HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2005
6. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die Februar-Ausgabe widmet sich insbesondere mit dem Aufsatz von Gunnar Spilgies dem neu aufgeflammten Determinismus-Indeterminismus-Streit, der unter anderem auch den kommenden Strafverteidigertag in einer Arbeitsgruppe beschäftigen wird. Ein Praxishinweis aus der Feder von RiOLG Detlef Burhoff verdeutlicht das nötige Grundwissen über das Recht auf Verfahrensbeschleunigung.

Aus der aufgenommenen Judikatur ragt die Entscheidung des EGMR zur unbeeinträchtigten und sinnvollem Ausübbarkeit von Rechtsmitteln heraus, die auch für Verfahrensabsprachen bedeutsam scheint. Auch für weitere Entscheidungen des BVerfG und des BGH etwa zur Auslegung des § 354a Ia / I b StPO laden wir Sie zum Studium der Ausgabe ein.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede Wiss. Ass.


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

72. EGMR Nr. 46300/99 - Urteil vom 9. November 2004 (Marpa Zeeland B.V. and Metal Welding B.V. v. Niederlande)

Recht auf faires Strafverfahren (staatliche Einflussnahme auf die Ausübung der Verteidigungsrechte: unzulässige Willensbeeinflussung, Irreführungsverbot, Zusicherungen, Vertrauensschutz; Schutz des Art. 6 EMRK bezüglich national eröffneter Rechtsmittel; Recht auf Zugang zum Gericht; effektiver Rechtsschutz; Rechtsmittelverzicht; Verfahrensabsprachen; Anwendung auf juristische Personen); Recht auf Verfahrensbeschleunigung bei Steuerstrafverfahren und Wirtschaftsstrafverfahren (Fristende bei Streitigkeiten über die Zulässigkeit eines Rechtsmittels; Gesamtbetrachtung; Verfahrenslücken; Komplexität); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 302 StPO

1. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK gewährt kein Recht auf ein Rechtsmittel als solches. Existieren jedoch in einem Vertragsstaat mehrere Instanzen, so muss jede Instanz mit den Garantien des Art. 6 EMRK vereinbar sein.

2. Dies schließt auch das Teilrecht auf einen effektiven Zugang zum Gericht (effektiven Rechtsschutz) mit ein. Den Rechtsmittelführern muss es möglich sein, von den ihnen eröffneten Rechtsmitteln tatsächlich sinnvoll Gebrauch zu machen. 3. Wird ein Rechtsmittelführer durch die staatliche Anklagevertretung (hier: Generalstaatsanwalt) dazu überzeugt, sein Rechtsmittel zugunsten eines zunächst unberechtigt zugesicherten, sodann aber verweigerten Straferlasses nicht formgerecht zu erheben, so dass das Rechtsmittel nach nationalem Recht verfällt, stellt dies eine Verletzung des fairen Verfahrens in seiner Ausprägung als Recht auf effektiven Rechtsschutz und in seiner Ausprägung als Recht auf die sinnvolle Ausübbarkeit eröffneter Rechtsmittel dar.

4. Bei der tatsächlichen Feststellung einer unzulässigen Einflussnahme der staatlichen Anklagevertretung (hier: Generalstaatsanwalt) auf die Ausübung des Rechtsmittels stützt sich der EGMR grundsätzlich auf die Würdigung der nationalen Instanzen.

5. Zu den Grundsätzen des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung gemäß Art. 6 I 1 EMRK in Steuer- und Wirtschaftsstrafverfahren (vgl. bereits Hennig v. Österreich).


Entscheidung

133. BVerfG 2 BvR 2001/02 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 3. September 2004 (OLG Frankfurt/Main/LG Kassel)

Verfassungsbeschwerde gegen strafprozessuale Eröffnungsbeschlüsse (Subsidiarität; Ausnahme; keine Möglichkeit der Ausräumung im fachgerichtlichen Verfahren); Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem; Ver-

bot doppelter Strafverfolgung); Anfechtung des Eröffnungsbeschlusses (Zweitverfahren; Geltendmachung des Fehlens von nova); Nötigung durch Verfahrenshandlungen von Strafverteidigern; Justizgewährleistungsanspruch (Rechtsschutz durch Rechtsmittel gegen die Verletzung von Verfahrensgrundrechten).

Art. 103 Abs. 3 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 210 Abs. 1 StPO; § 211 StPO; § 304 Abs. 1 StPO; § 240 StGB; § 119 Abs. 5 StPO; § 240 StGB

1. Die Gewährleistung des Art. 103 Abs. 3 GG bietet nicht nur Schutz vor Doppelbestrafung, sondern auch Schutz vor doppelter Strafverfolgung (vgl. BVerfGE 12, 62, 66).

2. Die Vorschrift des § 210 Abs. 1 StPO ist verfassungskonform einengend dahingehend auszulegen, dass sie im Fall eines Eröffnungsbeschlusses in einem Zweitverfahren dann nicht anzuwenden ist, wenn der Angeklagte das Fehlen von nova geltend macht.

