HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

September 2004
5. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Verfassungswidrigkeit der gewerbsmäßigen bzw. bandenmäßigen Steuerhinterziehung (§ 370a AO)

HRRS-Praxishinweis - Zugleich Anmerkung zu BGH 5 StR 85/04 - Beschluss vom 22. Juli 2004 (LG Wuppertal) = publiziert als HRRS 2004 Nr. 714.

Von Wiss. Ass. Karsten Gaede (Zürich)

Der noch junge und bereits auf Grund diverser Bedenken revidierte Verbrechenstatbestand des § 370a AO[1] ist nach einem Beschluss des - für die Beurteilung des Steuerstrafrechts zuständigen - fünften Strafsenates des BGH vollumfänglich in Frage gestellt (vgl. I.). Dem Beschluss ist in der Sache zuzustimmen, doch ist seine Grundaussage nicht ohne weiteres praktisch durch Verfahrenseinstellungen etwa nach § 154a StPO zu verwirklichen (vgl. II.). Da die Haltung des fünften Strafsenats überzeugt, sollten Praxis und Gesetzgeber aber bereits heute auf die Verfassungswidrigkeit des § 370a AO in geeigneter Form reagieren (vgl. III.).

I. Die vorangekündigte und wegweisende Entscheidung des fünften Strafsenats

Bereits seit längerem konnte die Vermutung angestellt werden, dass auch die Neufassung des § 370a AO im Angesicht der nicht abreißenden, insbesondere verfassungsrechtlichen Kritik[2] eine kritische Reaktion des fünften Strafsenats provozieren würde. Zum einen hatte Harms, die Vorsitzende Richterin des fünften Strafsenats, in der Festschrift für Kohlmann eingehend dargelegt, weshalb die nachbessernde Neufassung nunmehr den Anforderungen des Art. 103 II GG nicht genügt.[3] Zum anderen hat nun vor kurzem der fünfte Strafsenat in einem bemerkenswerten und im Rahmen der Hinweise[4] für die neue Hauptverhandlung gegebenen obiter dictum auf die "bestehenden Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift" verwiesen, wobei er gerade auch auf jenen Aufsatz von Harms Bezug nahm.[5]

Nun hat der BGH durch den für das Steuerstrafrecht zuständigen Senat in aller Deutlichkeit ausgeführt, weshalb § 370a AO verfassungswidrig ist, [6] wobei er auch weitere Bedenken wie etwa ungeklärte Widersprüche der Strafrahmen benennt. [7] Für den BGH ist nicht ersichtlich, wie der Verbrechenstatbestand des § 370a AO verfassungskonform ausgelegt werden könnte. Der Senat betont, dass das Steuerstrafrecht angesichts der regelmäßigen Erklärungspflichten des Steuerrechts per se durch eine serielle Begehungsweise geprägt ist. Die Tatbestandsmerkmale der "Gewerbsmäßigkeit" und der "bandenmäßigen Begehung" hält der BGH für festgeschrieben und über § 369 AO auch im Steuerstrafrecht zugrunde zu legen. Er weist mit entsprechenden Nachweisen eine vorgeschlagene teleologischen Reduktion bzw. eine tatbestandsrelativ veränderte Begriffsbestimmung der Merkmale zurück, weil der Gesetzgeber diese ersichtlich nicht gewollt habe, indem er die Tatbestandsmerkmale trotz der geäußerten Kritik unverändert beibehalten habe.

Das für den Senat danach für die praktische Reichweite des § 370a AO entscheidende Verbrechensmerkmal der Steuerverkürzung "in großem Ausmaß" erscheint dem Senat "unter Bedacht auf Art. 103 II GG" als nicht ausreichend bestimmt: [8]

"Es läßt sich nicht erkennen, unter welchen Voraussetzungen dieses Tatbestandsmerkmal erfüllt ist, welche Anknüpfungspunkte maßgeblich sein sollen und ob es auf den jeweiligen Einzelfall ankommt oder ob bei einer Vielzahl von Hinterziehungstaten - wie etwa bei der monatlich anzumeldenden Lohnsteuer - eine Gesamtbetrachtung des Tatbildes entscheidend sein soll; bei diesem Befund ist nicht ersichtlich, wie der Normadressat - der dem Gesetz unterworfene Steuerbürger - durch Auslegung Tragweite und Anwendungsbereich des Verbrechenstatbestandes ermitteln und konkretisieren soll".

