HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2005
6. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

85. BGH 2 StR 432/04 - Beschluss vom 8. Dezember 2004 (LG Trier)

Räuberische Erpressung; Rücktritt vom Versuch (Rücktrittshorizont); unbeendeter Versuch; beendeter Versuch; Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Begründung).

§ 253 StGB; § 255 StGB; § 22 StGB; § 23 StGB; § 24 Abs. 1 StGB; § 63 StGB; § 267 StPO

1. Für die Abgrenzung des unbeendeten vom beendeten Versuch und damit für die Voraussetzung eines strafbefreienden Rücktritts kommt es darauf an, ob der Täter nach der letzten von ihm konkret vorgenommenen Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont).

2. Der Täter, der sich keine Gedanken über den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges gemacht hat, ist grundsätzlich demjenigen gleichzustellen, der ihn nicht für möglich hält, so dass er durch bloßes Aufgeben der weiteren Ausführung zurücktreten kann.

3. Lediglich nach besonders gefährlichen Gewalthandlungen, die zu schweren Verletzungen des Opfers geführt haben, kann ein beendeter Versuch auch dann bejaht werden, wenn der Täter sowohl mit der Möglichkeit gerechnet hat, dass der angestrebte (Todes-)Erfolg eintritt, als auch damit, dass er ausbleibt. Denn der Gleichgültige soll nicht gegenüber dem Bedächtigen privilegiert werden, der sich Gedanken über die Folgen seines Tuns macht, die Gefahr für sein Opfer erkennt und damit nur noch durch erfolgsverhinderndes Handeln Straffreiheit erlangen kann (BGHSt 40, 304, 306).


Entscheidung

123. BGH 4 StR 326/04 - Urteil vom 25. November 2004 (LG Bochum)

Abgrenzung von unbeendetem und beendetem Versuch beim Rücktritt (korrigierter Rücktrittshorizont; fehlende Vorstellungen; versuchter Totschlag; erhebliche sichtbare Verletzung des Tatopfers); Abgrenzung von Tateinheit und Tatmehrheit bei einem mehraktigen aber von einem einheitlichen Tötungswillen getragenen Tötungsversuch (natürliche Handlungseinheit; Zäsur bei zwischenzeitlichem Fehlschlagen des Versuchs).

§ 212 StGB; § 24 StGB; § 52 StGB; § 53 StGB

1. Ein beendeter Versuch im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StGB, der für die Straffreiheit Gegenmaßnahmen des Täters zur Erfolgsabwendung verlangt, liegt entgegen nicht erst bei Kenntnis vom sicheren Todesverlauf (vgl. BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Versuch, beendeter 4), sondern schon dann vor, wenn der Täter die naheliegende Möglichkeit des Erfolgseintritts erkennt, selbst wenn er ihn nunmehr weder will noch billigt (BGHSt 31, 170, 177; 33, 295, 300). Die Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die den Erfolgseintritt nach der Lebenserfahrung nahe legen, reicht aus. Sie liegt bei gefährlichen Gewalthandlungen und schweren Verletzungen, insbesondere bei tief in den Brust- oder Bauchraum eingedrungenen Messerstichen, deren Wirkungen der Täter, wahrgenommen hat, auf der Hand (BGHSt 39, 221, 231 m.w.N.).

2. Dies gilt auch dann, wenn der Täter bei unverändert fortbestehender Handlungsmöglichkeit mit einem tödlichen Ausgang zunächst noch nicht gerechnet hat, unmittelbar darauf jedoch erkennt, dass er sich insoweit geirrt hat (BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Versuch, beendeter 12).

3. Eine natürliche Handlungseinheit und damit eine Tat im materiellrechtlichen Sinne liegt bei einer Mehrheit gleichartiger strafrechtlich erheblicher Verhaltensweisen nach der Rechtsprechung nur dann vor, wenn die einzelnen Betätigungsakte durch ein gemeinsames subjektives Element verbunden sind und zwischen ihnen ein derart unmittelbarer räumlicher und zeitlicher Zusammenhang besteht, dass das gesamte Handeln des Täters objektiv auch für einen Dritten als ein einheitliches zusammengehöriges Tun erscheint (vgl. BGHSt 41, 368; BGHSt 43, 381, 387). Auch für die Beurteilung einzelner Versuchshandlungen als eine natürliche Handlungseinheit ist eine solche Gesamtbetrachtung vorzunehmen (st. Rspr., vgl. BGHSt 40, 75, 76).

