HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2005
6. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

861. BGH 5 StR 200/05 - Beschluss vom 11. August 2005 (LG Dresden)

Verteidigerbeistand und Konsultationsrecht (keine Hilfspflicht nach Unterstützung einer gescheiterten Kontaktaufnahme zu einem von der Beschuldigten genannten Verteidiger: keine Hinweispflicht bezüglich eines bestehenden örtlichen Anwaltsnotdiensts; faires Verfahren); Beweiswürdigung (in ein Geflecht illegalen Rauschgifthandels verstrickte Personen: mangelhafte Aussagedarstellung bei nahe liegender Falschbelastungshypothese, Darlegung der Entstehungsgeschichte belastender Aussagen; Widersprüchlichkeit); Durchsuchung (Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft bei Gefahr im Verzug: Weigerung des Ermittlungsrichters, ohne Aktenvorlage zu entscheiden); redaktioneller Hinweis.

Art. 13 GG; Art. 8 EMRK; Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK; § 261 StPO; § 102 StPO; § 105 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 StPO; § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 137 StPO; § 163a StPO

1. Scheitert der Versuch, mit einem von der Beschuldigten genannten auswärtigen Verteidiger Kontakt aufzunehmen, sind die Polizeibeamten nicht verpflichtet, die nunmehr auf den Verteidigerbeistand verzichtende Beschuldigte auf einen bestehenden Anwaltsnotdienst hinzuweisen (vgl. BGHSt 47, 233, 234 f.).

2. Die rechtmäßige Inanspruchnahme der Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft setzt voraus, dass die richterliche Anordnung nicht eingeholt werden kann, ohne dass der Zweck der Maßnahme gefährdet wird (vgl. BGH JZ 1962, 609, 610). Solches liegt auch vor, wenn die Ermittlungsrichterin meint, ohne Aktenkenntnis nicht, auch nicht mündlich (vgl. BGH NJW 2005, 1060) entscheiden zu können, und der Verlust der Betäubungsmittel als Beweismittel zeitnah droht. Bei dieser Sachlage fehlt es an einer eigenverantwortlichen Prüfung und Entscheidung durch die Ermittlungsrichterin, was es der Staatsanwaltschaft verwehren würde, anstelle des Gerichts die Durchsuchung anzuordnen (vgl. BGH NStZ 2001, 604, 606).

3. Einer Verhinderung von Beweismittelverlusten durch Wahrnehmung der Eilkompetenz stehen verfassungsrechtliche Einwände nicht entgegen. Ein solches Vorgehen entspricht der verfassungsrechtlichen Gewährleistung einer rechtsstaatlich geordneten Rechtspflege, die sich, bei nachhaltiger Sicherung der Rechte des Beschuldigten, auch auf eine wirksame Strafverfolgung erstreckt. Etwas anderes könnte sich allerdings dann ergeben, falls die Ermittlungsrichterin, was die Revisionen behaupten, von der Staatsanwältin unvollständig unterrichtet worden ist, um eine Ablehnung eines richterlichen Beschlusses zu provozieren und dadurch für sich die Eilkompetenz zu begründen.


Entscheidung

811. BGH 3 StR 269/05 - Beschluss vom 26. August 2005 (LG Kiel)

Entfernung des Angeklagten während einer Zeugenvernehmung (ergänzende Bild-Ton-Übertragung; Unterrichtung; Anwesenheitsrecht; faires Verfahren).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 247 StPO

Es ist unbedenklich, wenn das Gericht dem - zulässigerweise - während einer Zeugenvernehmung aus dem Saal entfernten Angeklagten die Gelegenheit gibt, in einem anderen Raum die dorthin in Bild und Ton übertragene Aussage der Nebenklägerin zu verfolgen. Eine solche

von der Strafprozessordnung nicht vorgesehene Vorgehensweise lässt die Voraussetzungen, die Bedingungen und die Wirkungen des § 247 StPO jedoch unberührt, entbindet also insbesondere den Vorsitzenden nicht von der Verpflichtung, den Angeklagten vom wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist.