Der Senat hat eine Anlehnung an die Rechtsprechung zur Strafzumessungsregel gemäß § 370 III Nr. 1 AO im Hinblick auf das dortige Merkmal der Steuerverkürzung "aus grobem Eigennutz in großem Ausmaß" erwogen, weist diese aber zurück, da eine im Strafzumessungsrecht gebotene und nach seiner Ansicht auch mit dem Be-

stimmtheitsgrundsatz vereinbare Gesamtwürdigung aller die Tat prägenden und begleitenden Umstände dem Richter bei der Rechtsfolgenbestimmung einen - bei der Tatbestandsauslegung - zu weiten Spielraum lasse. [9] Wenn das Merkmal "in großem Ausmaß" praktisch die Abgrenzung von Vergehens- und Verbrechenstatbestand leisten müsse, könne eine solche "Unbestimmtheit" nicht mehr hingenommen werden. Vielmehr überlasse die derzeitige Gesetzesfassung die Auslegung dem jeweiligen Rechtsanwender, "der gezwungen ist, die Grenze zum Verbrechenstatbestand... je nach seinem wirtschaftlichen Vorverständnis und dem von ihm herangezogenen rechtlichen Anknüpfungspunkt bei einem gegriffenen Hinterziehungsbetrag zu ziehen". Dies genüge nicht den Anforderungen des BVerfG, nach denen eine Strafnorm umso präziser sein muss, je schwerer die angedrohte Strafe ist (BVerfGE 105, 135, 155 f.) und eine Nachbesserung eines unbestimmten Gesetzes dem Strafrichter versagt bleiben muss (BVerfG aaO S. 153). [10]

Im konkret zu entscheidenden Fall führte die Auffassung des Strafsenates hingegen nicht dazu, seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des § 370a AO nach Art. 100 I GG dem BVerfG vorzulegen. Der Senat hielt es für geboten, eine Einstellung nach § 154a StPO vorzunehmen, da das angefochtene Urteil bereits infolge anderer Rechtsfehler aufzuheben war. Von einer Darlegung, welche Variante genau gewählt wurde und weshalb die Einstellungsoption im konkreten Fall bestand, obschon mit ihr doch der Sprung vom Verbrechens- auf den Vergehenstatbestand verbunden war, sah der Senat ab.

II. Würdigung der Grundsatzentscheidung und der prozessualen Vorgehensweise

1. Verfassungswidrigkeit des § 370a AO?

Der BGH hat sich der wohl herrschenden Auffassung angeschlossen, nach der § 370a AO das Bestimmtheitsgebot verletzt. Soweit der Senat dabei meint, mögliche verfassungskonforme Eingrenzungen über differenzierte Auslegungen von "Gewerbsmäßigkeit" und "bandenmäßiger Begehung" nicht erreichen zu können, überzeugen seine Ausführungen nur bedingt. Eine verfassungskonforme Auslegung dient gerade dem Ausgleich ungenügender gesetzgeberischer Konzeptionen, indem eine auch verfassungswidrige Handhabungen ermöglichende gesetzgeberische Normkonzeption auf das verfassungsrechtlich Zulässige zurückgeführt wird, wobei nach der Judikatur des BVerfG erst bei einem nicht auflösbaren Widerspruch zum Gesetzeswortlaut oder zum klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers die Grenzen verfassungskonformer Auslegung erreicht sind.[11] Auch methodisch wäre eine tatbestandsrelative Auslegung sehr wohl denkbar.[12] Der BGH hätte sich - zumal es ihm hier um die Bestimmtheit der Norm ging - angesichts der von ihm selbst hervorgehobenen deliktsspezifischen Besonderheiten nicht ohne Not gegen eine tatbestandsrelative Auslegung aussprechen sollen, die letztlich vielleicht allein die zusätzlichen Bedenken an der verhältnismäßigen Anwendung des § 370a AO ausräumen könnte.[13]

