HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2005
6. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen


Licht und Schatten - Verfahrensabschnittsbezogene Prüfung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) und Außerachtlassung der völkerrechtlichen Organisationspflicht durch den BGH

Von Karsten Gaede, Hamburg/Karlsruhe *

Anmerkung zu BGH 1 StR 78/05 - Beschluss vom 21. Juli 2005 (= BGH HRRS 2005 Nr. 726).

Der deutsche BGH hat nach den Anregungen durch EGMR[1] und BVerfG[2] eine Kompensationsrechtsprechung für den Fall der Verletzung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung entwickelt, die als vorbildlich gelten darf.[3] Indes lebt der BGH seit langem mit tendenziell verletzungskaschierenden Abweichungen von der Rechtsprechung des EGMR, wenn es um die Prüfung einer Verletzung selbst geht.[4] Nun hat der 1. Strafsenat beispielgebend Ansätze dazu gezeigt, die Wahrung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung auch dadurch zu prüfen, dass er einzelne Vorgehensweisen und Fortführungsentscheidungen der Justizorgane in den einzelnen Verfahrensabschnitten kritisch hinterfragt und damit eine Annäherung an Maßstäbe des EGMR dokumentiert (I.). Bei der Prüfung im konkreten Fall offenbart der 1. Strafsenat dann allerdings anhand des Umgangs mit verzögerten Aktenrückgaben durch Rechtsanwälte eine inakzeptable Indifferenz gegenüber der Deutschland obliegenden völkerrechtlichen Verpflichtung, die organisatorischen Voraussetzungen für unverzögerte Strafverfahren zu schaffen (II.). Schließlich hält er weiter an seiner - in ihrer konkreten Form - verfehlten Orientierung an der insgesamt im Fall vertretbar erscheinenden Verfahrensgesamtdauer und an dem damit gespielten "europäischen Roulette" fest (III.). Anmerkungen zu diesen drei Aspekten sind angesichts der immensen praktischen Bedeutung des "Beschleunigungsgebots" angezeigt.

I. Hinterfragung der konkreten Fortführungsentscheidungen in einzelnen Verfahrensabschnitten

Das Recht auf Verfahrensbeschleunigung und das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete objektiv-rechtliche Beschleunigungsgebot werden ganz überwiegend unter dem Stichwort der Verfahrensüberlange wahrgenommen.[5] Gerade durch den BGH wird in ständiger Rechtsprechung betont, dass letztlich entscheidend sei, ob die Dauer des Verfahrens insgesamt nach seiner Komplexität und Anlage angemessen erscheint.[6]

An anderer Stelle wurde bereits dargetan, dass der Blick auf die abstrakte Gesamtdauer eines Verfahrens zu inhaltlichen Verkürzungen anhält, die im Sinne der Ratio des Art. 6 I 1 EMRK, unbegründete Verzögerungen zum Schutz des Angeklagten zu vermeiden, auch tatsächlich zu vermeiden sind.[7] Ob ein Verfahren "überlang" gewesen ist, bestimmt sich danach nicht durch den abstrakten Blick auf seine Länge etwa im Vergleich zur typischen Dauer bei Verfahren ähnlicher Art. Es bestimmt sich vornehmlich durch den Blick darauf, wie die staatlichen Justizorgane das konkret vorliegende Verfahren betrieben haben. Sind ihnen dabei Fehler unterlaufen, haben sie also eine nach den konkreten Fallumständen gebotene Verfahrensförderung unterlassen, die zu einer nicht gänzlich unerheblichen Verfahrensverlängerung geführt hat, folgt daraus eine Verletzung des Art. 6 I 1 EMRK, es sei denn, diese Verzögerung würde durch überobligatorische Beschleunigungsmaßnahmen ausgeglichen.[8] Diese Perspektive macht es nach der Rechtsprechung des EGMR erforderlich, insbesondere das Handeln der Justizorgane in den einzelnen Verfahrensstadien auf seine verfahrensfördernde oder eben auch verfahrensverschleppende

