HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2005
6. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die März-Ausgabe umfasst unter anderem den Beginn der Prozessdokumentation im Verfassungsbeschwerdeverfahren Darkanzali zum Europäischen Haftbefehl. Aufsätze befassen sich mit Auslegungsproblemen des § 201a StGB einerseits (Herr RA Matthias Rahmlow) und mit der zunehmenden Konkretisierung des Folterverbots durch den EGMR andererseits (Beitrag in der Reihe strafprozessuale Leitfälle zur EMRK von Frau Dr. Daniela Demko, LLM).

Unter den publizierten BGH-Entscheidungen ragt insbesondere die für BGHSt vorgesehene Entscheidung zu den "gekreuzten Mordmerkmalen" hervor. Auch die Entscheidung zum steuerstrafrechtlichen Zwangsmittelverbot und zur missbräuchlich verzögerten Verfahrenseinleitung, steht dafür, dass sich die Einsichtnahme in die gesamte Ausgabe lohnt.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede Wiss. Ass.


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

209. EGMR Nr. 66273/01 - Zulässigkeitsentscheidung vom 19. Oktober 2004 (Falk v. Niederlande)

Verhältnismäßiger Schutz der Unschuldsvermutung gegen strict liability-Delikte und belastende Beweislastregeln bzw. Beweislastumkehr (hinreichende Beachtung der Verteidigungsrechte; Verhältnismäßigkeit; Anwendung auf das Verkehrsstrafrecht bzw. Ordnungswidrigkeitenrecht; subsidiäre Tatverantwortlichkeit des Fahrzeughalters für Bagatellvergehen); Selbstbelastungsfreiheit.

Art. 6 Abs. 2 EMRK; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 GG; Vor § 1 OWiG; Vor § 1 StVG

1. Auch minder schwere Verkehrsordnungswidrigkeiten stellen Straftaten im Sinne des Art. 6 EMRK dar (vgl. Öztürk gg. Deutschland, Urteil vom 21. Februar 1984, Serie A Nr. 73, S. 1721, §§ 46-54). Die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK gilt demzufolge auch für derartige Verkehrsordnungswidrigkeiten.

2. Die Unschuldsvermutung und das Gebot, dass der anklagende Staat die Last des Beweises der von ihm erhobenen Tatvorwürfe trägt, sind nicht absolut. Tatsachen- und Rechtsvermutungen operieren in jedem Strafrechtssystem und sind nicht von vornherein durch die EMRK ausgeschlossen, solange die Vertragsstaaten innerhalb vernünftiger Grenzen verbleiben. Hierbei haben sie die Bedeutung des verfolgten Anliegens zu berücksichtigen und die Rechte der Verteidigung zu bewahren (vgl. Salabiaku gg. Frankreich, Urteil von 7. Oktober 1988, Serie A Nr. 141-A, S. 15-16, § 28). Beim Einsatz von Vermutungen haben die Vertragsstaaten einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen der Bedeutung des verfolgten Anliegens und den Verteidigungsrechten herbeizuführen.

3. Zur Anwendung im Einzelfall auf die subsidiäre Verantwortlichkeit des Fahrzeughalters für Bagatellvergehen im Straßenverkehr.


Entscheidung

212. BVerfG 2 BvR 308/04 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 4. Februar 2005 (LG Bonn/AG Bonn)

Unverletzlichkeit der Wohnung (Schutzbereich; Durchsuchung; Verhältnismäßigkeit; Geeignetheit); Verpflichtung zur organisatorischen Sicherung des Richtervorbehaltes (Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters bei Tage und während der Nachtzeit); Beachtung des Richtervorbehaltes durch Polizei und Staatsanwaltschaft (kein Unterlaufen der Regelzuständigkeit; zwingender Versuch Ermittlungsrichter oder Staatsanwalt zu erreichen); vollständige und zeitnahe Dokumentation bei nichtrichterlicher Durchsuchung (Bezeichnung des Tatverdachts und der gesuchten Beweismittel; tatsächliche Umstände der Gefahr im Verzug; Bemühungen, Ermittlungsrichter oder bei seiner Unerreichbarkeit einen Staatsanwalt zu erreichen); Gebot effektiven Rechtsschutzes (nachträgliche

Kontrolle schwerwiegender Grundrechtseingriffe; Auskunft über die Telekommunikation); Telekommunikationsgeheimnis (Auslesen von Daten auf einer SIM-Karte; Verbot der Umgehung; Beschlagnahme von Datenträgern, Rechnungen und Geräten nur unter den Voraussetzungen der §§ 100g, 100h StPO).