Entscheidend für die Haltung des Senats spricht jedoch der Umstand, dass eine einschränkende Auslegung des jeweils ersten konstitutiven Merkmals des § 370a AO (Gewerbsmäßigkeit oder bandenmäßige Begehung) die Unbestimmtheit seines zweiten Tatbestandsmerkmals der Steuerhinterziehung "in großem Ausmaß" in keiner Weise heilen könnte. Den Normadressaten wird signalisiert, dass zwei Erfordernisse den tatbestandlichen Unwert konstituieren. Eine restriktive Auslegung der jeweiligen Eingangsmerkmale trüge zur Bestimmtheit des zweiten konstitutiven Verbrechensmerkmals der Steuerverkürzung (Erlangung ungerechtfertigter Steuervorteile) "in großem Ausmaß" nichts bei. Vielmehr ist die vom BGH aufgegriffene These zutreffend, dass eine Konkretisierung des zweiten Tatmerkmals auch nicht durch Auslegung möglich ist. Der Gesetzgeber hat es versäumt, ein auf die deliktsspezifischen Besonderheiten der Steuerhinterziehung passendes Kriterium zu entwickeln, an dem das "große Ausmaß" selbst gemessen werden könnte. Der Gesetzgeber selbst hat offenbar vermeint, dass im kaum präzise zu fassenden Wirtschaftsstrafrecht die diffuse Vorgabe der Orientierung an einem "erschwerten Fall" mit Hilfe des "großen Ausmaßes" genügen werde. Da für die von ihm anvisierte Erschwerung aber selbst kein Richtmaß erkennbar scheint, das als Richtmaß des demokratisch legitimierenden Parlaments gelten kann, geht dies fehl. Bestimmtheit nach Art. 103 II GG meint eben nicht die Subsumierbarkeit unter den Wortlaut, sondern sie meint im Kern nach der Verfassung und nach Art. 7 EMRK die Vorhersehbarkeit der Auslegung eben

dieses Normwortlautes.[14] Tatsächlich muss bislang der Rechtsanwender selbst bestimmen, wo er - mangels vorhandener Anhaltspunkte notwendig willkürlich - die Grenze setzen will. Der BGH hätte dergleichen tun können, indem er etwa eine der diskutierten Orientierungsgrößen wie etwa 50.000 € oder vielleicht 500.000 € postuliert hätte, um als Gericht "selbst Klarheit zu schaffen". Es ist erfreulich, dass er dies unterlassen wird, und vielmehr die wohl auch oft[15] missachtete Vorgabe des BVerfG, die Strafgerichte dürften unbestimmte Gesetze nicht selbst dezisionistisch heilen, deutlich herausstellt und befolgt.

Es ist damit im Anschluss an Harms und den BGH festzuhalten, dass § 370a AO bereits als Gesetz mangels Bestimmtheit verfassungswidrig ist.[16] Überdies bleibt hier nur anzumerken, dass auch das insbesondere im Rahmen des Art. 8 EMRK betonte Gebot der Bestimmtheit strafprozessualer Eingriffsmaßnahmen[17] die Bedenken an § 370a AO nur noch weiter vermehrt: Die wohl nicht zu einem geringen Teil auch der Eröffnung grundrechtsrelevanter strafprozessualer Ermittlungsinstrumentarien dienende[18] Kreation des Verbrechenstatbestandes ist auch unter diesem Aspekt in Frage gestellt.

2. Der begrenzte Ausweg über die §§ 154a, 154 StPO

Der BGH hielt es im konkreten Verfahren für geboten, nach § 154a I, II StPO vorzugehen. Die genau genutzte Alternative der in sich differenzierten Norm hielt der Senat ebenso wenig wie deren mögliche Grenzen für erörterungswürdig. Ob dies im Verfahren des BGH zutreffend war, soll hier nicht untersucht werden, zumal sein Vorgehen im Angesicht des insgesamt zu prüfenden Sachverhaltes nahe liegt. Es scheint jedoch wichtig, sich die prozessualen Möglichkeiten und ihre Grenzen vor Augen zu führen, die sich der strafgerichtlichen Praxis heute beim Umgang mit der verfassungsrechtlich delegitimierten Norm des § 370a AO tatsächlich bieten.