4. Dabei begründet der Wechsel eines Angriffsmittels nicht ohne weiteres eine die Annahme einer Handlungseinheit ausschließende Zäsur (vgl. BGHSt 40, 75, 77; 41, 368, 369). Eine tatbestandliche Handlungseinheit endet jedoch mit dem Fehlschlagen des Versuchs (vgl. BGHSt 41, 268, 269; 44, 91, 94). Ein solcher Fehlschlag, der nach der Rechtsprechung einen Rücktritt ausschließt

(vgl. BGHSt 34, 53, 56; 39, 221, 228), liegt vor, wenn der Täter die Tat, wie er weiß, mit den bereits eingesetzten oder den zur Hand liegenden Mitteln nicht mehr ohne zeitliche Zäsur vollenden kann (vgl. BGHSt 39, 221, 228; BGHSt 41, 368, 369), so dass ein erneutes Ansetzen notwendig ist, um zu dem gewünschten Ziel zu gelangen (vgl. BGHSt 39, 221, 232; 41, 368, 369).

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

121. BGH 4 StR 255/04 - Urteil vom 14. Dezember 2004 (LG Bielefeld)

BGHSt; sexueller Missbrauch eines Kindes bei der Vornahme von sexuellen Handlungen vor einem Kind (Einbeziehung der Wahrnehmung des Kindes in das sexuelle Geschehen; teleologische Auslegung).

§ 176 Abs. 3 Nr. 1 StGB a.F. StGB; § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB n.F.

1. Sexueller Missbrauch eines Kindes setzt bei der Vornahme von sexuellen Handlungen vor einem Kind voraus, dass der Täter das Kind in der Weise in das sexuelle Geschehen einbezieht, dass für ihn gerade die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Tatopfer von Bedeutung ist. BGHSt)

2. Die Streichung der Absichtsklausel des früheren § 176 Abs. 5 StGB dient nicht der Ausdehnung der Strafbarkeit des sexuellen Missbrauchs eines Kindes. (Bearbeiter)


Entscheidung

81. BGH 2 StR 365/04 - Urteil vom 22. Dezember 2004 (LG Erfurt)

BGHR; Volksverhetzung und Auschwitzlüge (Herunterspielen von Opferzahlen; Verbreiten von Schriften; Zugänglichmachen von Schriften; Vorrätighalten von Schriften zum Zwecke der Verbreitung; Verharmlosen in einer Versammlung; Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens); Meinungsfreiheit.

§ 130 StGB; Art. 5 GG; Art. 10 EMRK

1. Zum Tatbestand des Verharmlosens in einer öffentlichen Versammlung im Sinne von § 130 Abs. 3 StGB. (BGHR)

2. Ein Verharmlosen liegt vor, wenn der Äußernde die Anknüpfungstatsachen für die Tatsächlichkeit der NS-Gewalttaten herunterspielt, beschönigt oder in ihrem wahren Gewicht verschleiert (BGHSt 46, 36, 40; 47, 278). Nicht erforderlich ist das Bestreiten des Völkermordes als historisches Gesamtgeschehen, es genügen ein "Herunterrechnen der Opferzahlen" und sonstige Formen des Relativierens oder Bagatellisierens seines Unrechtsgehalts, sofern nicht nur ein zahlenmäßiges Infragestellen im Randbereich der geschichtlich feststehenden Größenordnung vorliegt. (Bearbeiter)

3. Beschwichtigende Bekundungen, wonach es dem sich Äußernden nicht um die Relativierung der NS-Verbrechen gehe, entlasten ihn nicht, wenn dem Gesamtzusammenhang der Äußerung die die Verbrechen verharmlosende Hauptaussage zu entnehmen ist, die Zahl der Opfer in Auschwitz entspreche nicht der Wahrheit. (Bearbeiter)