Art. 13 GG; Art. 10 GG; § 104 Abs. 3 StPO; § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 100g StPO, § 100h StPO; § 98 Abs. 2 StPO; § 102 StPO.

1. Art. 13 Abs. 1 GG gewährt einen räumlich geschützten Bereich der Privatsphäre, in dem jedermann das Recht hat, in Ruhe gelassen zu werden (vgl. BVerfGE 51, 97, 107; 103, 142, 150 f.). Zum Zwecke der strafrechtlichen Ermittlung darf auch in die Wohnung eines Verdächtigen nur eingedrungen werden, wenn sich gegen ihn ein konkret zu beschreibender Tatvorwurf richtet, der Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung ein angemessenes Verhältnis zur Stärke des Tatverdachts wahrt und außerdem zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich ist, nämlich den Erfolg verspricht, geeignete Beweismittel zu erbringen (vgl. BVerfGE 96, 44, 51).

2. Die Landesjustiz- und die Gerichtsverwaltungen und die Ermittlungsrichter haben sicherzustellen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird. Sie müssen die Voraussetzungen für eine tatsächlich wirksame präventive richterliche Kontrolle der Wohnungsdurchsuchungen schaffen. Dazu gehört die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters - bei Tage, auch außerhalb der üblichen Dienststunden, uneingeschränkt und während der Nachtzeit (§ 104 Abs. 3 StPO) jedenfalls bei einem praktischen, nicht auf Ausnahmefälle beschränkten Bedarf (vgl. BVerfGE 103, 142, 152, 156).

3. Polizei und Staatsanwaltschaft müssen bei ihrem Vorgehen im Ermittlungsverfahren den Ausnahmecharakter der nichtrichterlichen Durchsuchungsanordnung beachten und gegebenenfalls die nachträgliche gerichtliche Prüfung der Durchsuchungsvoraussetzungen ermöglichen. Sie dürfen die Regelzuständigkeit des Ermittlungsrichters nicht unterlaufen, indem sie so lange zuwarten, bis die Gefahr eines Beweismittelverlustes eingetreten ist. Selbst herbeigeführte tatsächliche Voraussetzungen können die Gefahr im Verzuge und die Eilkompetenz nicht begründen. Der Durchsuchung muss in aller Regel der Versuch vorausgehen, einen Ermittlungsrichter zu erreichen und bei dessen Unerreichbarkeit einen Staatsanwalt (§ 105 Abs. 1 Satz 1 StPO).

4. Die handelnden Beamten, möglichst der - vorrangig verantwortliche - Staatsanwalt, haben die Bezeichnung des Tatverdachts und der gesuchten Beweismittel und die tatsächlichen Umstände, auf die die Gefahr des Beweismittelverlustes gestützt wird, sowie die Bemühungen, einen Ermittlungsrichter oder bei seiner Unerreichbarkeit einen Staatsanwalt zu erreichen, in einem vor der Durchsuchung oder unverzüglich danach gefertigten Vermerk vollständig zu dokumentieren. Eine solche Darlegung kann aber dann entbehrlich sein, wenn allein die Beschreibung der tatsächlichen Umstände den Tatverdacht, die Zielrichtung der Durchsuchung und deren Dringlichkeit als evident erscheinen lassen (BVerfG 2 BvR 1481/02, NJW 2004, 1442).

5. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) verlangt, dass schwerwiegende Grundrechtseingriffe gerichtlich geklärt werden können, wenn deren direkte Belastung sich auf eine Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in dem von der maßgeblichen Prozessordnung vorgesehenen Verfahren kaum erlangen kann (vgl. BVerfGE 96, 27, 39 f.). Zu solchen schwerwiegenden Eingriffen gehört auch die Anordnung einer Auskunft über die Telekommunikation.