Wirkung zu prüfen.[9] Die Justizorgane müssen durchgängig vertretbare Entscheidungen treffen, mit denen sie das Verfahren zügig fortführen, um eine insgesamt angemessene Verfahrensdauer zu gewährleisten und vermeidbare Belastungen zu vermeiden. Anders und mit dem BVerfG ausgedrückt: Die Justizorgane haben zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die mit ihm verbundenen Belastungen angemessen sind.[10]

Die Notwendigkeit derartiger Prüfungen demonstriert nun der vorliegende Beschluss des 1. Strafsenats in einer bislang für den BGH wohl beispiellosen Intensität: Der BGH überprüft, ob konkrete Entscheidungen der Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit der Erteilung von Akteneinsicht an einen Geschädigten und an den Anwalt eines Mitangeklagten unter dem Aspekt des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK hinzunehmen waren. Er prüft, ob die Staatsanwaltschaft in einer bestimmten Verfahrenssituation bereits zu einer Anklage hätte bereit sein müssen.[11] Ebenso hinterfragt er, ob und inwiefern die Staatsanwaltschaft das Verfahren durch die Anregung von Sanktionierungen des mit der Aktenrückgabe säumigen Geschädigtenanwalts hätte fördern müssen. Dass der BGH derartige Prüfungen anstellt, ist vor dem Hintergrund der heute mehrheitlich noch vertretenen grundsätzlichen "Rechtsschutzimmunität" hinsichtlich des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens[12] bemerkens- und begrüßenswert. Die Prüfungen stellen einen wichtigen Schritt in Richtung einer mit Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK strukturell übereinstimmenden Praxis dar. Nachdem der EGMR vor kurzem gegenüber Deutschland deutlich gemacht hat, dass er auch die gerichtliche Terminierung der Hauptverhandlung unter dem Gesichtspunkt des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK für überprüfbar hält,[13] sollte die Perspektive, auch einzelne, für die Verfahrensdauer erhebliche Fortführungsentscheidungen der Justizorgane kritisch zu hinterfragen, Schule machen.

Dergleichen wird auch nicht als maßlose Trivialisierung menschenrechtlicher Forderungen abzutun sein. Zum einen bleibt zu bedenken, dass es nur um vertretbare Fortführungsentscheidungen gehen kann; es geht nicht darum, am Reißbrett ein einzig denkbares "beschleunigtes Verfahren" aus der ex post Perspektive zu entwerfen, um damit den Justizorganen unerfüllbar starre Regeln bei ihrer Verfahrensführung nach der jeweiligen nationalen Prozessordnung vorzugeben.[14] Vielmehr ist es angezeigt, aus der Situation ex ante Vorgehensweisen herauszufiltern, die vermeidbare und nicht sachlich begründete Verzögerungen hervorrufen können und in Wirklichkeit einen unbegründet hingenommenen Verfahrensstillstand bedeuten. Zum anderen ist die striktere Prüfung geboten, um dem Recht auf Verfahrensbeschleunigung gerecht zu werden: Ein Verfahren kann nur dann verzögerungsfrei ablaufen, wenn die Justizorgane, die das Verfahren betreiben, durchgängig Entscheidungen vermeiden, die Verzögerungen bewirken können und sodann die Verfahrensgesamtdauer verlängern. Spätere Ausgleichsmaßnahmen durch überobligatorische Beschleunigungen bleiben regelmäßig hypothetisch. Ein Wahlrecht, lieber eine spätere Strafmilderung in Kauf zu nehmen, als Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK zu wahren, steht der nationalen Justiz nicht zu.[15]

II. Unzureichende Berücksichtigung der völkerrechtlichen Perspektive: Pflicht zur Organisation einer hinreichenden staatlichen Verfahrensbeschleunigung

