HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2004
5. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

mit der Juli-Ausgabe publizieren wir erstmals auch eine Entscheidung des U.S. Supreme Court. Die Hamdi-Entscheidung zur Behandlung feindlicher Kämpfer zeigt, dass auch die amerikanische Justiz eine grundsätzliche Entrechtung vermeintlicher Terroristen nicht hinnimmt. Gerhard Strate setzt sich in seinem Aufsatz "Justiz und Terrorismus" mit den amerikanischen und deutschen Verfahren auseinander und begrüßt die Hamdi-Entscheidung.

Neben dem kritischen Aufsatz von Ventzke zur aktuellen StPO-Reformdiskussion lohnen viele weitere Entscheidungen des EGMR, des BVerfG und des BGH - insbesondere zum Steuer- und Wirtschaftsstrafrecht - ein näheres Studium der Juli-Ausgabe der HRRS.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede Wiss. Ass.


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

542. Supreme Court of the United States No. 03-6696 - Urteil vom 28. Juni 2004 (Hamdi v. Rumsfeld)

Status amerikanischer Staatsbürger nach Einstufung als sog. "enemy combatants" ("feindliche Kämpfer"); Anspruch eines Inhaftierten auf Unterrichtung und Anhörung im Falle von Kriegs- und Konfliktzeiten; Bewahrung der Gewaltenteilung und der Individualrechte auch im Falle kriegerischer Konflikte; Beweismaß im Falle einer Überprüfung des Status als "enemy combatant".

Constitution of the United States of 1787 Art. I § 9, Amendment 5 (1791); 18 United States Code § 4001 (a); 28 United States Code § 2241, 2242.

1. Ein in Haft gehaltener Bürger, der seine Einstufung als "enemy combatant" ("feindlicher Kämpfer") in Frage zu stellen versucht, hat einen Anspruch darauf, über die tatsächlichen Gründe dieser Einstufung informiert zu werden, und eine faire Chance zu erhalten, den tatsächlichen Behauptungen der Regierung vor einem neutralen Entscheidungsträger entgegenzutreten.

2. Es ist gleichermaßen von fundamentaler Bedeutung, dass dieser Anspruch auf Unterrichtung und Gehör innerhalb eines vernünftigen Zeitraums und in einer bedeutungsangemessenen Weise gewährt wird.

3. Die Auffassung, die Gerichte müssten (im Falle sog. "enemy combatants") auf jede Prüfung des individuellen Falles verzichten und dürften sich ausschließlich mit der generellen Richtlinie der Inhaftierung befassen, ist mit einer vernünftigen Sicht der Gewaltenteilung nicht vereinbar, da ein solches Herangehen allein dazu führt, die Macht bei einem einzigen Zweig der Staatsgewalt zu verdichten. Selbst der Kriegszustand ist kein Blankoscheck für den Präsidenten, wenn es um die Rechte der Bürger geht. Welche Macht auch immer die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika der Exekutive hinsichtlich ihres Umgangs mit anderen Nationen und feindlichen Organisationen in Konfliktzeiten zuerkennen mag, so ist es ganz sicher, dass sie allen drei Gewalten eine Rolle zuteilt, wenn die individuellen Freiheiten zur Debatte stehen.

4. Mit dem Erfordernis eines gerechten Prozessgangs ("due process") ist auch im Falle einer Einstufung als "enemy combatant" ein Beweismaß des "some evidence" ("irgendein Beweis") verfassungsrechtlich nicht vereinbar.


Entscheidung

541. EGMR (Nr. 70276/01) - Urteil der ersten Kammer vom 19. Mai 2004 (Gusinskiy v. Russland)

Recht auf Freiheit und Sicherheit (hinreichender Verdacht nach Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK; Rechtmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Inhaftierung: Inkorporation des nationalen Rechts, qualitative Anforderungen an das Gesetz bei Art. 5 EMRK und Prüfung des nationalen Rechts durch den EGMR; Schutz vor Willkür); immanente Geltung der rule of law

innerhalb der EMRK; Verbot der zweckentfremdenden Berufung auf Schranken der EMRK durch den Staat (hier: Missbrauch des Strafverfahrens und der Untersuchungshaft zur Erzwingung des Verkaufs eines Medienunternehmens); Freiheit der Person; Rechtsstaatsprinzip.

Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK; Art. 18 EMRK; Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG

1. Strafverfahren und die Untersuchungshaft dürfen durch den Staat nicht zu verfahrensfremden Zwecken eingesetzt werden (hier: Einsatz als Druckmittel im Rahmen einer Vertragsverhandlung). Wenn ein staatliches Unternehmen einen inhaftierten Beschwerdeführer zur Unterzeichnung einer die Verfahrenseinstellung umfassenden Abmachung auffordert, die ein Staatsminister mit seiner Unterschrift bestätigt und die von einem staatlichen Untersuchungsbeamten später umgesetzt wird, muss der EGMR davon ausgehen, dass die Strafverfolgung des Betroffenen genutzt wurde, um diesen einzuschüchtern und damit eine Verletzung des Art. 18 in Verbindung mit Art. 5 EMRK annehmen.

2. Art. 5 Abs. 1 EMRK gewährt die Freiheit der Person im klassischen Sinne: Umfasst ist nur der Schutz der körperlichen Bewegungsfreiheit. Art. 5 EMRK schützt nicht gegen die Einleitung eines Strafverfahrens als solche.

3. Der für eine Festnahme nach Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK erforderliche hinreichende Verdacht setzt voraus, dass die Behörden im Zeitpunkt der Anklage hinreichende Beweise für eine Anklage gesammelt haben oder diese während der Inhaftierung sammeln. Eine unmittelbar erfolgende Anklage oder eine unmittelbare Vorführung vor einem Gericht ist nicht erforderlich. Es stellt jedoch einen essentiellen Bestandteil des Schutzes gegen willkürliche Inhaftierungen dar, dass der Verdacht auf vernünftigen Anhaltspunkten beruhen muss. Ein nur in gutem Glauben angenommener Verdacht genügt nicht: Es müssen Fakten oder Informationen vorliegen, die einen objektiven Betrachter davon überzeugen können, dass die betroffene Person eine Straftat begangen haben könnte.

4. Hinsichtlich der nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise zulässigen Inhaftierung bezieht sich die EMRK in erster Linie auf das nationale Recht. Sie bestimmt die Pflicht zur Beachtung der materiellen und prozeduralen Regelungen des nationalen Rechts und sie fordert qualitativ ergänzend ein, dass jede Freiheitsentziehung mit dem Zweck des Art. 5 EMRK, den Einzelnen vor willkürlichen Freiheitsentziehungen zu schützen, vereinbar ist. In erster Linie haben dabei die nationalen Institutionen das nationale Recht zu interpretieren und anzuwenden. Da jedoch gemäß Art. 5 Abs. 1 EMRK eine Verletzung des nationalen Rechts auch eine Verletzung der EMRK bedeutet, kann und muss der EGMR eine bestimmte Überprüfung vornehmen, ob das nationale Recht gewahrt worden ist.

5. Ein nationales Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 1 EMRK muss auch mit der rule of law vereinbar sein, die allen Artikeln der EMRK immanent ist. Dies bedeutet in dieser Hinsicht, dass ein Gesetz, welches eine Freiheitsentziehung gestattet, hinreichend zugänglich und präzise sein muss, um jedem Risiko einer willkürlichen Freiheitsentziehung vorzubeugen. Ein nationales Gesetz, das Freiheitsentziehungen abweichend vom geregelten Normalfall bei "außergewöhnlichen Umständen" zulässt, genügt diesen Anforderungen nicht.

