HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2004
5. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Unheil oder Paradigmenwechsel?

Erste Anmerkungen zu einem "Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens"[1]

von Rechtsanwalt Klaus-Ulrich Ventzke, Hamburg[2]

I.

"Strafprozessreform ist ein Begriff, der großes Unheil ankündigt". So leitete Peter-Alexis Albrecht[3] auf dem 25. Strafverteidigertag seinen Vortrag über das Strafverfahrensänderungsgesetz vom 11.11.2000 ein. Dieses Vorverständnis entspricht den Erfahrungen von Strafverteidigern mit Reformbemühungen, die die Strafprozessordnung - sie wird in diesem Jahr 125 Jahre alt - zum Gegenstand hatten. "´Der Strafverteidigertag protestiert … `" - das war die (nicht nur berufspolitische) Konsequenz, die auf dem 24. Strafverteidigertag einer der Verfasser des Diskussionsentwurfes, Jerzy Montag[4], in Erinnerung rief, allerdings um den Strafverteidigertag schon "auf dem Weg von der Protestkultur zur Beteiligung in der rotgrünen Bundesregierung" zu sehen. Im wissenschaftlichen Schrifttum[5] ist bilanzierend darauf hingewiesen worden, dass die Stärkung von Beschuldigtenrechten seit geraumer Zeit nicht mehr originäres Reformziel war, vielmehr die Vorgaben

  • Bekämpfung besonderer Kriminalitätsformen
  • Opferschutz
  • Einsparung von Ressourcen

die gesetzgeberischen Aktivitäten bestimmten. Die Entwurfsverfasser erwecken den Eindruck, dass der Diskussionsentwurf (im folgenden: DE) nicht in dieser unheilvollen Tradition steht: Von einem "Paradigmenwechsel im deutschen Strafprozessrecht"[6] ist die Rede oder davon, dass der DE eine "fortschrittliche Zielrichtung" aufweise, die der Abgeordnete Montag in einer Presseerklärung vom 13.02.2004 leitsatzartig wie folgt umschreibt:

"Opferrechte stärken!

Beschuldigtenrechte stärken!

Strafverfahren optimieren!"

Die Befürchtung, dass die Beschuldigtenrechte einmal mehr zwischen gestärkten Opferrechten und "Optimierungsbemühungen" - gemeinhin der Euphemismus für "kurzen Prozess" - unter die Räder kommen, verstärkt sich bereits, wenn man parallel die Presseerklärung des Abgeordneten Joachim Stünker vom 13.02.2004 studiert, in der er als Mitverfasser seine Sicht der Dinge schildert: Die Stärkung von Beschuldigtenrechten findet in ihr keine, dafür aber der verfahrensbeschleunigende Effekt der stärkeren Einbindung des Verteidigers in das Ermittlungsverfahren umso mehr Erwähnung. Das läge nicht nur auf der Linie des sog. Eckpunktepapiers[7], als dessen Fortschreibung sich der DE (S. 1 f.) ausdrücklich begreift, sondern entspricht auch dem Stellenwert, der dem DE in der bisherigen Reformdiskussion zukam.

"Wir werden Sie jagen!", drohte der Abgeordnete Kauder[8] am 03.07.2003 im deutschen Bundestag den Regierungsparteien an, und er meinte einmal mehr "Opferschutz und Opferentschädigung". Und die Gejagten haben zu ihrer Verteidigung - auch im Zusammenhang mit der allfälligen "Justizbeschleunigung" und verspottet von Oppositionsabgeordneten - immer auch auf eines verwiesen, nämlich auf den in der Entstehung begriffenen DE[9] .

II.

Gleichwohl: Nehmen wir die Behauptung der Verfasser des DE beim Wort, dass er zumindest auch eine Stärkung der Verteidigungsrechte intendiert. Stellen wir uns vor, wie sich unser Berufsalltag veränderte, hätten wir am 08.03.2004 die Regelungen des DE anzuwenden. Wie würde am Abend dieses Tages unser Rückblick ausfallen?