Nun stellt der 1. Strafsenat bei seinen Betrachtungen jedoch einen Ausgangspunkt in den Raum, der in dieser Form nicht bestehen bleiben darf, weil er jedenfalls [16] den menschenrechtlichen Anforderungen nicht gerecht wird. Der Senat fordert für die Feststellung einer den Justizorganen zuzurechnenden Verzögerung eine objektive Pflichtwidrigkeit der Justizorgane und macht zu deren zwingenden Voraussetzung, dass den Justizorganen nach nationalem Recht eine Handlungsmöglichkeit eröffnet war, deren Wahrnehmung die Verzögerung zumindest wahrscheinlich vermieden hätte. [17] Im Fall hatte er insbesondere die offensichtlich eigen- und mutwillig durch einen überforderten Geschädigtenanwalt verzögerte Aktenrückgabe zu beurteilen. Den Rechtsanwalt ordnete er nicht als ein Justizorgan ein, so dass sein Fehlverhalten für den BGH nicht maßgeblich sein konnte. [18] Der Staatsanwaltschaft aber, so der 1. Strafsenat weiter, hätten hier und auch bei dem Mitangeklagtenanwalt keine praktikablen Möglichkeiten zur Verfügung gestanden, die insge-

samt gut ein halbes Jahr [19] dauernde Aktenverschleppung entgegen § 19 Abs. 1 Satz 3 BORA zu verhindern oder entscheidend zu verringern. Lediglich eine Anregung bei der Rechtsanwaltskammer sei möglich gewesen und das danach mögliche Verfahren sei selbst zeitaufwendig. Sanktionsmöglichkeiten, wie sie etwa gegenüber einem säumigen Sachverständigen (vgl. z. B. § 77 Abs. 2 StPO) bestehen, gebe es nicht.

Indes, die den Staat vermeintlich entlastende Argumentation des 1. Strafsenats greift zu kurz. Unterstellt man einmal mit dem Senat, dass der Geschädigtenanwalt nicht als "Justizorgan im aufgezeigten Sinne" zu betrachten ist, so klärt allein dies nicht, welche völkerrechtliche Verantwortung dem Vertragsstaat und den übrigen "Justizorganen im aufgezeigten Sinne" hier zufällt. Der BGH macht es sich all zu einfach, wenn er seinen Blick auf den nationalen Status Quo wendet, feststellt, dass hier keine Handhabe bestand und sodann seine Augen vor dem ungelöst verbleibenden Problem wieder verschließt: Der nationale Status Quo ist völkerrechtlich nicht entscheidend. Entscheidend ist, ob eine Handhabe bestehen muss. Und eben dies wird zu bejahen sein. Hätte der 1. Strafsenat des BGH seine Literatur- und Rechtsprechungsaufarbeitung - soweit ersichtlich - nicht auf Ausbildungszeitschriften beschränkt und damit seinem früheren Bekenntnis zum Gebot konventionskonformer Auslegungen des deutschen Prozessrechts [20] hinreichend entsprochen, hätte er auf die aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK unter Umständen abzuleitende Verpflichtung zur Änderung des nationalen Status Quo stoßen können: Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK kann es erforderlich machen, dass eine nationale Praxis oder auch das bestehende Gesetzesrecht geändert werden. [21] Ganz allgemein ist die national existente Verfahrensorganisation nicht nur hinzunehmen, sondern auch Deutschland obliegt die Pflicht, sein Strafverfahren so durch Regelungen und über seine Justizorgane zu organisieren, dass Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK verwirklicht werden kann. [22] Um offenbar bestehende Missverständnisse über die völkerrechtlich bestehenden Pflichten auszuräumen, ist zu betonen, dass diese Organisationsverpflichtung keineswegs etwa nur für die Frage der nicht zurückgegebenen Akten oder nur für das Recht auf Verfahrensbeschleunigung gilt. Sie ist eine ständige Rechtsprechung, die gepaart mit der ausdrücklichen Aussage des EGMR, dass im Ergebnis auch Gesetzesänderungen geboten sein können, über die hier beispielgebende Konstellation hinaus eingreifen kann und die ebenso bei mangelhaften Teilhaberechten stets zu bedenken ist. [23]

