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HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 213

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 983/04, Beschluss v. 14.01.2005, HRRS 2005 Nr. 213


BVerfG 2 BvR 983/04 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 14. Januar 2005 (OLG Düsseldorf/LG Mönchengladbach)

Freiheit der Person (Maßregelvollzug); Dauer der Unterbringung (Steigen der verfassungsrechtlichen Kontrolldichte; Notwendigkeit einer externen Exploration); Anforderungen an ein Prognosegutachten (nachvollziehbar und transparent; Darstellung von Anknüpfungs- und Befundtatsachen; Erläuterung von Untersuchungsmethoden und Hypothesen); eigenständige Prognoseentscheidung des Gerichtes (Kontrolle des Prognoseergebnisses und der Qualität der gesamten Prognosestellung); Kenntnisnahme weiterer vorhandener psychiatrischer Gutachten.

Art. 2 Abs. 2 GG; § 67e StGB; § 63 StGB; § 16 Abs. 3 MRVG NW; § 23 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 93 Abs. 1 BVerfGG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf ausreichender richterlicher Sachaufklärung beruhen. Dabei steigen die Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung mit der Dauer des Maßregelvollzugs. Insbesondere bei länger dauernder Unterbringung besteht regelmäßig die Pflicht, bei richterlichen Entscheidungen über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung einen besonders erfahrenen Sachverständigen zu Rate zu ziehen, der die richterliche Prognose durch ein hinreichend substantiiertes und zeitnahes Gutachten vorbereitet (vgl. BVerfGE 70, 297, 308).

2. Nach sachverständiger Beratung hat der Richter eine eigenständige Prognoseentscheidung zu treffen, bei der er dem ärztlichen Gutachten richterliche Kontrolle entgegenzusetzen hat (vgl. BVerfGE 58, 208, 223; 70, 297, 310). Diese Kontrolle hat sich nicht nur auf das Prognoseergebnis, sondern auch auf die Qualität der gesamten Prognosestellung zu beziehen.

3. Bevor der Richter das Prognoseergebnis auf Grund eigener Wertung kritisch hinterfragen kann, hat er zu überprüfen, ob das Gutachten bestimmten Mindeststandards genügt. So muss die Begutachtung insbesondere nachvollziehbar und transparent sein. Der Gutachter muss Anknüpfungs- und Befundtatsachen klar und vollständig darstellen, seine Untersuchungsmethoden erläutern und seine Hypothesen offen legen (vgl. im Einzelnen BGHSt 45, 164, 178 f.). Auf dieser Grundlage hat er eine Wahrscheinlichkeitsaussage über das künftige Legalverhalten des Verurteilten zu treffen, die das Gericht in die Lage versetzt, die Rechtsfrage der fortbestehenden Gefährlichkeit eigenverantwortlich zu beantworten (vgl. BVerfGE 109, 133, 165).

4. Zu den Anforderungen an eine fristgemäße Begründung der Verfassungsbeschwerde gemäß §§ 23, 92, 93 Abs. 1 BVerfGG gehört die Vorlage der angegriffenen Entscheidungen oder zumindest die Mitteilung von deren wesentlichem Inhalt (vgl. BVerfGE 88, 40, 45).

Entscheidungstenor

Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 25. Februar 2004 - III - 2 Ws 55/04 - und des Landgerichts Mönchengladbach vom 15. Dezember 2003 - StVK 132/03 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Mönchengladbach zurückverwiesen.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

A.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers im geschlossenen Maßregelvollzug.

I.

1. Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 1980 vom Landgericht Kleve gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht und befindet sich seitdem mit einer Unterbrechung in unterschiedlichen Anstalten des Landes Nordrhein-Westfalen im Maßregelvollzug. Anlasstaten waren ein Verstoß gegen das Waffengesetz, ein Diebstahl in einem besonders schweren Fall und eine Bedrohung. Der Sachverständige stellte beim Beschwerdeführer eine akute Schizophrenie fest. Er sei schlecht kontaktfähig, spreche monoton und grimassiere erheblich, auch fänden sich Störungen im Denkablauf. Die Vorstrafen des Beschwerdeführers erfolgten im Wesentlichen wegen Sachbeschädigungs- und Eigentumsdelikten, teilweise wurden sie vom Beschwerdeführer als Heranwachsender begangen. Wegen Gewaltdelikten wurde der Beschwerdeführer nicht verurteilt. Zum Zeitpunkt der Anordnung war der Beschwerdeführer 28 Jahre alt, die Anordnung dauert nunmehr seit über 23 Jahren an. Die Unterbringung wurde 1987 zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährung wurde 1988 widerrufen. In dem darauf folgenden Jahrzehnt verschlechterte sich der Zustand des Beschwerdeführers stetig. Seit den Jahren 2001/2002 ist eine Besserung seines Zustandes zu konstatieren. Doch wird auch in der Stellungnahme der behandelnden Ärzte aus dem Jahr 2003 hervorgehoben, der Beschwerdeführer leide nach wie vor an paranoiden Wahnvorstellungen, sei fremdaggressiv und verweigere immer wieder die Medikation.

