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HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 832

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 324/05, Beschluss v. 20.09.2005, HRRS 2005 Nr. 832


BGH 3 StR 324/05 - Beschluss vom 20. September 2005 (LG Oldenburg)

Überzeugungsbildung; Beweiswürdigung (Schluss von der äußeren auf die innere Tatseite; Nachtatverhalten; Alkoholisierung); Tötungsvorsatz.

§ 261 StPO; § 212 StGB; § 15 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Wer gegen sein Opfer äußerst gefährliche Gewalthandlungen ausführt, wird in aller Regel erkennen, dass sein Tun zum Tod des Geschädigten führen kann, und diesen Erfolg, da er von seinem Vorhaben trotz der Erkenntnis der Gefährlichkeit seines Handelns keinen Abstand nimmt, auch zumindest billigend in Kauf nehmen. Daher muss der Tatrichter hier im Allgemeinen seine Schlussfolgerung vom objektiven Tatgeschehen auf den bedingten Tötungsvorsatz nicht näher begründen.

2. Anders liegt es aber, wenn sich aus dem Tatbild besondere Umstände ergeben, die es zweifelhaft erscheinen lassen können, ob der Täter tatsächlich die Lebensgefährlichkeit seines Tuns erkannt beziehungsweise den Tod seines Opfers im Sinne billigender Inkaufnahme hingenommen hat. Solche Umstände können in besonders starker Alkoholisierung und im Nachtatverhalten (Rettungsversuche) zu sehen sein und dürfen bei der Überzeugungsbildung zur subjektiven Tatseite zumindest nicht völlig unberücksichtigt bleiben, wenn sie auch der Feststellung bedingten Tötungsvorsatzes nicht zwingend entgegenstehen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 21. März 2005 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die notwendigen Auslagen der Nebenklägerin im Revisionsverfahren, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.

1. Nach den - auf den objektiven Kernbereich der Tathandlung beschränkten - Feststellungen des Landgerichts war es zwischen dem Angeklagten und den Eheleuten G. nach erheblichem Alkoholgenuss zu einer Auseinandersetzung gekommen, bei der der Angeklagte ein Messer aus einem Messerblock zog und damit fünfmal auf Erwin G. einstach. Die sich in das "Kampfgeschehen" einmischende Nicole G. "erlitt dabei zwei Messerstiche im Bauchbereich". Während Nicole G. durch eine Notoperation gerettet werden konnte, verstarb Erwin G., den drei Stiche im Brustkorb beziehungsweise Rumpf getroffen hatten, aufgrund Blutverlusts.

Zur subjektiven Tatseite, insbesondere zum Tötungs- beziehungsweise Körperverletzungsvorsatz des Angeklagten, verhalten sich die Sachverhaltsfeststellungen des Urteils nicht. Im Rahmen der rechtlichen Würdigung führt das Landgericht aus, der Angeklagte habe bezüglich Erwin G. mit Tötungsvorsatz gehandelt. Dies folge daraus, dass er drei gezielte Stiche gegen dessen Oberkörper geführt habe. Bei einer derart massiven Gewalteinwirkung habe es der Angeklagte zumindest billigend in Kauf genommen, dass Erwin G. infolge der Messerstiche versterben werde.

Hinsichtlich Nicole G. sei dem Angeklagten dagegen ein Tötungsvorsatz nicht nachzuweisen, da die Umstände, die zur Verletzung der Geschädigten führten, nicht hinreichend hätten aufgeklärt werden können. Nach dem Zweifelssatz müsse daher davon ausgegangen werden, dass der Angeklagte die zwei Stiche gegen Nicole G. aus der Kampfsituation heraus nicht gezielt mit der Vorstellung führte, diese könne hieran versterben.

2. Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

a) Allerdings treffen die Erwägungen des Landgerichts zum Tötungsvorsatz im Ausgangspunkt zu. Wer gegen sein Opfer äußerst gefährliche Gewalthandlungen ausführt - hier drei Messerstiche in Brustkorb und Rumpf - wird in aller Regel erkennen, dass sein Tun zum Tod des Geschädigten führen kann, und diesen Erfolg, da er von seinem Vorhaben trotz der Erkenntnis der Gefährlichkeit seines Handelns keinen Abstand nimmt, auch zumindest billigend in Kauf nehmen. In derartigen Fällen ist der Tatrichter daher im Allgemeinen auch nicht gehalten, seine Schlussfolgerung aus dem objektiven Tatgeschehen auf den - bedingten - Tötungsvorsatz des Angeklagten näher zu begründen. Anders liegt es aber dann, wenn sich aus dem Tatbild besondere Umstände ergeben, die es zweifelhaft erscheinen lassen können, ob der Angeklagte tatsächlich die Lebensgefährlichkeit seines Tuns erkannt beziehungsweise den Tod seines Opfers im Sinne billigender Inkaufnahme hingenommen hat.