Der BGH hätte vor diesem Hintergrund feststellen müssen, dass die mangelnde Handhabe der Staatsanwaltschaft und damit der "Justizorgane im aufgezeigten Sinne" einen erheblichen Organisationsmangel darstellt. Der BGH konnte vielleicht kein konkretes Fehlverhalten der Justizorgane feststellen, sehr wohl aber hätte er die verkannte staatliche Organisationsverpflichtung festhalten müssen und damit dem Staat die bei den Akteneinsichtsvorgängen insgesamt übermäßig verstrichene Zeit von insgesamt gut einem halben Jahr zurechnen müssen. Damit hätte er dem Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnet, diese Situation zu erkennen und schließlich zu beheben. Die fehlenden Handlungsmöglichkeiten offenbaren ein Problem, das durch zu regelnde Ordnungsgelder des säumigen Anwalts bei der eigenmächtigen Überschreitung angemessener Fristen zu bewältigen wären. Dass derartige Regelungen keine übermäßige Perfektionierung der Rechtslage darstellen würden, zeigen der vorliegende Fall und die Überlegung, dass die Justiz bislang geradezu "auf gut Glück" hoffen muss, dass alle Anwälte die Akten irgendwann zurückgeben. Soll die Justiz etwa dann, wenn der Geschädigtenanwalt das Spiel vielleicht bis zu einem drei/viertel oder einem ganzen Jahr getrieben hätte, doch die vom 1. Strafsenat für beschleunigungsuntauglich befundenen berufsrechtlichen Maßnahmen anregen? Das Problem sollte ernst genug sein, dass eine Regelung zur Vermeidung vermeidbarer Verfahrensverzögerungen geschaffen wird.

Man wende dabei nicht ein, deren Behebung sei gegenüber unabhängigen Anwälten von vornherein unmöglich: Ist der Anwalt auf Grund seiner Unabhängigkeit davon frei gestellt, das Recht zu beachten? Keinesfalls ist er das, das Berufsrecht legt ihm die Verpflichtung zur zügigen und fristgerechten Akteneinsichtnahme gerade auf, ohne dass bei einer zu kurzen Frist ein verfassungsrechtliches oder konventionsbegründetes Recht auf die eigenmächtige Zurückbehaltung aus der Unabhängigkeit abgeleitet werden könnte. [24] Zwar ist gewiss bei umfangreichen Verfahren daran zu zweifeln, dass drei Tage Frist genügen. Auch bei einer durch den Anwalt eingewende-

ten hohen Arbeitsbelastung und bei einem großen Verfahrensumfang werden aber keine Monate an Akteneinsicht in Betracht kommen, vielmehr wird auch an Kopien zu denken sein und insbesondere eine entsprechende Äußerung des Anwalts zu fordern sein, die man nicht nachträglich unterstellen kann. Dass die hier durch geschaffene Fakten erwirkte Akteneinsicht von gut einem halben Jahr mit der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts und der durch diesen erfolgten sorgfältigen Aktenbearbeitung zu rechtfertigen war, behauptet auch der 1. Strafsenat nicht.