3. Zwar können strafprozessuale Eröffnungsbeschlüsse nach feststehender Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich nicht Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein (vgl. BVerfGE 1, 9, 10; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Dezember 1998 - 2 BvQ 37/98), was auch für Beschwerdeentscheidungen gilt, die auf solche Beschlüsse hin ergehen. Etwas anderes gilt jedoch ausnahmsweise dann, wenn die angegriffene Entscheidung nach dem substantiierten Vortrag des Beschwerdeführers Verfassungsrecht verletzen kann und die verfassungsrechtliche Beschwer im weiteren fachgerichtlichen Verfahren nicht folgenlos ausgeräumt werden könnte.

4. Die Gerichte haben bei Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Rechtsmittel die verfassungsrechtliche Grundentscheidung zu berücksichtigen, bei einer möglichen Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten frühzeitigen und effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten (vgl. BVerfGE - Plenum - 107, 395, 407 f.). Der aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Grundrechten abgeleitete allgemeine Justizgewährungsanspruch gewährleistet dabei Rechtsschutz gegen die erstmalige Verletzung von Verfahrensgrundrechten durch ein Gericht.


Entscheidung

132. BVerfG 2 BvR 930/04 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 9. Dezember 2004 (LG Bielefeld/AG Herford)

Unzulässige Verhängung eines Jugendarrests bei gleichzeitiger Aussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe; Analogieverbot (Verbot jeder Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht; Wortlautgrenze); verfassungsrechtlicher Begriff der Strafe (Anwendung auf Ahndungsmittel nach § 5 Abs. 2 JGG); Begründung der Verfassungsbeschwerde (keine Nennung einschlägiger Artikel des Grundgesetzes; Ausreichen der sinngemäßen Nennung des beeinträchtigten Rechtes).

Art. 103 Abs. 2 GG; § 28 JGG; § 27 JGG; § 8 Abs. 2 JGG; § 13 Abs. 1 JGG; § 5 Abs. 2 JGG; § 92 BVerfGG

1. Die Verhängung eines Jugendarrests bei gleichzeitiger Aussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe verstößt unter dem derzeitig geltenden Jugendgerichtsgesetz gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG.

2. § 92 BVerfGG verpflichtet den Führer einer Verfassungsbeschwerde nicht, den jeweiligen Artikel des Grundgesetzes zu nennen (BVerfGE 1, 332, 343; 47, 182, 187). Es genügt, wenn er sinngemäß zum Ausdruck bringt, welches verfassungsrechtlich gewährleistete Recht er beeinträchtigt sieht. Übersieht er dabei einen (gleichfalls) einschlägigen Grundrechtsartikel, so ist dies unschädlich.

3. Art. 103 Abs. 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen (BVerfGE 73, 206, 234; 78, 374, 381 f.). Art. 103 Abs. 2 GG sorgt zugleich dafür, dass im Bereich des Strafrechts nur der Gesetzgeber abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheidet (BVerfGE 105, 135, 153). Das Gebot der Gesetzesbestimmtheit gilt auch für die Strafandrohung, die in einem vom Schuldprinzip geprägten Straftatsystem gerecht auf den Straftatbestand und das in ihm vertypte Unrecht abgestimmt sein muss (BVerfGE 105, 135, 153; 86, 288, 313). Dieser Grundsatz beansprucht auch für Ahndungsmittel nach § 5 Abs. 2 JGG Geltung.

4. Für die Rechtsprechung folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit ein Verbot strafbegründender oder strafverschärfender Analogie. Dabei ist Analogie nicht im engeren technischen Sinne zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht (BVerfGE 71, 108, 115). Der mögliche Wortsinn markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation (BVerfGE 64, 389, 393 f.; 92, 1, 12).

5. Die Rechtsfolgen des § 5 Abs. 2 JGG haben - anders als Erziehungsmaßregeln nach § 5 Abs. 1 JGG - den Unrechtsgehalt der Tat unmittelbar insoweit zu berücksichtigen, als er sich nach der charakterlichen Haltung und Persönlichkeitsentwicklung des Täters in Schuld niedergeschlagen hat.


Entscheidung

131. BVerfG 2 BvR 1873/04 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 15. Dezember 2004 (LG Neuruppin/AG Prenzlau)

Unverletzlichkeit der Wohnung; Durchsuchungsanordnung (Begründung mit schon längere Zeit bekannten Befundtatsachen; Betäubungsmittelkriminalität; überschaubarer Zeitraum).

Art. 13 GG; § 102 StPO.

Ein unzulässiger Eingriff in das Wohnungsgrundrecht nach Art. 13 GG liegt nicht schon dann vor, wenn eine

Durchsuchungsanordnung auf Befundtatsachen gestützt wird, die den Strafverfolgungsbehörden bereits neun Monate zuvor bekannt waren. Die Rechtsprechung des BVerfG, nach der nach einem halben Jahr von einer einmal erteilten Durchsuchungsanordnung nicht mehr Gebrauch gemacht werden darf, ist auf eine solche Fallkonstellation nicht übertragbar.