6. Art. 18 EMRK hat innerhalb der EMRK keine selbständige Bedeutung. Die Bestimmung kann nur in Verbindung mit anderen Artikeln der EMRK angewendet werden; es kann jedoch auf eine Verletzung des Art. 18 EMRK in Verbindung mit einem anderen Artikel erkannt werden. Art. 18 EMRK ist nur anwendbar, wenn ein Recht oder eine Freiheit der EMRK betroffen ist, das bzw. die von der EMRK gestatteten Einschränkungen unterliegt.


Entscheidung

546. BVerfG 2 BvR 1136/03 - Beschluss vom 14. Juni 2004 (LG Hamburg)

Anordnung des dinglichen Arrests in das Vermögen zur Sicherung des Verfalls (Bruttoprinzip; Prüfungsanforderungen bei Entzug des gesamten Vermögens; Mittäterschaft; wirtschaftliche Mitverfügungsgewalt; Organ, Vertreter oder Beauftragter einer juristischen Person); Eigentumsgrundrecht (Bestand; Nutzung; Gewährleistungsgehalt; Grundrechtsschutz durch faire Verfahrensführung); Schranken des Eigentums (Entziehung von deliktisch erlangtem Eigentum als strafrechtliche Nebenfolge); Verheimlichung eines ablehnenden Beschlusses der Vorinstanz im Beschwerdeverfahren (keine Bekanntgabe, Trennung von Beschlüssen; Akteneinsicht; Entfernung aus den Akten); Effektivität des Rechtsschutzes (Prüfungsumfang des Gerichtes; Abwägung im Einzelfall; Verhältnismäßigkeit); Substantiierung der Verfassungsbeschwerde; Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Erschöpfung des Rechtswegs; Nachholung rechtlichen Gehörs nach § 33a StPO; nachträgliche Anhörung im Beschwerdeverfahren nach § 311a StPO; Rüge der Verfassungswidrigkeit von Normen im fachgerichtlichen Verfahren); Fall Falk (Ision / Distefora / Energies).

Art. 14 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 73 Abs. 1 StGB, § 73a StGB; § 111b Abs. 2 StPO; § 111d StPO; § 111e Abs. 1 StPO; § 33a StPO; § 311a StPO; § 88 BörsG a.F.; § 38 Abs. 1 Nr. 4 WpHG; § 20a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 WpHG; § 263 Abs. 1 StGB; § 263 Abs. 3 Nr. 1 StGB; § 25 Abs. 2 StGB; § 53 StGB; § 147 StPO.

1. Die Bekanntgabe einer ermittlungsrichterlichen Entscheidung darf nur so lange unterbleiben, wie dies zur Sicherung des Untersuchungszweckes erforderlich ist. Ist danach eine Bekanntgabe geboten, sind dem Betroffenen alle ihn betreffenden Entscheidungen zu eröffnen. In den Fällen, in denen erst die Beschwerdeinstanz die belastende Entscheidung trifft, ist dem Betroffenen grundsätzlich mit der Beschwerdeentscheidung auch die erstinstanz-

liche Entscheidung, die den Antrag der Staatsanwaltschaft abgelehnt hat, bekannt zu geben.

2. Das Eigentum steht als elementares Grundrecht in einem inneren Zusammenhang mit der Garantie der persönlichen Freiheit (vgl. BVerfGE 68, 193, 222; 89, 1, 6). Dabei ist von Art. 14 Abs. 1 GG aber nicht nur der Bestand der Eigentumsposition geschützt, sondern auch deren Nutzung (vgl. BVerfGE 52, 1, 30; 101, 54, 75).

3. Der Gewährleistungsgehalt des Eigentumsrechts schließt den Anspruch auf eine faire Verfahrensführung ein. Bei mehreren Auslegungsmöglichkeiten des Verfahrensrechtes ist diejenige zu wählen, die es dem Gericht ermöglicht, die Grundrechte der Verfahrensbeteiligten durchzusetzen und zu verwirklichen. Deshalb ist bei der Auslegung und Anwendung auch prozessualer Bestimmungen der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts gemäß Art. 14 Abs. 1 GG, in das mit der gerichtlichen Entscheidung eingegriffen wird, Rechnung zu tragen. Das schließt einen Eingriff aus, der ohne angemessene Legitimation im Verfahren auf Grund der strafprozessualen Eingriffsnormen erfolgt.