2. Der Verfahrensbevollmächtigte wurde dem Beschwerdeführer durch Beschluss vom 6. August 2003 als Pflichtverteidiger im Rahmen der jährlichen Überprüfung nach § 67e Abs. 2 StGB beigeordnet. Nach der mündlichen Anhörung im September 2003 beantragte er, die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung auszusetzen. Die weitere Unterbringung sei in Anbetracht der relativ geringfügigen Anlasstaten unverhältnismäßig. Die lange dauernde Unterbringung habe den Beschwerdeführer auch körperlich so geschwächt, dass von ihm keine Begehung weiterer Straftaten zu erwarten sei, wofür ein medizinischer Sachverständiger zu hören sei. Andererseits sei in seiner psychischen Entwicklung ein Aufwärtstrend zu erkennen, nachdem er zeitweilig überhaupt nicht ansprechbar gewesen sei. Auch das Vorhandensein von Wahnvorstellungen sowie die Tatsache, dass der Beschwerdeführer verbotswidrig in seinem Zimmer geraucht habe, stellten keine ausreichende Grundlage einer weiteren Unterbringung dar. Gewalttätigkeit in der Anstalt sei durch diese nicht substantiiert vorgetragen worden bis auf einen Vorfall, der nunmehr drei Jahre zurückliege.

3. Mit angegriffenem Beschluss vom 15. Dezember 2003 beschloss das Landgericht Mönchengladbach die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers. Es sei nicht zu erwarten, dass der Beschwerdeführer außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde. Er leide nach wie vor an einer schweren, chronisch verlaufenden schizophrenen Psychose mit ausgeprägter wahnhafter Symptomatik. Krankheitseinsicht bestehe nicht. Es bestehe die Gefahr der Exacerbation seiner Psychose und der Begehung durch seine Wahnvorstellungen bedingter Gewalttaten. Diese Diagnose stütze sich auf den persönlichen Eindruck der Kammer sowie auf die Stellungnahme des psychiatrischen Krankenhauses, in dem der Beschwerdeführer untergebracht sei.

4. Gegen diesen Beschluss erhob der Verfahrensbevollmächtigte des Beschwerdeführers Beschwerde. Er rügte, die Kammer sei auf den schlechten körperlichen Zustand des Beschwerdeführers nicht eingegangen und habe auf das angeregte medizinische Gutachten verzichtet.

5. Die Beschwerde wurde vom Oberlandesgericht Düsseldorf mit dem angegriffenen Beschluss vom 25. Februar 2004 "aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses" verworfen.

II.

Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG.

I.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere ist der Rechtsweg erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Zwar wurden innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG (abgelaufen am 6. April 2004) nur der Beschwerdeschriftsatz per Fax, nicht aber auch die angegriffenen Entscheidungen in Kopie vorgelegt. Diese trafen erst zwei Tage später auf dem Postweg bei Gericht ein. Zu den Anforderungen an eine fristgemäße Begründung der Verfassungsbeschwerde gemäß §§ 23, 92, 93 Abs. 1 BVerfGG gehört jedoch die Vorlage der angegriffenen Entscheidungen oder zumindest die Mitteilung von deren wesentlichem Inhalt (vgl. BVerfGE 88, 40 <45>). Diesen Anforderungen wird die Verfassungsbeschwerde - noch - gerecht. Die Entscheidung des Landgerichts wird vom Verfahrensbevollmächtigten mit ihren wesentlichen Gründen zutreffend referiert; die ohne Begründung erfolgte Zurückweisung der sofortigen Beschwerde durch das Oberlandesgericht wird mitgeteilt.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

1. Das Bundesverfassungsgericht hat Maßstäbe zur Überprüfung des Maßregelvollzugs entwickelt, die dem Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des betroffenen Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit Rechnung tragen. Dabei gilt es, das Freiheitsgrundrecht der Betroffenen sowohl auf der Ebene des Verfahrensrechts als auch materiell abzusichern (vgl. grundlegend BVerfGE 70, 297 ff.; 109, 133 ff.). Mit zunehmender Dauer der Unterbringung wächst auch die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte (vgl. neben den zitierten Entscheidungen Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. April 1995 - 2 BvR 1087/94 -, NJW 1995, S. 3048 f.).

a) Materiell hat der Richter im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung die von dem Täter ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen. Je länger die Unterbringung andauert, umso strenger sind die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs (vgl. BVerfGE 70, 297 <315>).