Vorsorglich wird man auch die im Einzelnen unklare[25] Obiter-Erwägung des Senats sogleich zurückweisen müssen, mit der er erwägt, ob er sich seine - zuvor breit angestellte! - Prüfung etwaiger Verzögerungen infolge der Art und Weise der gewährten Akteneinsicht wegen §§ 406e Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 Sätze 1 und 3, 336 Satz 2 StPO versagen müsste (Unanfechtbarkeit der gewährten Akteneinsicht). Diese Erwägung ist schon aus dem Blickwinkel der §§ 406e, 336 Satz 2 StPO selbst fraglich, da es im Fall primär um Defizite bei der Ausführung und der Dauer der befürworteten Akteneinsicht und damit nicht um die von § 406e StPO geregelte Befürwortung der Akteneinsicht als solcher geht.[26] Schon heute wird § 336 Satz 2 StPO insbesondere im Kontext von Grundrechtsverletzungen kritisiert und eingeschränkt.[27] Vor allem aber muss eine konventionskonforme Auslegung Platz greifen, damit die deutsche Rechtsordnung nicht auf die Feststellung von Verletzungen durch den EGMR angewiesen ist, sondern diese selbst ausräumen bzw. mit einer Kompensation festhalten kann.[28] Hierfür spricht nicht zuletzt der - vom BGH bislang in seine Argumentationen noch gar nicht einbezogene - Art. 13 EMRK, der in seiner heutigen Auslegung nationale Rechtsbehelfe zumindest zur Kompensation von Verfahrensverzögerungen vorschreibt.[29] Für die Perspektive des EGMR wäre es in keiner Weise relevant, ob das deutsche Revisionsgericht meint, eine unbegründete Verzögerungswirkung hier nicht mehr beim Namen nennen zu dürfen. Der EGMR prüft prinzipiell Entscheidungen, hinsichtlich derer der nationale Rechtsweg erschöpft ist und die mithin national unanfechtbar sind.

III. Die ominöse insgesamt angemessene Verfahrensdauer

Der Senat nimmt sodann seine positiven Ansätze nochmals zurück, indem er zur alten Formel zurückfindet, nach der eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK selbst bei der Feststellung nicht unerheblicher staatlicher Verzögerungen schlicht deshalb entfallen können soll, weil die Verfahrensdauer "im Hinblick auf die sonstige Intensität und Dauer der Bearbeitung der Sache durch die jeweils zuständige Stelle … angesichts des Verfahrensgegenstands, seines Umfangs und seiner Schwierigkeit … insgesamt keinesfalls unangemessen lang," [30] gewesen sei. Dies gelte hier umso mehr, als im Fall eine besondere Eilbedürftigkeit wegen des Vollzugs von Untersuchungshaft nicht vorlag. [31]

Diese Position des BGH ist und bleibt abzulehnen: [32] Wie der 1. Strafsenat und die herrschende deutsche Auffassung selbst vertreten, gibt es gerade keine allgemein feststehende Höchstdauer für Verfahren bestimmten Typs - entscheidend ist, welche Verfahrensdauer im konkret zur Entscheidung vorliegenden Einzelfall zu erreichen war. [33] Der Hinweis, dass das Verfahren insgesamt nicht als übermäßig lang erscheint, kaschiert nicht den Umstand, dass dieses konkrete Verfahren nicht unerheblich kürzer hätte dauern können, wären der nationalen Justiz keine Versäumnisse vorzuwerfen. Im vorliegenden Fall wäre etwa nach der hier dargelegten Auffassung tatsächlich jedenfalls ein halbes Jahr Verzögerung zu vermeiden gewesen. Dass die Justizorgane im Übrigen zügig vorgegangen sind, tut dem keinen Abbruch: Was sollten sie pflichtgemäß anderes tun, als zügig zu ermitteln? Dass sie überobligatorische Anstrengungen unternommen haben, die frühere Versäumnisse ausgeglichen haben, behauptet auch der 1. Strafsenat nicht. [34] Im Er-

gebnis heißt die im Übrigen zügige Ermittlung nur, dass die Justizorgane den geschehenen Versäumnissen bzw. den existenten Organisationsmängeln nicht noch weitere haben folgen lassen. Wie dies vor der menschenrechtlichen Ratio des Art. 6 I 1 EMRK eine Rechtfertigung für existente Mängel darstellen soll, bleibt bislang ein Geheimnis des BGH. Man meint in der Sache, dass man es - anders als bei der Kompensation von Verletzungen! - bei der Feststellung von Verletzungen "nicht zu genau nehmen sollte." Damit aber nimmt man zum Beispiel in diesem Verfahren kurzerhand ein halbes Jahr unbegründete Ungewissheit des Angeklagten hin und spielt so eine Art europäisches Roulette: Festzustellende Mindestzeiten für ausschlaggebende staatlich begründete Verzögerungen hat der EGMR nicht aufgestellt; vielmehr hat er auch bei einer Verfahrensgesamtdauer von rund zwei Jahren bereits auf eine Verletzung des Art. 6 EMRK erkannt. [35]