Entscheidung

838. BGH 1 StR 288/05 - Urteil vom 20. September 2005 (LG Tübingen)

Übersehene Möglichkeit eines untauglichen Totschlagsversuchs; Urteilsaufhebung (Aufhebung der Feststellungen).

§ 22 StGB; § 212 StGB; § 353 StPO

Wird ein Urteil aufgehoben, weil eine möglicherweise gebotene Verurteilung wegen einer Tat unterblieben ist, die gegebenenfalls mit einer abgeurteilten Tat in Tateinheit stehen kann, kann das Urteil auch hinsichtlich der abgeurteilten Tat keinen Bestand haben.


Entscheidung

857. BGH 4 StR 413/05 - Beschluss vom 27. September 2005 (LG Bielefeld)

Mitwirkung eines ausgeschlossenen Richters (Vernehmung in der gleichen Sache als Zeuge).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 22 Nr. 5 StPO; § 338 Nr. 2 StPO

Der Begriff der Sache i.S. des § 22 Nr. 5 StPO ist weit auszulegen. Sachgleichheit setzt nicht Verfahrensidentität voraus (BGHSt 9, 193). Sachgleichheit ist auch dann gegeben, wenn ein Richter in einem anderen Verfahren als Zeuge zu demselben Tatgeschehen vernommen worden ist, das er jetzt abzuurteilen hätte (BGHSt 31, 358). Vernehmung zum Tatgeschehen ist dabei nicht nur die Wiedergabe eigener Wahrnehmung zum Tatgeschehen, sondern vielmehr jede Äußerung als Zeuge zu solchen Fragen, die im Hinblick auf Schuld- und Straffrage später als Richter in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht bewertet werden müssen (vgl. BGHSt 31, 358, 359).


Entscheidung

866. BGH 5 StR 354/05 - Beschluss vom 20. September 2005 (LG Bochum)

Wirksamer Rechtsmittelverzicht nach rechtswidriger Verfahrensabsprache (Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen; keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei fehlender qualifizierter Belehrung; Haftentscheidung); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 302 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 44 StPO; § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO

Das Fehlen der erforderlichen qualifizierten Belehrung hat lediglich die Wirkung, dass der erklärte Rechtsmittelverzicht unwirksam ist, so dass dem Angeklagten die einwöchige Frist zur Einlegung der Revision (§ 341 Abs. 1 StPO) zur Verfügung gestanden hätte. Das Unterlassen der qualifizierten Belehrung zieht nicht die Vermutung des § 44 Satz 2 StPO nach sich. Dies gilt auch bei bedenklichen Verfahrensweisen im Zusammenhang mit einer nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelverzicht getroffenen Haftentscheidung.


Entscheidung

856. BGH 4 StR 399/05 - Beschluss vom 13. September 2005 (LG Paderborn)

Unzulässiger Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision (Verhinderung; Darlegung der formalen Voraussetzungen für die sachliche Prüfung des Wiedereinsetzungsantrags: Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses; Fristlauf der Wochenfrist mit Kenntnisnahme durch den Angeklagten; grundsätzlich keine Glaubhaftmachung durch eidesstattliche Versicherung des Verurteilten).

§ 44 StPO; § 45 StPO; § 345 Abs. 1 StPO

1. Jedenfalls in den Fällen, in denen die Wahrung der Frist des § 45 Abs. 1 StPO nach Aktenlage nicht offensichtlich ist, gehört zur formgerechten Anbringung des Wiedereinsetzungsantrags, dass der Antragsteller mitteilt, wann das Hindernis, das der Fristwahrung entgegenstand, weggefallen ist.

2. Die eigene eidesstattliche Versicherung des Verurteilten ist kein zulässiges Mittel der Glaubhaftmachung (BGHR StPO § 45 Abs. 2 Glaubhaftmachung 1).