b) aa) Verfahrensrechtlich muss zunächst gewährleistet sein, dass der Strafvollstreckungsrichter die Notwendigkeit weiterer Maßregelvollstreckung regelmäßig überprüft. Hinzu treten Anforderungen an die Wahrheitserforschung, insbesondere an die der Unterbringung zugrunde liegenden Prognosegutachten. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf ausreichender richterlicher Sachaufklärung beruhen. Dabei steigen die Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung mit der Dauer des Maßregelvollzugs. Insbesondere bei länger dauernder Unterbringung besteht regelmäßig die Pflicht, bei richterlichen Entscheidungen über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung einen besonders erfahrenen Sachverständigen zu Rate zu ziehen, der die richterliche Prognose durch ein hinreichend substantiiertes und zeitnahes Gutachten vorbereitet (vgl. BVerfGE 70, 297 <308>).

bb) Nach sachverständiger Beratung hat der Richter eine eigenständige Prognoseentscheidung zu treffen, bei der er dem ärztlichen Gutachten richterliche Kontrolle entgegenzusetzen hat (vgl. BVerfGE 58, 208 <223>; 70, 297 <310>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. September 1991 - 2 BvR 1327/89 -, NJW 1992, S. 2344 <2345>). Diese Kontrolle hat sich nicht nur auf das Prognoseergebnis, sondern auch auf die Qualität der gesamten Prognosestellung zu beziehen. Dabei müssen die Gutachter die für die Begutachtung maßgeblichen Einzelkriterien regelmäßig in einem sorgfältigen Verfahren erheben, das die Auswertung des Aktenmaterials, die eingehende Untersuchung des Probanden und die schriftliche Aufzeichnung des Gesprächsinhalts und des psychischen Befundes umfasst und dessen Ergebnisse von einem Facharzt mit psychiatrischer Ausbildung und Erfahrung gewichtet und in einen Gesamtzusammenhang eingestellt werden.

cc) Bevor der Richter das Prognoseergebnis auf Grund eigener Wertung kritisch hinterfragen kann, hat er zu überprüfen, ob das Gutachten bestimmten Mindeststandards genügt. So muss die Begutachtung insbesondere nachvollziehbar und transparent sein. Der Gutachter muss Anknüpfungs- und Befundtatsachen klar und vollständig darstellen, seine Untersuchungsmethoden erläutern und seine Hypothesen offen legen (vgl. im Einzelnen BGHSt 45, 164 <178 f.>). Auf dieser Grundlage hat er eine Wahrscheinlichkeitsaussage über das künftige Legalverhalten des Verurteilten zu treffen, die das Gericht in die Lage versetzt, die Rechtsfrage der fortbestehenden Gefährlichkeit eigenverantwortlich zu beantworten (vgl. BVerfGE 109, 133 <165>).

2. Diesen verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen genügen die Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts nicht.

Zum Zeitpunkt der jeweiligen Beschlussfassung hatte der Beschwerdeführer mehr als 23 Jahre Maßregelvollzug erlitten. Angesichts der außerordentlich langen Dauer der Unterbringung, die die Strafrahmen der verwirklichten Anlasstaten des Beschwerdeführers bei weitem überschritt, und der von ihm weiter begangenen bloßen Bagatellstraftaten einerseits sowie der Tatsache, dass der Beschwerdeführer nunmehr fast die Hälfte seines Lebens im Maßregelvollzug verbracht hat, andererseits genügt es nicht, wenn das Landgericht feststellt, es bestehe "eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit dafür (...), dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzuges krankheitsbedingt die körperliche Unversehrtheit anderer erheblich beeinträchtigende rechtswidrige Taten begehen wird", ohne seiner Bewertung ein zeitnahes, sachverständiges Gutachten zugrunde zu legen.

Indem es auf ein extern von einem forensischen Experten erstelltes Gutachten zur Sozial- und Legalprognose des Beschwerdeführers verzichtet hat, hat das Landgericht seiner Aufklärungspflicht nicht genügt. Die Stellungnahme der behandelnden Ärzte kann ein solches nicht ersetzen, zumal sie nicht auf einer eigenständigen Exploration des Beschwerdeführers beruhte, sondern lediglich einen allgemeinen Eindruck von seiner Verfassung aus medizinisch-psychiatrischer Sicht beinhaltet. Aussagen über die Legalprognose des Beschwerdeführers finden sich darin nicht in der erforderlichen Ausführlichkeit.

Der Beschluss lässt nicht erkennen, ob das Gericht vorhandene psychiatrische Gutachten, die in regelmäßigen Abständen nach § 16 Abs. 3 MRVG NW erstellt wurden, zur Kenntnis genommen hat. Dementsprechend fehlt auch jede eigenständige richterliche Auseinandersetzung mit den dort festgestellten Befundtatsachen.

C.

Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 25. Februar 2004 - III - 2 Ws 55/04 - und des Landgerichts Mönchengladbach vom 15. Dezember 2003 - StVK 132/03 - sind aufzuheben; die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BVerfGG).

Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 213

Externe Fundstellen: NJW 2006, 211

Bearbeiter: Stephan Schlegel