Eingangs bleibt - wie auch vom BGH keineswegs in Frage gestellt - zu betonen, dass das Monopol für ein Verdikt der Verfassungswidrigkeit des § 370a AO gemäß Art. 100 I GG einzig beim BVerfG verbleibt. Ein Gericht, das von der Verfassungswidrigkeit eines nachkonstitutionellen Gesetzes überzeugt ist, darf die fragliche Norm nicht selbst als unbeachtlich verwerfen. Vielmehr ist daran zu erinnern, dass auch die in ihrer rechtlichen Würdigung unabhängigen Richter nach Art. 97 I GG an das Gesetz gebunden bleiben und im Fall der befürworteten Verfassungswidrigkeit Art. 100 I GG eingreift, um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und damit auch der Gesetzesanwendung zu sichern.[19] Art. 100 I GG soll in der Sprache des Verfassungsgerichts insoweit "die Autorität des konstitutionellen Gesetzgebers wahren. Gesetze, die unter der Herrschaft des Grundgesetzes erlassen worden sind, sollen bis zur allgemeinverbindlichen Feststellung ihrer Nichtigkeit oder Unwirksamkeit durch das Bundesverfassungsgericht befolgt werden; über ihre Gültigkeit soll es keine einander widersprechenden Gerichtsentscheidungen geben. Deshalb hat das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht ein Verwerfungsmonopol eingeräumt."[20]

Die Aussicht auf ein möglicherweise unabsehbar lang dauerndes Vorlageverfahren zum BVerfG rückt nun durchaus - mit ebenfalls verfassungsrechtlichem und menschenrechtlichem Hintergrund[21] - die Vorgehensweise nach §§ 154a, 154 StPO in den Fokus. Hierbei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass bei einem "Verzicht auf § 370a AO" wegen der verfassungsrechtlichen Bedenken regelmäßig steuerstrafrechtlich der auch vom BGH als bedeutend betonte Sprung von einem Verbrechens- auf einen Vergehenstatbestand erfolgt. Der Strafrahmen jedenfalls des Grundtatbestandes weist im Vergleich zu § 370a AO einen erheblichen Unterschied auf: für den Normalfall stehen bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe oder Geldstrafe (§ 370 AO) einer Freiheits-

strafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren gegenüber (§ 370a AO). Bei einer prozessualen Betrachtung der gesamten Umstände des Falles kann eine Wertung im Sinne des § 154a I 1 StPO, nach der die Verfolgung der Gesetzesverletzung nach § 370a AO gegenüber der Verfolgung des Grundtatbestand des § 370 AO bzw. eventueller weiterer Taten "nicht beträchtlich ins Gewicht" fällt, durchaus vertretbar sein, zumal der Regelung des § 154a StPO selbst eine vorsichtig formuliert "offene Abfassung" eigen ist.[22] Es sollte jedoch jedenfalls über den Kontext des Art. 100 I GG ebenso klar sein, was über § 154a I 1 StPO nicht erreicht und nicht angestrebt werden darf: Eine automatische Einstufung der Gesetzesverletzungen nach § 370a AO als nicht beträchtlich ins Gewicht fallend. Die verfassungsrechtliche Regelung des Art. 100 I GG kann nicht über das einfache Recht des § 154a StPO ohne weiteres "leerlaufen".[23] Jedenfalls bei einer Praxis, die auf kaltem Wege Strafgesetze für verfassungswidrig erklärt, müsste die Handhabung des § 154a StPO als überdehnt gelten. Schon die dafür notwendige Prämisse, dass der durch Art. 100 I GG im Sinne der Gewaltenteilung in erster Linie geschützte Gesetzgeber selbst dergleichen mit § 154a StPO eröffnen wollte, kann nicht ohne eine Unterstellung angenommen werden.