6. Das Auslesen der auf einer SIM-Karte gespeicherten Daten greift in das Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses nach Art. 10 Abs. 1 und 2 GG ein. Denn die in einem Mobiltelefon oder auf der eingelegten SIM-Karte gespeicherten Daten geben Auskunft über Einzelheiten der abgegangenen, angenommenen und zwar empfangenen, aber nicht angenommenen Anrufe. Die Information, ob, wann und wie oft zwischen Fernmeldeanschlüssen Fernmeldeverkehr stattgefunden hat oder versucht worden ist, gehört zu den durch Art. 10 Abs. 1 GG gegen staatliche Kenntnisname abgeschirmten Kommunikationsumständen.

7. Die auf Art. 10 Abs. 2 GG beruhende Begrenzungsfunktion der §§ 100g und 100h StPO verbietet den Ermittlungsbehörden die Umgehung der dort geregelten materiellen und verfahrensmäßigen Schranken durch die Wahl einer anderen Zwangsmaßnahme, die solchen Schranken nicht unterliegt. Besteht die begründete Vermutung, dass die den Ermittlungen dienlichen Verbindungsdaten bei dem Beschuldigten aufgezeichnet oder gespeichert sind, etwa in Einzelverbindungsnachweisen der Rechnungen des Telekommunikationsdienstleisters oder in elektronischen Speichern der Kommunikationsgeräte, so darf eine Beschlagnahme dieser Datenträger, der Rechnungen und Geräte, nur unter den Voraussetzungen der §§ 100g, 100h StPO erfolgen.


Entscheidung

210. BVerfG 2 BvR 1975/03 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 14. Januar 2005 (LG Hannover/AG Hannover)

Unverletzlichkeit der Wohnung; Freiheit der Berufsausübung; strafprozessuale Durchsuchung bei einem Rechtsanwalt (Verdacht der Geldwäsche durch Annahme von Verteidigerhonorar); verfassungskonforme Reduktion (Institution der Wahlverteidigung; Verhältnismäßigkeit; kein Ausreichen der Leichtfertigkeit im subjektiven Tatbestand; sicheres Wissen; äußere Anknüpfungstatsachen; Recht auf Wahlverteidigung); Richtervorbehalt (eigenverantwortliche richterliche Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen; umfassende Abwägung; Ausstrahlungswirkung der Grundrechte; Beachtung der Rolle der Strafverteidigung).

Art. 13 GG; Art. 12 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK; § 102 StPO; § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB

1. Der durch die Strafnorm des § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB bewirkte Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Strafverteidiger - und in die Institution der Wahlverteidigung - bedarf im Hinblick auf den ansonsten verletzten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer verfassungskonformen Reduktion und ist deshalb verfassungsrechtlich nur dann gerechtfertigt, wenn der Strafverteidiger im Zeitpunkt der Entgegennahme des Honorars - oder des Honorarvorschusses - sicher weiß, dass dieses aus einer Katalogtat herrührt (vgl. BVerfG 2 BvR 1520/01, 1521/01, NJW 2004, 1305, 1311).

2. Bei der Prüfung und Entscheidung, ob ein Anfangsverdacht der Geldwäsche gegen einen Strafverteidiger zu bejahen ist, muss die Staatsanwaltschaft auf die Gefahren für die verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter besonders Bedacht nehmen. Da die Strafvorschrift ein sozial unauffälliges Handeln pönalisiert, hat die Verwirklichung des objektiven Tatbestands nur wenig Aussagekraft. Den Beweisschwierigkeiten hinsichtlich der inneren Tatseite ist Rechnung zu tragen. Der Anfangsverdacht setzt auf Tatsachen beruhende, greifbare Anhaltspunkte für die Annahme voraus, dass der Strafverteidiger zum Zeitpunkt der Honorarannahme bösgläubig war. Indikatoren für die subjektive Tatseite können beispielsweise in der außergewöhnlichen Höhe des Honorars oder in der Art und Weise der Erfüllung der Honorarforderung gefunden werden (vgl. BVerfG 2 BvR 1520/01, 1521/01, NJW 2004, 1305, 1312).

3. Auch die Strafgerichte sind verpflichtet, der besonderen Rolle der Strafverteidiger bei der ihnen anvertrauten Aufgabe der Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung angemessen Rechnung zu tragen. Dies gilt insbesondere für die Feststellung der Anknüpfungstatsachen für das Wissen des Strafverteidigers. Die Feststellung sicheren Wissens auf Grund äußerer Indikatoren wird dabei regelmäßig besondere Anforderungen an die richterliche Beweiswürdigung stellen. Welche Anforderungen dies im Einzelnen sind, legen die dazu berufenen Fachgerichte fest. Sie sind von Verfassungs wegen verpflichtet, der Ausstrahlungswirkung der Berufsausübungsfreiheit des Strafverteidigers angemessen Rechnung zu tragen (BVerfG 2 BvR 1520/01, 1521/01, NJW 2004, 1305, 1312).

