschuldigte Beschwerde gegen den Bestand des Haftbefehls einlegt, mit Blick auf die in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Entscheidung eine eigene Beurteilungskompetenz nicht zu. Sie sind an die Beurteilung der Umstände durch das die Haftverschonung anordnende Gericht gebunden.


Entscheidung

804. BVerfG 2 BvR 1019/01 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 26. September 2005 (OLG Köln/LG Köln)

Freiheit der Person (Vollstreckungsreihenfolge; Unterbringung in einer Entziehungsanstalt; Freiheitsstrafe); verfassungswidrige Praxis einer regelmäßigen dreimonatigen Organisationshaft (Verzögerungen des Aufnahmeersuchens ohne nachvollziehbaren Umstände; dreiwöchiges Abwarten nach Rechtskraft); fortbestehendes Rechtschutzbedürfnis bei der Verfassungsbeschwerde (Erledigung; tief greifende Grundrechtseingriffe);

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 1, Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG; § 63 StGB; § 64 StGB

1. Das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG erfordert es, Freiheitsstrafe und die Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt einander so zuzuordnen, dass die Zwecke beider Maßnahmen möglichst weitgehend erreicht werden, ohne dabei in das Freiheitsrecht des einzelnen Betroffenen mehr als notwendig einzugreifen.

2. Die "Organisationshaft" bereitet zum Zweck der Nutzung der "therapeutisch fruchtbaren" Zeit die nach der gesetzlichen Regelreihenfolge und dem richterlichen Erkenntnis vorweg zu vollziehende Maßregel vor. Von einer unter dem Gesichtspunkt des Freiheitsgrundrechts unmaßgeblichen bloßen Form des Vollzugs der Freiheitsstrafe oder der Maßregel kann wegen deren unterschiedlicher Zwecke jedenfalls bei einer Umkehrung des Vollzugs nicht ausgegangen werden.

3. Eine gesetzeswidrige und dem zu vollstreckenden Urteil widersprechende Umkehrung der Vollstreckungsreihenfolge liegt bei der "Organisationshaft" dann vor, wenn die Vollstreckungsbehörde in Umsetzung des gerichtlichen Rechtsfolgenausspruchs nicht unverzüglich die Überstellung des Verurteilten in den Maßregelvollzug einleitet und herbeiführt.

4. Die von Verfassungs wegen noch vertretbare Organisationsfrist kann nur im jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung der Bemühungen der Strafvollstreckungsbehörde um eine beschleunigte Unterbringung des Verurteilten im Maßregelvollzug bestimmt werden.

5. Einem eindeutigen Gesetzesbefehl darf die Gefolgschaft nicht deshalb versagt werden, weil die Exekutive nicht die zu seiner Durchführung erforderlichen Mittel bereit hält. Von Verfassungs wegen geboten ist es aber im Hinblick auf das Freiheitsgrundrecht nicht, dass bereits zum Zeitpunkt des im Einzelfall nicht vorhersehbaren Vollstreckungsbeginns ein für den jeweiligen Verurteilten geeigneter Platz in einer Maßregeleinrichtung vorgehalten wird. Verfassungsrechtlich geboten ist es indes, dass die Vollstreckungsbehörden auf den konkreten, von der Rechtskraft des jeweiligen Urteils abhängigen Behandlungsbedarf unverzüglich reagieren und in beschleunigter Weise die Überstellung des Verurteilten in eine geeignete Einrichtung herbeiführen.

6. In den Fällen tief greifender, schon im Grundgesetz unter einen Richtervorbehalt gestellter Grundrechtseingriffe, entfällt das Rechtsschutzbedürfnis eines Verfassungsbeschwerdeführers nicht schon mit der Erledigung des angegriffenen Hoheitsaktes, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kaum erlangen kann.