* Der Verfasser ist Referendar am HansOLG und seit November 2005 Herrn Vizepräsident des BVerfG Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Winfried Hassemer zur Ausbildung am BVerfG in Karlsruhe zugewiesen. Die im Rahmen der Zürcher Promotion des Autors verfasste und im Folgenden in Bezug genommene Dissertation zum fairen Verfahren des Art. 6 EMRK ("Fairness als Teilhabe - Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK") wird derzeit zur Publikation vorbereitet. Für eine hilfreiche Durchsicht danke ich herzlich Herrn Rechtsreferendar Ulf Buermeyer, Berlin.

[1] Vgl. Eckle v. Deutschland (D), Nr. 51, §§ 66 ff., 87, 94 = EuGRZ 1983, 371, 377 ff.; zur weiteren Entwicklung vgl. knapp Gaede wistra 2004, 166.

[2] Vgl. insbesondere BVerfG NStZ 1997, 591 und heute etwa BVerfG NJW 2003, 2225 f.

[3] Vgl. statt vieler BGH wistra 2003, 420, 421 f.; Burhoff HRRS 2005, 53, 55.

[4] Vgl. als Beispiele BGH HRRS 2005 Nr. 726; BGH 5 StR 326/02, Beschl. v. 21. 8. 2002, HRRS, L 1; dagegen bereits Gaede wistra 2004, 166, 174; zum Abstellen auf die Tatschuld als Beschleunigungskriterium vgl. m.w.N. Demko HRRS 2005, 283, 294 f. (einschränkend nun auch BVerfG HRRS 2005 Nr. 721); zu staatlichen Verfahrensfehlern, die weitere Instanzen hervorrufen, vgl. BGH NStZ 2001, 106 f.; BGH NStZ-RR 2002, 219; siehe dazu Gaede wistra 2004, 166, 174 und nun BVerfG HRRS 2005 Nr. 721.

[5] Vgl. neben der hier kritisierten Rechtsprechung etwa BVerfG HRRS 2005 Nr. 308; Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. (2005), MRK Art. 6 Rn. 7 am Ende.

[6] Siehe nur BGH HRRS 2005 Nr. 726.

[7] Vgl. Gaede wistra 2004, 166, 168, 171 f.; siehe nun auch zum teleologischen Moment Demko HRRS 2005, 283, 294 ff.

[8] Siehe so bereits Gaede wistra 2004, 166, 171 ff., 174.

[9] Zu den freilich weiter zu prüfenden Einzelkriterien vgl. aber auch Demko HRRS 2005, 283 ff.; zu ihrer systematischen Bedeutung siehe Gaede wistra 2005, 166, 171 ff.

[10] Vgl. BVerfG NJW 2003, 2897: Prüfung in jeder Verfahrenslage; nun auch BVerfG HRRS 2005 Nr. 308.

[11] Ob die vom BGH gegebene Antwort hierbei vollends befriedigt, soll zur Konzentration auf die Fragen des Art. 6 EMRK im Übrigen offen bleiben.

[12] Vgl. - krit. - zum heutigen Meinungsstand m.w.N. SK-Wohlers § 160 Rn. 98 ff.; siehe auch BVerfG NStZ 1984, 228; vgl. demgegenüber nun auch BVerfG HRRS 2005 Nr. 133: zulässige Verfassungsbeschwerde gegen einen strafprozessualen Eröffnungsbeschluss.