4. Berührt eine gerichtliche Entscheidung die Freiheit der Berufsausübung, so steht sie mit Art. 12 Abs. 1 GG nur dann in Einklang, wenn die Norm, auf der die Entscheidung beruht, verfassungsgemäß ist und wenn die angegriffene Entscheidung auch im Übrigen erkennen lässt, dass sie auf die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte Bedacht genommen und die materiellen und prozessualen Normen im Lichte der betroffenen Grundrechte ausgelegt und angewendet hat (vgl. BVerfGE 7, 198, 206 f.; BVerfG 2 BvR 1520/01, 1521/01, NJW 2004, 1305, 1312).

5. Der Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 2 GG zielt auf eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz (vgl. BVerfGE 20, 162, 223; 103, 142, 150 f.). Wird die Durchsuchung, wie regelmäßig, ohne vorherige Anhörung des Betroffenen angeordnet, so soll die Einschaltung des Richters auch dafür sorgen, dass die Interessen des Betroffenen angemessen berücksichtigt werden (vgl. BVerfGE 103, 142, 151). Dies verlangt eine eigenverantwortliche richterliche Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und eine umfassende Abwägung zur Feststellung der Angemessenheit des Eingriffs im konkreten Fall. Die richterliche Durchsuchungsanordnung ist keine bloße Formsache (vgl. BVerfGE 57, 346, 355).


Entscheidung

211. BVerfG 1 BvR 2019/03 (1. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 1. Februar 2005 (LG München I)

Pressefreiheit; Durchsuchung von Redaktionsräumen (Störung der Redaktionstätigkeit; einschüchternden Wirkung, chilling effect); Wechselwirkungslehre (Abwägung zwischen Strafverfolgungsinteresse und Pressefreiheit; entbehrliche Abwägung bei Ermittlungen gegen Zeugnisverweigerungsberechtigten); nachträgliche gerichtliche Kontrolle (Beachtung des Vorbringens des Betroffenen); Störung der Totenruhe (beschimpfender Unfug an Leichen; "Körperwelten").

Art. 5 Abs. 2 GG; Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 10 EMRK; § 97 StPO; § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO; § 168 StGB

1. Die in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgte Pressefreiheit schützt die Eigenständigkeit der Presse von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachrichten und Meinungen (vgl. BVerfGE 66, 116, 133; 77, 65, 74). Eine Durchsuchung in Redaktionsräumen stellt wegen der damit verbundenen Störung der Redaktionstätigkeit und der Möglichkeit einer einschüchternden Wirkung eine Beeinträchtigung der Pressefreiheit dar.

2. Zu den Schranken der Pressefreiheit im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG gehören die Vorschriften der Strafprozessordnung als allgemeine Gesetze. Diese sind aber ihrerseits unter Berücksichtigung der Pressefreiheit auszulegen und anzuwenden (vgl. BVerfGE 77, 65, 81 ff.; 107, 299, 329 ff.). Die Einschränkung der Pressefreiheit muss geeignet und erforderlich sein, um den angestrebten Erfolg zu erreichen; dieser muss in angemessenem Verhältnis zu den Einbußen stehen, welche die Beschränkung für die Pressefreiheit mit sich bringt (vgl. BVerfGE 59, 231, 265; 77, 65, 75). Geboten ist insofern eine Abwägung zwischen dem sich auf die konkret zu verfolgenden Taten beziehenden Strafverfolgungsinteresse und der Pressefreiheit (vgl. BVerfG NJW 2001, 507, 508).

3. Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken dahingehend, dass auch Vergehen Anlass für Durchsuchungen und Beschlagnahmen sein können.

4. Sind Zeugnisverweigerungsberechtigte selbst Beschuldigte eines Verfahrens, so kann verfassungsrechtlich unbedenklich, von einer gesonderten Verhältnismäßigkeits- und Subsidiaritätsprüfung gemäß § 97 Abs. 5 Satz 2 StPO absehen werden.