Entscheidung

801. BVerfG 2 BvR 1651/03 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 26. September 2005 (OLG Frankfurt/Main/LG Kassel)

Verlegung eines Strafgefangenen; allgemeines Persönlichkeitsrecht (Verlust der Arbeitsmöglichkeit; soziale Beziehungen); Resozialisierung; Begriff des die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährdenden Zustands nach § 85 StVollzG (kein Ausreichen der Duldung von Verstößen durch Stationsbedienstete); Verhältnismäßigkeit; Rechtsschutzbedürfnis bei einer Verfassungsbeschwerde (Wiederholungsgefahr; Beschwer).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 GG; § 85 StVollzG; Art. 93

Abs. 1 Nr. 4a GG; § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG

1. Die Verlegung eines Strafgefangenen ohne seinen Willen greift in sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Dieser Eingriff kann auch erheblich sein, weil alle seine innerhalb der Anstalt entwickelten sozialen Beziehungen praktisch abgebrochen werden und der unter den Bedingungen des Anstaltslebens schwierige Aufbau eines persönlichen Lebensumfeldes in einer anderen Anstalt von neuem begonnen werden muss. Daneben kann die Resozialisierung des Strafgefangenen beeinträchtigen werden und womit sein durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG vermittelter Anspruch auf einen Strafvollzug, der auf das Ziel der Resozialisierung ausgerichtet ist, betroffen ist.

2. Die Ansicht, die Duldung von Verstößen eines Strafgefangenen gegen die Anstaltsordnung durch Stationsbedienstete begründe einen die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährdenden Zustand, der nach § 85 StVollzG die Verlegung des Gefangenen rechtfertige, überschreitet die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Gesetzesinterpretation. Weder der Wortlaut noch vom Sinn und Zweck des § 85 StVollzG decken eine solche Auslegung.

3. Dies gilt auch dann, wenn das pflichtwidrige Verhalten der Stationsbediensteten in einem Nichteinschreiten gegen einen Pflichtverstoß des Beschwerdeführers bestand, der lediglich einen einzelnen ohne weiteres zu unterbindender Ordnungsverstoß (hier nicht erlaubter Besitz einer Schreibmaschine) darstellte.


Entscheidung

803. BVerfG 2 BvR 172/04 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 27. September 2005 (OLG Celle/OLG Naumburg/LG Halle/JVA Halle I/OLG Karlsruhe/LG Mannheim)

Recht auf ein faires Verfahren (keine Zurechnung von Fehlern der Justiz; Belehrung über Wiedereinsetzungsmöglichkeiten); Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Vorrang der Wiedereinsetzung; Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist); Rechtsmittelfristen (Revision; Rechtsbeschwerde); fehlerhafte Aufnahme von Verfahrenserklärungen durch den Rechtspfleger (keine Bezugnahme auf vorbereitete Erklärungen der Rechtsmittelführer).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 345 Abs. 2 StPO; § 33a StPO; ; § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 118 Abs. 2 StVollzG; § 116 Abs. 1 StVollzG; § 120 Abs. 1 StVollzG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

1. Kann der Beschwerdeführer einer Verfassungsbeschwerde mit einem Rechtsmittel, für das ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, erreichen, dass seine Rechte im Wege des fachgerichtlichen Rechtsschutzes gewahrt werden, so ist regelmäßig von ihm zu verlangen, dass er diesen Weg beschreitet, bevor er Verfassungsbeschwerde einlegt (vgl. BVerfGE 10, 274, 281; 77, 275, 282).

2. In Fällen in denen auf Grund eines Fehlers der das Rechtsmittel aufnehmenden Justizbediensteten die Rechtsbeschwerde bzw. die Revision unzulässig ist, besteht die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Bei rechtzeitiger Nachholung des nicht rechtzeitig wirksam eingelegten Rechtsmittels ist die Wiedereinsetzung von Amts wegen zu gewähren.

3. Jedenfalls dann, wenn der Wiedereinsetzungsgrund in einem den Gerichten zuzurechnenden Fehler liegt, fordert der Grundsatz fairer Verfahrensführung eine ausdrückliche Belehrung des Betroffenen über die Möglichkeit der Wiedereinsetzung.