Auch das Recht auf Verfahrensbeschleunigung ändert an dieser mitzudenkenden Begrenzung des Vorgehens über § 154a I 1, 2 (, II) StPO nichts. Zwar dient § 154a StPO vor allem auch diesem Menschenrecht bzw. dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot.[24] Die Norm des § 154a StPO sieht aber selbst im Fall des §§ 154a I 2, 154 I Nr. 2 StPO Grenzen vor, sie greift nicht bei jedem abstrakt denkbaren Beschleunigungsvorteil ein.[25] Es ist zudem zu bedenken, dass Anfrage- oder Vorlageverfahren nicht per se durch das Recht auf Verfahrensbeschleunigung verhindert werden:[26] Es ist zwar auf den Einzelfall bezogen die Handhabung und Entscheidung für ein solches Verfahren an Art. 6 I 1 EMRK und am verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot zu messen, nicht aber automatisch die Konsequenz einer Unmöglichkeit der Vorlage zu ziehen. Auch Art. 6 I 1 EMRK will insoweit unangemessene Verzögerungen, Untätigkeiten der Rechtspflege ausschließen,[27] nicht aber eine einheitliche Rechtspraxis und die Wahrung verfassungsrechtlicher Erfordernisse per se verunmöglichen. Das Recht auf Verfahrensbeschleunigung zwingt nicht dazu, stets und in jedem Fall auf §§ 154a I 2, 154 I Nr.2 StPO zurückzugreifen, um damit Art. 100 I GG und seine hohen Darlegungsvoraussetzungen[28] zu umgehen.

Festzuhalten bleibt, dass die Verfassungswidrigkeit des § 370a AO praktisch nur im Zusammenspiel von Art. 100 I GG und den §§ 154a, 154 StPO bewältigt werden kann. In Fällen, in denen etwa die Verfolgung des § 370a AO beträchtliches Gewicht nach § 154a I 1 StPO hätte oder § 154a I 2 StPO sperrend wirkt, dürfen die Einstellungsvorschriften nicht deformiert werden, um § 370a AO wegen verfassungsrechtlicher Bedenken praktisch bereits auf kaltem Wege abzuschaffen. Nicht jeder Beschleunigungseffekt reicht aus, um von einem Verbrechenstatbestand des Gesetzgebers absehen zu dürfen. Eine gebotene Vorlage an das BVerfG darf nicht stets über § 154a StPO vermieden werden. Zumal sich nicht ohne Weiteres jeder Richter dem BGH wird anschließen wollen, bleibt das klärende und Einheitlichkeit bewirkende Wort des BVerfG tatsächlich weiterhin erforderlich, um eine gleiche Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Erkenntnis zu § 370a AO über § 31 II BVerfGG abzusichern.

III. Folgerungen für den praktischen Umgang mit § 370a AO

Rekapituliert man die voran stehenden Ausführungen, ist von der Verfassungswidrigkeit des § 370a AO auszugehen. Obschon dies institutionell allein das BVerfG abschließend feststellen kann, wäre eine andere Auffassung des BVerfG doch erstaunlich: das BVerfG müsste nichts weniger tun, als dem auf das Steuerstrafrecht spezialisierten Strafsenat des BGH zeigen, wie eine Norm des einfachen Rechts noch verfassungskonform gelesen werden kann. Dass das BVerfG an einer solchen Vorgehensweise nicht gehindert ist, bleibt zwar festzuhalten. Dass das BVerfG aber noch ein überzeugendes und auf den Gesetzgeber zurückführbares Differenzierungskriterium für die Bewertung des "großen Ausmaßes" aufdecken können wird, erscheint hingegen unwahrscheinlich.