5. Wird gegen ein Redaktionsmitglied ermittelt, bedarf es von Verfassungs wegen einer Abwägung, ob der den

Mitarbeiter treffende Tatvorwurf von einem solchen Gewicht ist, dass er die Durchsuchung der gesamten Redaktionsräume rechtfertigt. Dabei ist das Gewicht des durch die Tat verletzten Rechtsguts zu berücksichtigen und das Interesse am Auffinden von be- und entlastenden Beweismitteln gegen den Schutz der Pressefreiheit abzuwägen.

6. Das die Durchsuchung anordnende Gericht trifft die Pflicht, durch eine geeignete Formulierung des Durchsuchungsbeschlusses im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren sicherzustellen, dass der Eingriff in das Grundrecht messbar und kontrollierbar bleibt. Mithin hat der Beschluss Ziel, Rahmen und Grenzen der Durchsuchung zu definieren (vgl. BVerfGE 96, 44, 51 f.; 103, 142, 151). Der äußere Rahmen, innerhalb dessen die Durchsuchung durchzuführen ist, muss daher bei Maßnahmen in einer Redaktion in räumlicher Hinsicht so bestimmt werden, dass die Durchsuchung auch unter Berücksichtigung des Grundrechts der Pressefreiheit angemessen ist.

7. Im Rahmen einer nachträglichen Überprüfung eines prozessual überholten Durchsuchungsbeschlusses hat das Gericht das Vorbringen des von einer Durchsuchung Betroffenen besonders zu beachten und sich mit ihm auseinander zu setzen, denn es geht für den Betroffenen um den ersten Zugang zum Gericht.


Entscheidung

213. BVerfG 2 BvR 983/04 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 14. Januar 2005 (OLG Düsseldorf/LG Mönchengladbach)

Freiheit der Person (Maßregelvollzug); Dauer der Unterbringung (Steigen der verfassungsrechtlichen Kontrolldichte; Notwendigkeit einer externen Exploration); Anforderungen an ein Prognosegutachten (nachvollziehbar und transparent; Darstellung von Anknüpfungs- und Befundtatsachen; Erläuterung von Untersuchungsmethoden und Hypothesen); eigenständige Prognoseentscheidung des Gerichtes (Kontrolle des Prognoseergebnisses und der Qualität der gesamten Prognosestellung); Kenntnisnahme weiterer vorhandener psychiatrischer Gutachten.

Art. 2 Abs. 2 GG; § 67e StGB; § 63 StGB; § 16 Abs. 3 MRVG NW; § 23 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 93 Abs. 1 BVerfGG

1. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf ausreichender richterlicher Sachaufklärung beruhen. Dabei steigen die Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung mit der Dauer des Maßregelvollzugs. Insbesondere bei länger dauernder Unterbringung besteht regelmäßig die Pflicht, bei richterlichen Entscheidungen über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung einen besonders erfahrenen Sachverständigen zu Rate zu ziehen, der die richterliche Prognose durch ein hinreichend substantiiertes und zeitnahes Gutachten vorbereitet (vgl. BVerfGE 70, 297, 308).

2. Nach sachverständiger Beratung hat der Richter eine eigenständige Prognoseentscheidung zu treffen, bei der er dem ärztlichen Gutachten richterliche Kontrolle entgegenzusetzen hat (vgl. BVerfGE 58, 208, 223; 70, 297, 310). Diese Kontrolle hat sich nicht nur auf das Prognoseergebnis, sondern auch auf die Qualität der gesamten Prognosestellung zu beziehen.

3. Bevor der Richter das Prognoseergebnis auf Grund eigener Wertung kritisch hinterfragen kann, hat er zu überprüfen, ob das Gutachten bestimmten Mindeststandards genügt. So muss die Begutachtung insbesondere nachvollziehbar und transparent sein. Der Gutachter muss Anknüpfungs- und Befundtatsachen klar und vollständig darstellen, seine Untersuchungsmethoden erläutern und seine Hypothesen offen legen (vgl. im Einzelnen BGHSt 45, 164, 178 f.). Auf dieser Grundlage hat er eine Wahrscheinlichkeitsaussage über das künftige Legalverhalten des Verurteilten zu treffen, die das Gericht in die Lage versetzt, die Rechtsfrage der fortbestehenden Gefährlichkeit eigenverantwortlich zu beantworten (vgl. BVerfGE 109, 133, 165).

