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HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 545

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 480/04, Beschluss v. 09.05.2004, HRRS 2004 Nr. 545


BVerfG 2 BvR 480/04 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 9. Mai 2004 (OLG München/LG Traunstein)

Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur se ipsum accusare) und zivilrechtliche Auskunftsverpflichtungen (Vorrang des Gläubigerinteresses; strafverfahrensrechtliches Verwertungsverbot); Zwangshaft bei nicht vertretbaren Handlungen.

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 888 Abs. 1 ZPO

Leitsatz des Bearbeiters

1. Das Verfassungsrecht schreibt keinen lückenlosen Schutz gegen staatlichen Zwang zur Selbstbezichtigung ohne Rücksicht darauf vor, ob dadurch schutzwürdige Belange Dritter beeinträchtigt werden. Unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar wäre ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen. Handelt es sich hingegen um Auskünfte zur Erfüllung eines berechtigten Informationsbedürfnisses, wie zivilrechtlich vollstreckbare Auskunfts- und Rechnungslegungspflichten, ist der Gesetzgeber befugt, die Belange der verschiedenen Beteiligten gegeneinander abzuwägen (vgl. BVerfGE 56, 37, 49).

2. Vollstreckbare, zivilrechtliche Auskunfts- und Rechnungslegungspflichten bedürfen gegebenenfalls einer Ergänzung durch ein im Wege verfassungskonformer Auslegung der einschlägigen Bestimmungen zu gewinnendes strafrechtliches Verwertungsverbot (vgl. dazu BVerfGE 56, 37, 50 ff.).

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Gründe

Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>).

Das Verfassungsrecht schreibt keinen lückenlosen Schutz gegen staatlichen Zwang zur Selbstbezichtigung ohne Rücksicht darauf vor, ob dadurch schutzwürdige Belange Dritter beeinträchtigt werden. Unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar wäre ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen. Handelt es sich hingegen um Auskünfte zur Erfüllung eines berechtigten Informationsbedürfnisses, ist der Gesetzgeber befugt, die Belange der verschiedenen Beteiligten gegeneinander abzuwägen (vgl. BVerfGE 56, 37 <49>; s. auch zu Auskunftspflichten im Steuerverfahren: Bundesverfassungsgericht, Beschluss des Zweiten Senats (Vorprüfungsausschuss) vom 21. April 1988 - 2 BvR 330/88 -, wistra 1988, S. 302).

Diese Grundsätze lassen sich auf den vorliegenden Fall übertragen. So begegnet es keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken, dass nach den einschlägigen zivilrechtlichen bzw. zivilprozessualen Vorschriften dem Rechtsschutzanspruch der Gläubigerseite Vorrang eingeräumt wird vor dem Schutz des Schuldners vor einer zwangsweise durchsetzbaren Selbstbelastung. Der Gesetzgeber berücksichtigt damit, dass es im Falle schuldrechtlicher Auskunfts- und Rechnungslegungspflichten nicht allein um ein staatliches oder öffentliches Informationsbedürfnis, sondern zugleich um die Interessen gegebenenfalls geschädigter Dritter geht, die auf entsprechende Informationen regelmäßig angewiesen sind. Die Zubilligung eines Auskunftsverweigerungsrechts würde hier gerade denjenigen ungerechtfertigt bevorzugen, der zum Nachteil des Gläubigers besonders verwerflich gehandelt hat.

Das Ergehen des Haftbefehls im Rahmen des gesetzlich vorgesehenen, abgestuften Vollstreckungsverfahrens nach § 888 Abs. 1 ZPO begegnet insoweit auch im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit keinen Bedenken. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass der als verfassungswidrig gerügte Zwang, im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens Angaben machen zu müssen, letztlich nur die prozessuale Konsequenz aus dem vom Beschwerdeführer hingenommenen Ergebnis des Erkenntnisverfahrens ist.

Zwar bedarf die gegenüber dem Gläubiger bestehende, vollstreckbare Auskunfts- und Rechnungslegungspflicht gegebenenfalls einer Ergänzung durch ein im Wege verfassungskonformer Auslegung der einschlägigen Bestimmungen zu gewinnendes strafrechtliches Verwertungsverbot (vgl. dazu BVerfGE 56, 37 <50 ff.>). Ob und in welchem Umfang die erzwungenen Angaben in einem späteren Strafprozess zu einem Verwertungsverbot führen, bedarf hier jedoch keiner Entscheidung.

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 545

Bearbeiter: Stephan Schlegel