[13]Vgl. Cevizovic v. D, 29.7.2004, §§ 48 ff., 58 ff. = StV 2005, 136 ff. m. Anm. Pauly .

[14] Siehe bereits m.w.N. Wohlers JR 1994, 138, 139 f.; Radke, Bestrafungshindernisse aufgrund des Zeitablaufs (2001), S. 36 ff.; Gaede wistra 2004, 166, 172.

[15] Siehe bereits Gaede wistra 2004, 166, 170.

[16] Ob die verfassungsrechtlichen Erfordernisse ebenso zu beurteilen sind, wird hier nicht explizit untersucht. Warum der verfassungsrechtliche Maßstab aber zurückstehen sollte, ist nicht ersichtlich.

[17] Vgl. BGH HRRS 2005 Nr. 726.

[18] Warum der Rechtsanwalt, der doch nach Bekunden insbesondere des BGH - vgl. etwa BGHSt 38, 111, 114 ff.; für die entsprechende hM m.w.N. Beulke StPO, 8. Aufl. (2005), Rn. 150 - im Strafverfahren Organ der Rechtspflege sein soll, hier eigentlich kein Organ der Rechtspflege bzw. kein Justizorgan sein sollte, hätte vom Standpunkt des BGH einer echten Begründung bedurft. Der Eindruck eines inkonsequenten "Rosinenpickens" der Rechtsprechung zugunsten der Vermeidung von Belastungen der strafenden Rechtspflege im Umgang mit dem problematischen Organbegriff drängt sich hier auf; vgl. zur Kritik am Organbegriff auch SK-Wohlers Vor § 137 Rn. 10 ff.; Hassemer ZRP 1980, 326, 328; Roxin, Hanack-FS, S. 1, 13 f.

[19] Da gerade im Sinne des BGH und des EGMR eine Gesamtbetrachtung der vorliegenden Verzögerungen durchzuführen ist, wird hinsichtlich der beiden verzögerten Akteneinsichtsvorgänge insgesamt von einer Verzögerung von sechs Monaten ausgegangen werden können, ohne eine unbegründete Einschränkung der Akteneinsichtsrechte vorzunehmen.

[20] Vgl. insbesondere im Ansatz vorbildlich BGHSt 46, 93 ff. Freilich handelt es sich bei dem zitierten Beitrag von Christian Laue (Jura 2005, 89 ff.) um einen lesenwerten Beitrag, der in Deutschland die Kenntnisse über die nach der EGMR-Rechtsprechung erforderliche Verfahrensbeschleunigung verdienstvoll vermehren wird. Als Ausbildungsbeitrag muss er aber didaktische Grenzen etwa bei den Nachweisen und bei der Detailliertheit der Ausführungen beachten, auf die sich der BGH nicht berufen kann.

[21]Vgl. Kitov v. Bulgarien, 3.4.2003, § 73: "the Court reiterates that the enjoyment of the right of every accused person to a trial within a reasonable time … must be secured by the authorities through all appropriate means, including change of practice or legislative amendments if necessary.”; Wildhaber, Der Spiegel, 47/2004, S. 50; Gaede wistra 2004, 166, 170, 172.

[22] Siehe etwa m.w.N. EGMR, Hennig v. Österreich, § 38, wistra 2004, 177, 179; LR-Gollwitzer, 25. Aufl. (2005), Art. 6 Rn. 79; Grabenwarter, EMRK, 2. Aufl. (2005), § 25 Rn. 71 und Gaede wistra 2004, 166, 170, 172, 173; knapp auch Laue Jura 2005, 89, 93.

[23] Vgl. selbst für nationales Verfassungsrecht Wildhaber, Der Spiegel, 47/2004, S. 50; am Beispiel der unzureichenden formellen Verteidigung demnächst Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. *), Kap. I § 4.

[24] Für eine nähere Analyse der Unabhängigkeit des strafverteidigenden Anwalts im Strafverfahren vgl. in nächster Zeit Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. *), Kap. E § 3.