Soweit Gerichte - nach Intervention der Verteidigung oder auch nach einer solchen der Staatsanwaltschaft - diesen Befund teilen, müssen sie bereits heute Konsequenzen ziehen. Ein passives Abwarten auf die irgend-

wann erfolgreiche Vorlage eines anderen Gerichts würde der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Art. 103 II GG, der überdies auch als Menschenrecht anerkannt ist (Art. 7 EMRK),[29] nicht gerecht. Ist ein Gericht von der Verfassungswidrigkeit überzeugt, ist die Vorlage die vorrangige Option. Sollte es hingegen ohne eine Überdehnung etwa des § 154a StPO möglich sein, das Verfahren hinsichtlich § 370a AO einzustellen, kommt auch diese Option in Betracht. Es bedarf hierzu einer genauen Prüfung der Voraussetzungen der konkret in Bezug genommenen Opportunitätsvorschrift im Lichte möglicher Erfordernisse des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung.

Schließlich ist die Hoffnung auf eine Lösung des bislang an die Justizpraxis verwiesenen Problems wieder an den zu richten, der das Problem selbst geschaffen hat: Auch wenn der Gesetzgeber ein zweites Mal eingestehen müsste, dass er zu einer nachhaltigen Gesetzgebung nicht im Stande war, so ist doch zu hoffen, dass er - soweit ihm das einstmals so wichtige - Gesetz noch immer wichtig genug ist, selbst umgehend die Konsequenzen ziehen. Der Gesetzgeber sollte - schon weil auch er an Verfassung und Völkerrecht gebunden ist - vermeiden, dass sich erst ein geeignetes Vorlageverfahren finden und vielleicht unabsehbare Zeit vor dem BVerfG verstreichen muss, bis der unvermeidliche Tenor aus Karlsruhe vorliegt. Wenn der Gesetzgeber das bereits ramponierte Vertrauen der Justizpraxis in den steuerstrafrechtlichen Gesetzgeber nicht weiter untergraben will, sollte er der Praxis eine lange Zeit der Unsicherheit ersparen und damit auch ein etwaiges praktisches Leerlaufen seiner Norm über die §§ 154a, 154 StPO verhindern.


[1] Die Vorschrift wurde durch das Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz (StVBG) vom 18. Dezember 2001 (BGBl I 3922) eingeführt und bereits durch das 5. Gesetz zur Änderung des Steuerbeamten-Ausbildungsgesetzes und zur Änderung von Steuergesetzen (StBAG) vom 23. Juli 2002 (BGBl I 2715) novelliert.

[2] Vgl. auch zur Frage der Verletzung des Art. 77 GG Gast de Haan DStR 2003, 12 ff.; Harms, Kohlmann-Festschr., 2003, S. 413, 419, die die Bedenken als schwerwiegend bezeichnet; gegen den Verstoß Wisser DStR 2003, 1191 ff.

[3] Vgl. Harms, Kohlmann-Festschr., 2003, S. 413 ff., 417 ff., 423 ff.

[4] Vgl. zu diesen Hinweisen m.w.N. SK-Wohlers, 34. Aufb.Lfg. 2003, § 358 Rn. 11.

[5] Vgl. BGH 5 StR 11/04 - Beschluss vom 20. April 2004 (LG Berlin) = BGH HRRS Nr. 531, wobei der Senat ebenfalls auf Park wistra 2003, 328 ff. m.w.N. hinwies.

[6] Vgl. zu den folgenden Darlegungen BGH HRRS 2004 Nr. 714.

[7] Der Senat verweist dazu auf BGH NJW 2003, 3068, 3069 f. und auf Reiß Stbg 2004, 113, 115 f.: siehe auch z.B. Fahl wistra 2003, 10 ff. Anzumerken bleibt freilich, dass gerade auch die Bestimmtheit der Rechtsfolgen einer Straftat durch Art. 103 II GG garantiert ist, so dass auch unauflösbare diesbezügliche Widersprüche durchaus zu Verstößen gegen Art. 103 II GG führen können, wenn sie die Vorhersehbarkeit der Rechtsfolgen negieren, vgl. näher am Beispiel der §§ 38 f. WpHG Gaede/Mühlbauer, wistra 2004, voraus. Heft 10/11.

[8] Der Senat verweist u.a. auf Harms (Fn. 2), S. 413, 419 ff.; Langrock wistra 2004, 241 ff.; Park wistra 2003, 328 ff.; über die vom Senat aufgeführten Quellen ist z.B. auch Spatschek/Wulf NJW 2002, 2983, 2984 zu nennen.