Derartige Besonderheiten lagen hier vor. Nach den Feststellungen war der Angeklagte bei der Tat erheblich alkoholisiert. Seine Blutalkoholkonzentration betrug ca. 3,5 Promille. Eine derartige Alkoholisierung kann selbst bei einem trinkgewohnten Täter zu Beeinträchtigungen der Erkenntnisfähigkeit über die möglichen Folgen seines Handelns führen, aber auch Zweifel an der voluntativen Seite des Vorsatzes begründen (vgl. Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl. § 212 Rdn. 7 b m. zahlr. w. N.). Diese hätte hier auch wegen des festgestellten Nachtatverhaltens des Angeklagten näherer Prüfung bedurft; denn dessen festgestellte Bemühungen, Erwin G. durch Mund-zu-Mund-Beatmung zu retten, sowie seine Äußerung "Oh Gott, ich habe sein Herz getroffen, Du darfst nicht sterben. Hätten wir doch nur unsere Schnauze gehalten", könnten möglicherweise Zweifel daran begründen, dass der Angeklagte bei der Tat den Tod von Erwin G. billigend hinnahm (vgl. BGHR StGB § 15 Vorsatz, bedingter 11). Hinzu kommt, dass das Landgericht die Einlassung des Angeklagten, mit der dieser eine Notwehrlage darzutun versuchte, zwar als Schutzbehauptung zurückgewiesen hat, andererseits jedoch - in der rechtlichen Würdigung - von einem "Kampfgeschehen" ausgegangen ist und bei der Strafzumessung einen minder schweren Fall des Totschlags nach § 213 StGB angenommen hat, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Angeklagte zu der Tat dadurch gereizt wurde, dass Erwin G. zunächst Streit mit einem weiteren Zechkumpan begonnen hatte und dann auch gegen den Angeklagten handgreiflich geworden war. Danach hält das Landgericht - entgegen der rein abstrakten Tatschilderung im Rahmen der Sachverhaltsdarstellung - aber eine Tatsituation für möglich, die durch eine affektive Erregung des Angeklagten geprägt war. Auch eine solche kann indessen im Einzelfall Einfluss auf das Vorstellungsbild des Täters über die Folgen seines Tuns beziehungsweise das voluntative Vorsatzelement gewinnen (Tröndle/Fischer aaO § 212 Rdn. 7 b m. zahlr. w. N.).

Obwohl die genannten Gesichtspunkte von vornherein weder für sich noch in ihrer Gesamtheit notwendig oder auch nur mit überwiegender Wahrscheinlichkeit der Feststellung bedingten Tötungsvorsatzes des Angeklagten entgegenstehen, durfte sie das Landgericht daher bei seiner Überzeugungsbildung zur subjektiven Tatseite nicht völlig unberücksichtigt lassen. Seine Beweiswürdigung zu diesem Punkt erweist sich demgemäss als lücken- und damit als rechtsfehlerhaft.

2. Aber auch der Verletzungsvorsatz hinsichtlich der Geschädigten Nicole G. ist nicht rechtsfehlerfrei dargetan. Die Feststellungen belegen lediglich, dass diese während der Auseinandersetzung zwei Stichverletzungen "erlitt", als sie sich in das Kampfgeschehen einmischte. Dass der Angeklagte diese Verletzungen willentlich oder auch nur bedingt vorsätzlich herbeiführte, lässt sich der Sachverhaltsdarstellung nicht entnehmen. In der rechtlichen Würdigung legt das Landgericht lediglich dar, dass wegen der Nichtaufklärbarkeit der "Kampfsituation" dem Angeklagten Tötungsvorsatz nicht nachweisbar sei. Mit dem für eine Verurteilung nach § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB erforderlichen Verletzungsvorsatz befasst es sich auch hier nicht. Dies war indessen nicht entbehrlich; denn wenn sich die Geschädigte, wie festgestellt, in das Kampfgeschehen zwischen ihrem Ehemann und dem Angeklagten "einmischte", ist es jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen, dass sie - etwa bei einem Dazwischentreten - vom Angeklagten unbeabsichtigt mit dem Messer getroffen wurde. Eine entsprechende Erörterung war hier auch nicht deswegen entbehrlich, weil die Tatsache, dass die Geschädigte zwei Stiche im Bauchbereich davontrug, eher gegen die Annahme lediglich fahrlässigen Verhaltens des Angeklagten sprechen könnte; denn zwingend ausgeschlossen wird ein solches hierdurch im Hinblick auf die sonstigen - nicht ausschließbaren (s. oben 1.) - Gesamtumstände des Geschehens nicht.

3. Die Sache muss daher insgesamt neu verhandelt werden. Die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer wird sich zu bemühen haben, gegebenenfalls auch unter Anwendung des Zweifelssatzes nähere Feststellungen zu den Gesamtumständen der Tat zu treffen, die ersichtlich in ein komplexeres Geschehen eingebunden war, als dies die eher abstrakte, auf den objektiven Tatkern beschränkte Sachdarstellung des angefochtenen Urteils dartut.

HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 832

Externe Fundstellen: NStZ 2006, 169; StV 2006, 16

Bearbeiter: Ulf Buermeyer