4. Zu den Anforderungen an eine fristgemäße Begründung der Verfassungsbeschwerde gemäß §§ 23, 92, 93 Abs. 1 BVerfGG gehört die Vorlage der angegriffenen Entscheidungen oder zumindest die Mitteilung von deren wesentlichem Inhalt (vgl. BVerfGE 88, 40, 45).


Entscheidung

214. BVerfG 2 BvR 1451/04 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 14. Dezember 2004 (LG Hamburg)

Grundrecht auf effektiven, lückenlosen Rechtsschutz (Anspruch auf wirksame und effektive Kontrolle; tief greifende Grundrechtseingriffe); nachträgliche Kontrolle (Durchsuchungsmaßnahmen; Telefonüberwachung); Rechtsschutzinteresse (Erreichbarkeit eines konkreten und praktischen Zieles; Treu und Glauben; unbefristete Anträge; kein Ausschluss durch Rechtsmittelverzicht im Hauptverfahren); Abgrenzung zu BVerfG NJW 2003, 1514.

Art. 19 Abs. 4 GG; § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 102 StPO; § 100a StPO

1. Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 8, 274, 326; 104, 220, 231; stRspr). Dabei fordert Art. 19 Abs. 4 GG zwar keinen Instanzenzug (vgl. BVerfGE 49, 329, 343; 104, 220, 231; stRspr). Eröffnet das Prozessrecht aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 40, 272, 274 f.; 104, 220, 232; stRspr). Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leer laufen" lassen (vgl. BVerfGE 78, 88, 98 f.; 104, 220, 232).

2. Neben den Fällen der Wiederholungsgefahr und der fortwirkenden Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff kommt ein trotz Erledigung fortbest-

ehendes Rechtsschutzinteresse in Fällen tief greifender Grundrechtseingriffe in Betracht, in denen die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozessordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann. Effektiver Grundrechtsschutz gebietet es dann, dass der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung des schwerwiegenden - wenn auch tatsächlich nicht mehr fortwirkenden - Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen (vgl. BVerfGE 96, 27, 40; 104, 220, 233).

3. Ein Rechtsschutzinteresse ist zu bejahen, solange der Rechtsschutzsuchende gegenwärtig betroffen ist und mit seinem Rechtsmittel ein konkretes praktisches Ziel erreichen kann (vgl. BVerfGE 104, 220, 232). So kann das Rechtsschutzbedürfnis auch entfallen, wenn die verspätete Geltendmachung eines Anspruchs gegen Treu und Glauben verstößt. Dies ist anzunehmen, wenn der Berechtigte sich verspätet auf sein Recht beruft und unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt (vgl. BVerfGE 32, 305, 308 f.). Auch ein an sich unbefristeter Antrag kann deshalb nicht nach Belieben hinausgezogen oder verspätet gestellt werden, ohne unzulässig zu werden (vgl. BVerfGE 4, 31, 37; 32, 305, 309). Allerdings darf hierdurch der Weg zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 10, 264, 267 ff.; 32, 305, 309).

4. Wenngleich vornehmlich in den Fällen, die schon das Grundgesetz unter Richtervorbehalt gestellt hat (vgl. BVerfGE 96, 27, 40; 104, 220, 233), ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse trotz Erledigung anzunehmen ist (vgl. BVerfGE 104, 220, 232), kann eine von Verfassungs wegen gebotene Überprüfung auch in anderen Fallgruppen vorliegen (vgl. BVerfG NStZ-RR 2004, 252, 253). Dies betrifft u.A. auch die Telefonüberwachung - als erheblicher Eingriff in die durch Art. 10 GG geschützte Rechtsposition.

5. Das Rechtsschutzinteresse für eine nachträgliche Kontrolle strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen entfällt nicht schon dadurch, dass der Betroffene im Hauptsacheverfahren auf Rechtsmittel verzichtet hat. Im Strafverfahren geht es um Schuld oder Unschuld, nicht um die Rechtmäßigkeit der Ermittlungsmaßnahmen. Daher kann, ungeachtet der durch den Rechtsmittelverzicht dokumentierten Akzeptanz der Verurteilung ein berechtigtes Interesse an der Feststellung davon unabhängiger Ermittlungsmaßnahmen als gesonderte Grundrechtseingriffe bestehen.