4. Gestört ist der öffentliche Frieden unter anderem dann, wenn das Vertrauen der Bevölkerung in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttert wird (BGHSt 34, 329, 331; 46, 212, 218), etwa weil die Äußerungen auf die Betroffenen als Ausdruck unerträglicher Missachtung wirken, und die Äußerung vernünftigerweise eine solche Reaktion erwarten lassen muss. (Bearbeiter)


Entscheidung

122. BGH 4 StR 294/04 - Urteil vom 9. Dezember 2004 (LG Schwerin)

Untreue (Gewährung einer Abfindung an einen städtischen Bediensteten durch den Oberbürgermeister; Vermögensbetreuungspflicht; Haushaltsuntreue; Grundsätze der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit; Gegenleistungsanspruch bei Prozessrisiko; Ermessenspielraum bei Personalentscheidungen; Orientierung am geltenden Recht im Hinblick auf die beamtenrechtliche Fürsorgepflicht).

§ 266 StGB; Art. 1 § 1 Abs. 2, § 13 AÜG a.F.

1. Die kommunalen Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sind als rechtliche Steuerungsnormen dazu bestimmt, einen äußeren Begrenzungsrahmen für den gemeindlichen Entfaltungs- und Gestaltungsspielraum dahin gehend zu bilden, solche Maßnahmen zu verhindern, die mit den Grundsätzen vernünftigen Wirtschaftens schlechthin unvereinbar sind. Den darin enthaltenen Grundsatz, dass der Staat nichts "verschenken" darf (BGHZ 47, 30, 39 f. m.w.N.), müssen alle staatlichen und kommunalen Stellen beachten, unabhängig davon, auf welcher Grundlage sie tätig werden. Ein Verstoß gegen diesen Grundsatz führt zur Nichtigkeit von Verträgen, die eine Zuwendung an Private ohne Gegenleistung zum Gegenstand haben und unter keinem Gesichtspunkt als durch die Verfolgung legitimer öffentlicher Aufgaben im Rahmen einer an den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit orientierten Verwaltung gerechtfertigt angesehen werden können. Strafrechtlich gilt insoweit kein anderer Maßstab (vgl. BGH NJW 1999, 1489, 1490).

2. Eine strafrechtlich relevante pflichtwidrige Schädigung der zu betreuenden Haushaltsmittel kommt insbesondere in Betracht, wenn ohne entsprechende Gegenleistung Zahlungen erfolgen, auf die im Rahmen vertraglich geregelter Rechtsverhältnisse ersichtlich kein Anspruch bestand (vgl. BGH NStZ-RR 2002, 237 f.). Dies ist aber etwa dann nicht der Fall, wenn in einem einzubeziehenden Rechtsstreit eine Verpflichtung zu höheren Gegenleistungen hätte festgestellt werden können.

3. Zuwendungen an Bedienstete im öffentlichen Dienst dürfen grundsätzlich bestehende gesetzliche Regelungen nicht außer Acht lassen oder über gesetzlich festgelegte

Ansprüche hinausgehen (vgl. BGH NJW 1991, 990, 991).


Entscheidung

130. BGH 4 StR 81/04 - Beschluss vom 4. November 2004 (LG Essen)

Beweiswürdigung (mangelnde Feststellungen beim Raub einer leeren Geldbörse); gefährliche Körperverletzung (gefährliches Werkzeug nur bei beweglichen Gegenständen; Tritte gegen den Kopf); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (sichere Feststellung eines länger andauernden Zustandes der Schuldunfähigkeit oder der erheblich verminderten Schuldfähigkeit; hypomanische Episode ohne psychotische Symptome).

§ 63 StGB; § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB; § 249 StGB; § 261 StPO

Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass Werkzeuge im Sinne des § 224 Abs. Nr. 1 StGB nur solche Gegenstände sind, die durch menschliche Einwirkung in Bewegung gesetzt werden können, nicht dagegen unbewegliche Gegenstände wie etwa ein Fußboden oder eine Wand (BGHSt 22, 235; BGH NStZ 1988, 361, 362). Eine Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes kommt allerdings durch die Tritte in das Gesicht des Opfers in Betracht (vgl. BGHSt 30, 375 f.; BGHR StGB § 224 Abs. 1 Nr. 2 Werkzeug 1 m.w.N.).