[9] Wie der BGH insbes. auch Langrock wistra 2004, 241, 242 ff.; Park wistra 2003, 328, 330 ff. und Spatschek/Wulf NJW 2002, 2983, 2984; aA Hunsmann DStR 2004, 1154, 1155 f.; Rüping DStR 2002, 1417, 1418; siehe auch Müller DStR 2002, 1641, 1643, der bezeichnender weise festhält, dass die Praxis - und damit auch die Normadressaten! - nun abwarten müsste, für welche konkreten Beträge und Kriterien sich die Rechtsprechung nun entscheiden werde.

[10] Vgl. auch bereits den entsprechenden Ansatz bei Harms (Fn. 2), S. 413, 419 ff. m.w.N.

[11] Vgl. m.w.N. BVerfGE 95, 64, 93. Die abermals auf Harms (Fn. 2), S. 413, 421 zurückführbare Haltung des Senats verkennt, dass sich der - methodisch nicht ohne Weiteres mit der Haltung des Ministeriums gleichzusetzende - Wille des Gesetzgebers auch klar objektiviert haben müsste, um die verfassungskonforme Auslegung auszuschließen. Gerade wenn man sich die Auffassung der Vorsitzenden Richterin Harms und des BGH - wie hier geschehen - von der mangelnden Qualität der Gesetzgebung zu eigen macht, sollten Schlüsse auf klare Aussagen "des Gesetzgebers" zu vielleicht nicht wirklich als relevant erkannten, sondern ignorierten Problemen nur zurückhaltend erfolgen.

[12] Vgl. eingehend Demko, Zur "Relativität der Rechtsbegriff" in strafrechtlichen Tatbeständen, 2002, passim.

[13] Dass eine solche tatbestandsrelative Auslegung etwa der Gewerbsmäßigkeit tatsächlich erfolgen sollte, wird dabei hier offen gelassen. Ihre Verwerfung durch den Senat überzeugt jedoch nicht.

[14] Vgl. BVerfGE 105, 135, 153 ff.; 57, 250, 262; 92, 1, 18 f.; EGMR, Krenz u.a. v. Deutschland, NJW 2001, 3035, 3037; BGH HRRS 2003, 251 f.; m.w.N. auch Gaede/Mühlbauer wistra 2004, voraus. Heft 10 o. 11.

[15] Vgl. jüngst BGH wistra 2004, 109 ff.: Bestimmtheit der sonstigen Täuschungshandlung des § 20a I Nr. 2 WpHG im Rahmen des strafrechtlichen Tatbestandes; dazu abl. bereits Schmitz JZ 2004, 526, 527 f.; und m.w.N. demnächst Gaede/Mühlbauer wistra 2004, voraus. Heft 10 o. 11. Zur unter Bestimmtheitsgesichtspunkten streitigen Auslegung des Handeltreibens m.w.N. Roxin StV 2003, 619 f.; Gaede HRRS 2004, 165 ff.

[16] Zur Möglichkeit des selbst unbestimmten Gesetzes Degenhart, in: Sachs GG, 3. Aufl. 2003, Art. 103 Rn. 62 ff., 67 ff.; anhand der Markt- und Kursmanipulation Gaede/Mühlbauer wistra 2004, voraus. Heft 10 o. 11.

[17] Vgl. etwa am - streng gehandhabten Bereich verdeckter Eingriffe - Kopp v. Schweiz, Rep. 1998-II, §§ 63 ff.: Für die von einem Gesetz i.S.d. EMRK zu gewährleistende Vorhersehbarkeit muss klar sein, unter welchen Umständen und Bedingungen die Überwachung stattfinden kann; allgemein Weiss, Das Gesetz i.S.d. EMRK, 1996, S. 141 ff.

[18] Vgl. so nur krit. Harms (Fn. 2), S. 413, 418; siehe auch zu weiteren prozessualen Rückwirkungen der Hochstufung zum Verbrechen Rüping DStR 2002, 1417, 1418.