4. Zur Effektivität des Rechtsschutzes gehört es, dass das Gericht das Rechtsschutzbegehren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht prüft. Das schließt eine Bindung des Gerichts an die im Verfahren der Exekutive getroffenen Feststellungen und Wertungen grundsätzlich aus (vgl. BVerfGE 15, 275, 282; 101, 106, 123). Die gerichtliche Entscheidung darf sich daher auch nicht auf formelhafte Bemerkungen zurückziehen, die letztlich offen lassen, ob im Einzelfall die Voraussetzungen der gesetzlichen Eingriffsermächtigung vorliegen. Zur richterlichen Einzelentscheidung gehören eine sorgfältige Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und eine umfassende Abwägung zur Feststellung der Angemessenheit des Eingriffs im konkreten Fall. Schematisch vorgenommene Anordnungen vertragen sich mit dieser Aufgabe nicht (vgl. BVerfGE 107, 299, 325).

5. Die Beschränkung des Eigentums durch die §§ 73 ff. StGB ist verhältnismäßig; sie führt insbesondere nicht zu einer übermäßigen und daher unzumutbaren Belastung des Eigentümers einer deliktisch erlangten Vermögensposition (Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Januar 2004 - 2 BvR 564/95).

6. An die Zumutbarkeit und an das Verfahren der Anordnung eines dinglichen Arrest gem. den §§ 111b Abs. 2, 111d und § 111e StPO sind besondere Anforderungen zu stellen. Das Eigentumsgrundrecht verlangt hier eine Abwägung des Sicherstellungsinteresses des Staates mit der Eigentumsposition des von der Maßnahme Betroffenen. Je intensiver der Staat schon allein mit Sicherungsmaßnahmen in den vermögensrechtlichen Freiheitsbereich des Einzelnen eingreift, desto höher sind die Anforderungen an die Rechtfertigung dieses Eingriffs.

7. Wird im Wege vorläufiger Sicherungsmaßnahmen (§§ 111b Abs. 2, 111d und § 111e StPO) das gesamte oder nahezu das gesamte Vermögen der Verfügungsbefugnis des Einzelnen entzogen, fordert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht lediglich eine Vermutung, dass es sich um strafrechtlich erlangtes Vermögen handelt; vielmehr bedarf dies einer besonders sorgfältigen Prüfung und einer eingehenden Darlegung der dabei maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen in der Anordnung, damit der Betroffene dagegen Rechtsschutz suchen kann.

8. Für die Anordnung des Verfalls gegen Mittäter einer Straftat kommt es darauf an, ob diese unmittelbar aus der Tat wirtschaftlich etwas, also eigene Verfügungsgewalt, erlangt haben. In diesem Fall haften die Mittäter - bei Verfall von Wertersatz - als Gesamtschuldner. Dies erfordert aber Feststellungen darüber, inwieweit die jeweiligen Mittäter eigene Verfügungsgewalt erlangen und ob nicht ein Vertretungsfall im Sinne von § 73 Abs. 3 StGB vorliegt, bei welchem der Tatvorteil unmittelbar von einem Dritten erlangt worden ist.

9. Auch wenn das Geld seinem wirtschaftlichen Wert nach nicht unmittelbar einem tatunbeteiligten Dritten zugeflossen ist, bedarf es zur Anordnung des Verfalls der Feststellung, wer unter den Tatbeteiligten wirtschaftliche Mitverfügungsgewalt über das Geld erlangt hat. Eine Zurechnung nach den Grundsätzen der Mittäterschaft kommt nur dann in Betracht, wenn sich alle Beteiligten darüber einig waren, dass sie gemeinsam Verfügungsgewalt erlangt haben. Der Verfall bei Mittätern setzt danach eine Mitverfügungsgewalt aller Beteiligten an dem Erlangten voraus. Davon kann in den Fällen, in denen eine Person als Organ, Vertreter oder Beauftragter einer juristischen Person handelt und der Vorteil in das Vermögen der juristischen Person fließt, nicht ohne weiteres ausgegangen werden.