[25] Der 1. Strafsenat fragt, "ob das Vorbringen, die Verfahrensverzögerung durch Akteinsicht für den Geschädigtenvertreter sei wegen ihrer Erheblichkeit rechtsstaatswidrig, zu einer Überprüfung sämtlicher Details im Zusammenhang mit der Akteneinsicht durch das Revisionsgericht führen kann." Offenbar hält auch er die Prüfung nicht umfassend für verfehlt. Wo das Problem genau liegen soll, verdeutlicht er nicht.

[26] Man wende dabei nicht mit dem 1. Strafsenat und mit Bezug auf - vom BGH im Grunde falsch zitiert - LR-Hilger, 25. Aufl. (1999), § 406e Rn. 14 ein, die hier vorliegende Form erheblicher Verfahrensverzögerungen sei von der Entscheidung über das Ob bereits gedeckt: Weder liegt eine "ganz besondere Bedeutung" für den Verletzten vor, noch kann ernsthaft bei einer gesetzten Dreitagesfrist angenommen werden, die Staatsanwaltschaft habe ein halbes Jahr in Kauf genommen.

[27] Vgl. m.w.N. nur LR-Hanack, 25. Aufl. (1999), § 336 Rn. 12 und 14; zum gesetzlichen Richter auch Meyer-Goßner (Fn. 5), § 336 Rn. 7.

[28] Vgl. allgemein BVerfGE 74, 358, 370; BGHSt 45, 321, 329; 46, 93 ff.; Weigend StV 2000, 384 ff.; Gaede wistra 2004, 166, 167 mit 170 f. und w.N.

[29] Siehe zu diesem m.w.N. Kudla v. Polen[GC]- §§ 152 ff. NJW 2001, 2694; Meyer-Ladewig, HK-EMRK (2003), Art. 13 Rn. 19 ff.; Gaede wistra 2004, 166, 171 und in der Ausgabe HRRS 12/2005 Demko.

[30] Vgl. BGH HRRS 2005 Nr. 726.

[31] Was dieser Hinweis in der Entscheidung bedeuten soll, erschließt sich dem Verfasser jedenfalls vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR letztlich nicht: Die Untersuchungshaft führt zur Pflicht, die Sorgfalt bei der Verfahrensdurchführung zu steigern (vgl. m.w.N. Gaede wistra 204, 166, 169, 172 f.). Mitnichten bedeutet sie - worum es dem 1. Strafsenat hier aber offenbar geht - dass der nicht inhaftierte Menschenrechtsinhaber festgestellte Verzögerungen durch Justizorgane bzw. Mängel der nationalen Justizorganisation eher hinzunehmen hätte.

[32] Siehe zur Vermeidung von Wiederholungen abermals bereits Gaede wistra 2004, 166, 171 ff.; ebenso jüngst auch Demko HRRS 2005, 283, 292 ff. m.w.N.; siehe auch Grabenwarter (Fn. 22), § 24 Rn. 46.

[33] Vgl. Villiger, Handbuch EMRK, 2. Aufl. (1999), Rn. 453, 461; Grabenwarter (Fn. 22), § 24 Rn. 46; HK-EMRK (Fn. 29) Art. 6 Rn 77; Clayton/Tomlinson, The Law of Human rights (2000), Rn. 11.221; m.w.N. Gaede wistra 2004, 166, 168 f., 171 f.

[34] Zur Möglichkeit, staatliche Verzögerungen durch besondere Beschleunigungen zu kompensieren vgl. bereits Gaede wistra 2004, 166, 172 ff. Vgl. auch EGMR, Hennig v. Österreich, § 37, wistra 2004, 177, 179.

[35] Vgl. Pailot v. Frankreich, Rep. 1998-II, §§ 60, 61 ff.; Yaģci u. Sargin v. Türkei, Nr. 319-A, §§ 58 ff.; Villiger (Fn. 33 ), Rn. 453, 468; Peters, Einführung EMRK (2003), S. 124.