[19] Vgl. etwa BVerfGE 63, 131, 141: "wesentlichen Aufgaben des Verfahrens der konkreten Normenkontrolle: zu verhüten, daß ein einzelnes Gericht sich über den Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt (BVerfGE 4, 331, 340 ), und über die Entscheidung im konkreten Fall hinaus durch allgemein verbindliche Klärung verfassungsrechtlicher Fragen divergierende Entscheidungen der Gerichte, Rechtsunsicherheit und Rechtszersplitterung zu vermeiden (BVerfGE 42, 42, 49f. m. w. N.)"; Sturm (Fn. 16), Art. 100 Rn. 5; Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 100 Rn. 4 (Stand Febr. 2004).

[20] Vgl. BVerfGE 97, 117, 122; 86, 71, 77 vgl. auch bereits BVerfGE 80, 54, 58; 17, 208, 210 und siehe BVerfGE 63, 131, 141; 86, 382 ff., 389 f.: Möglichkeit der Gewährung effektiven vorläufigen Rechtsschutzes bei Aufrechterhaltung des Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache.

[21] Siehe zum Recht auf Verfahrensbeschleunigung etwa Eckle v. Deutschland, Nr. 51, §§ 66 ff., 87, 94 = EuGRZ 1983, 371, 377 ff.; BVerfG NJW 2003, 2225 f.; 2003, 2897 f. sowie m.w.N. Gaede wistra 2004, 166 ff.

[22] Vgl. zu den hier angesichts der auf § 370a AO konzentrierten Darstellung nicht näher verfolgten Bedenken gegen die §§ 154 f. StPO m.w.N. LR-Beulke, 25. Aufl. 2001, § 154 Rn. 5 und SK-Weßlau, Aufb.-Lfg. 32, 2003, § 154a Rn. 6 ff., § 154 Rn. 3 ff., insb. Rn. 5.

[23] Vgl. zum auch vom BVerfG in anderem Zusammenhang betonten Gesichtspunkt, dass die ihm in Art. 100 I GG zugewiesene Kompetenz nicht "leerlaufen und von den Fachgerichten wahrgenommen" werden darf BVerfGE 63, 131, 141.

[24] Vgl. statt vieler Meyer-Goßner, 47. Aufl. 2003, § 154a Rn. 1, 15 f. und insbesondere zu § 154a I 2 StPO LR-Beulke (Fn. 22), § 154a Rn. 13, §§ 154 Rn. 25 ff. Vgl. insbesondere §§ 154a I 2, 154 I Nr. 2 StPO.

[25] Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 23), § 154 Rn. 7, § 154a Rn. 8 ff., 15 f., 1: dem partiellen Strafverfolgungsverzicht sind Grenzen gesetzt; LR-Beulke (Fn. 22), § 154a Rn. 10, aber auch Rn. 13; SK-Weßlau (Fn. 22), § 154a Rn. 6 ff., § 154 Rn. 13 ff., Rn. 16: Rechtsfolgen dürften (bei Abs. 1 Nr. 1) nicht bis auf die Hälfte schrumpfen; zu Abs. 1 Nr. 2 vgl. m.w.N. Rn. 19 ff.: Ausnahmeregelung für seltene Fälle.

[26] Vgl. m.w.N. etwa wie hier in der Sache jüngst wieder das für BGHSt vorgesehene Urteil BGH 4 StR 85/04 vom 6. Juli 2004 = BGH HRRS 2004 Nr. 668; siehe auch bereits zum Entscheidungsmaßstab bei der Fortführung von Verfahren Gaede wistra 2004, 166, einerseits 171 und 172 f. andererseits.

[27] Vgl. zu Ratio und Auslegung des Art. 6 I 1 EMRK m.div.Nachw. Gaede wistra 2004, 166, 168 ff.

[28] Vgl. etwa BVerfGE 86, 71, 76 ff.; 89, 329, 336 f.; 97, 49, 60 ff.; siehe auch Sturm (Fn. 16), Art. 100 Rn. 6, 20.

[29] Vgl. dazu statt vieler m.w.N. Demko HRRS 2004, 19 ff. und Puhk v. Estland, HRRS 2004 Nr. 343.