Entscheidung

608. BVerfG 2 BvR 1012/02 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. Mai 2004 (LG Augsburg; AG Augsburg)

Anspruch auf rechtliches Gehör (Verletzung durch sofortige Entscheidung trotz des Vorbehalts weiterer Begründung nach Akteneinsicht; Ausschluss von "in camera"-Verfahren im Strafprozess); Akteneinsicht (Gewährung; Informationsbeschränkung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren); Rechtsschutzbedürfnis bei der Verfassungsbeschwerde (kein Wegfall wegen Zeitablaufes bei tief greifenden Grundrechtseingriffen); dinglicher Arrest im Strafverfahren (Recht auf Eigentum; wirtschaftliche Handlungsfreiheit; Gewährung rechtlichen Gehörs schon im Arrestverfahren).

Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 14 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 EMRK; Art. 5 Abs. 4 EMRK; § 147 StPO; § 33 StPO; § 33a StPO; § 111b StPO; § 111d StPO; § 917 ZPO

1. Der Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht oft außerstande ist, schwierige Fragen in kurzer Zeit zu entscheiden, führt in den Fällen der tief greifenden und folgenschweren Grundrechtseingriffe nicht dazu, dass eine Verfassungsbeschwerde alleine wegen des vom

Beschwerdeführer nicht zu vertretenden Zeitablaufs als unzulässig verworfen wird (vgl. BVerfGE 81, 138, 140 f.).

2. Das durch Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör ist nicht nur ein "prozessuales Urrecht" des Menschen, sondern auch ein objektivrechtliches Verfahrensprinzip, das für ein rechtsstaatliches Verfahren im Sinne des Grundgesetzes konstitutiv und grundsätzlich unabdingbar ist (vgl. BVerfGE 55, 1, 6). Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 9, 89, 95). Rechtliches Gehör sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess selbstbestimmt und situationsspezifisch gestalten können.

3. Der Rechtsstaatsgedanke gebietet es, dass der von einer strafprozessualen Eingriffsmaßnahme betroffene Beschuldigte jedenfalls nachträglich Gelegenheit erhält, sich im gerichtlichen Verfahren in Kenntnis der Entscheidungsgrundlagen gegen die Eingriffsmaßnahme und den zu Grunde liegenden Vorwurf zu verteidigen (vgl. BVerfGE 18, 399, 404).

4. Die §§ 33, 33a StPO beschränken die gebotene Anhörung nicht auf Tatsachen und Beweisergebnisse; vielmehr ist über den Wortlaut der Bestimmungen im engeren Sinn hinaus jeder Aspekt des rechtlichen Gehörs davon erfasst (vgl. BVerfGE 42, 243, 250). Dazu gehört auch die Information über die entscheidungserheblichen Beweismittel.

5. Der dingliche Arrest zur Sicherung des Verfalls von Vermögensteilen und dessen Vollziehung durch Pfändungsmaßnahmen fügen dem Betroffenen einen erheblichen Nachteil zu; für die Zeit der Aufrechterhaltung der Maßnahme ist die wirtschaftliche Handlungsfreiheit gravierend beeinträchtigt. Daher ist dem Betroffenen bereits zum Rechtseingriff im Arrestverfahren und nicht erst zur endgültigen (Verfall-)Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren.


Entscheidung

543. BVerfG 2 BvR 715/04 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 21. Juni 2004 (OLG Köln/LG Köln)

Freiheit der Person (Anordnung einer stationären Untersuchung); körperliche Untersuchung des Beschuldigten (Feststellung der Erektionsfähigkeit; Nachtschlafuntersuchung); Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Geeignetheit; Erforderlichkeit; Angemessenheit; Übermaßverbot; Unerlässlichkeit der Maßnahme im Strafverfahren); Grundsatz der Subsidiarität (Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung im Zwischenverfahren; Unzumutbarkeit des Zuwartens bei freiheitsentziehenden Maßnahmen); Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichtes (Evidenzkontrolle).

Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; § 81a StPO; § 202 StPO; § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG

1. Die auf § 81a StPO gestützte Anordnung einer stationären Untersuchung im Ermittlungsverfahren stellt eine Freiheitsentziehung im Sinne der Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG dar.

2. Die Abwägung zwischen den in Betracht kommenden Maßnahmen und zwischen Anlass und Auswirkungen des angeordneten Eingriffs haben die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte unter Würdigung aller persönlichen und tatsächlichen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (vgl. BVerfGE 27, 211, 219). Eine dem Sinn der Grundrechte Rechnung tragende Gesetzesanwendung erfordert dabei die Berücksichtigung der Stärke des Tatverdachts (vgl. BVerfGE 17, 108, 117). Aber auch begründete Zweifel am Beweiswert der Maßnahme sind in die einzelfallbezogene Prüfung einzustellen, denn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fordert im Strafverfahren, dass die Maßnahme unerlässlich ist (vgl. BVerfGE 17, 108, 117).

3. Ob § 81 a StPO die Rechtsgrundlage für eine mit einer körperlichen Untersuchung zwangsläufig verbundene Freiheitsentziehung darstellt und die materiellen Voraussetzungen einer solchen Maßnahme mit hinreichender Bestimmtheit regelt, kann dahinstehen.


Entscheidung

545. BVerfG 2 BvR 480/04 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 9. Mai 2004 (OLG München/LG Traunstein)

Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur se ipsum accusare) und zivilrechtliche Auskunftsverpflichtungen (Vorrang des Gläubigerinteresses; strafverfahrensrechtliches Verwertungsverbot); Zwangshaft bei nicht vertretbaren Handlungen.

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 888 Abs. 1 ZPO

1. Das Verfassungsrecht schreibt keinen lückenlosen Schutz gegen staatlichen Zwang zur Selbstbezichtigung ohne Rücksicht darauf vor, ob dadurch schutzwürdige Belange Dritter beeinträchtigt werden. Unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar wäre ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen. Handelt es sich hingegen um Auskünfte zur Erfüllung eines berechtigten Informationsbedürfnisses, wie zivilrechtlich vollstreckbare Auskunfts- und Rechnungslegungspflichten, ist der Gesetzgeber befugt, die Belange der verschiedenen Beteiligten gegeneinander abzuwägen (vgl. BVerfGE 56, 37, 49).

2. Vollstreckbare, zivilrechtliche Auskunfts- und Rechnungslegungspflichten bedürfen gegebenenfalls einer Ergänzung durch ein im Wege verfassungskonformer Auslegung der einschlägigen Bestimmungen zu gewinnendes strafrechtliches Verwertungsverbot (vgl. dazu BVerfGE 56, 37, 50 ff.).


Entscheidung

544. BVerfG 2 BvR 1588/02 - Beschluss vom 17. Mai 2004 (LG Halle/OLG Naumburg)

Antrag auf Festsetzung des Gegenstandswertes einer Verfassungsbeschwerde (Rechtsgüter vom hohen Rang; Prüfung der Verfassungsgemäßheit von Normen besonderer Bedeutung; Freiheit der Person: nachträgliche Sicherungsverwahrung).

Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; § 10 Abs. 1 BRAGO; § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO

Betrifft die Verfassungsbeschwerde Grundrechte des Beschwerdeführers von hohem Rang und hat sie zudem zu einer Beurteilung der Verfassungsgemäßheit von Normen veranlasst, die allgemein, über die individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers hinaus, von besonderer Bedeutung sind, so rechtfertigt dies bei dem nach billigem Ermessen festzusetzenden Gegenstandswert den gesetzlichen Mindestwert ganz erheblich zu überschreiten.