Ich will also weder zu dem verfahrensrechtlichen Idealbild des DE, sollte es überhaupt existieren, noch dazu sprechen, welche Fragen nicht zum Gegenstand des Entwurfs gemacht worden sind. Ausklammern will ich ferner Fragen der politischen Machbarkeit (auch von Alternativvorschlägen). Mir geht es allein um die praktischen

Auswirkungen des Entwurfs, allerdings unter Zugrundelegung vor allem zweier - leider nicht mehr selbstverständlicher - Prämissen: 1. Strafverteidigung hat - unabhängig von der leidigen dogmatischen Qualifizierung der Verteidigerrolle[10] - staatliches Eingriffsverhalten abwehrenden Charakter. Dem Beschuldigten ist beizustehen gegen staatliche Bemühungen, ihm nachzuweisen, dass er sich im Ergebnis zu Unrecht auf die Unschuldsvermutung beruft.[11]

2. Erst im Strafverfahren stellt sich heraus, ob es einen Täter und "sein Opfer" gibt. [12] Das ist nicht nur im Hinblick auf einen vom DE entgegen seiner Intention (S. 16) nicht korrigierten Sprachgebrauch des bisherigen Gesetzgebers vom "Täter" (z.B. § 163 f StPO) in Erinnerung zu rufen, sondern auch deshalb unumgänglich, weil in der rechtspolitischen Diskussion gerade in der letzten Zeit ungeniert der Eindruck erweckt wird, es werde nur über "Täter" zu Gericht gesessen:

"Mit dem Wegfall einer Tatsacheninstanz werden Rechte des Täters eingeschränkt." [13]

So ein liberaler Bundestagsabgeordneter, im Hauptberuf Staatsanwalt. Und eine für die Oppositionsparteien tätige Volljuristin steht ihm in nichts nach:

"Der Täter möchte immer im besten Licht dastehen, um eine für ihn günstige Entscheidung herbeizuführen. Sein Verteidiger wird ihn dabei nur unterstützen."[14]

Allerdings: Argumentative Verwahrlosung oder Gedankenlosigkeit, die sich hierin spiegelt, ist nicht wesentlich gefährlicher als ein "samtpfötiger" Sprachgebrauch, gegen den sich die zuletzt zitierte Abgeordnete wandte: "Zukunftssichere Weiterorientierung des Strafverfahrens" (S. 16), "Nutzung kommunikativer Elemente" (S. 16), "transparenter Verhandlungsstil" (S. 23), "qualifizierte Streitkultur" (S. 24), Konsens, Kooperation, Modernität - ein derartiges Wortgeklingel ist nicht nur in seiner Häufung wenig schön, sondern stiftet Verwirrung, wenn mit ihm der "Paradigmenwechsel" im Strafverfahren praktisch betrieben werden soll. Edda Weßlau [15] hat auf die Notwendigkeit, hierbei begriffliche Disziplin walten zu lassen, eindringlich hingewiesen. Oder in den Worten Peter-Alexis Albrechts [16]:

"Das Problem ist, dass das Strafverfahren niemals als harmonischer Ort denkbar ist. Hier geht es um den ureigenen Konflikt zwischen Staat und Individuum, zwischen Strafverfolgungsinteressen und Grundrechten."

3. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Würden wir am 08.03.2004 auf unseren ersten Arbeitstag mit dem DE zurückblicken, so würden wir ungeachtet vereinzelter Verbesserungen der Rechtslage bestenfalls ratlos sein: Die anzuwendenden neuen Vorschriften lassen vielfach einen klaren Regelungsgehalt vermissen. Sie verlangen uns vor allem aber das ab, was Peter-Alexis Albrecht [17] als "Kuhhandel" klassifiziert hat:

"Der Verteidiger soll zu einem frühen Zeitpunkt in die Ermittlungen einbezogen werden. Im Gegenzug verzichten Verteidiger und Beschuldigter auf Rechtsgarantien in der Hauptverhandlung. (…) Der Konsens, der da erzielt werden soll, ist einseitig. Er erleichtert die Strafverfolgung. Der Strafverteidiger soll helfen, die Strafverfolgung zu erleichtern. Die `Harmonie`, die den Konflikt ersetzt, geht zu Lasten des Beschuldigten."

III.

1. Änderungen im Rechtsmittelrecht stellten lange Zeit eines der zentralen Themen des Reformdiskurses dar. Der DE hält sich hier zurück und sieht - bis auf eine allerdings gravierende Ausnahme - von strukturell schwerwiegenden Änderungen ab.

a) Für das Revisionsverfahren wird im DE ausdrücklich an zwei Änderungen gedacht:

Zum einen sieht § 345 Abs. 1 DE vor, dass der Vorsitzende des Tatgerichts "durch unanfechtbare Verfügung" die Revisionsbegründungfrist "auf Antrag um bis zu einem Monat" verlängern kann. Nicht geregelt sind folgende Punkte:

  • Inhaltliche Anforderungen an die Antragsbegründung,
  • Kriterien der Entscheidung des Vorsitzenden,
  • Zeitpunkt/Form der Entscheidung,
  • Konsequenzen eines Unterbleibens der Entscheidung bzw. einer nur teilweisen Fristverlängerung.

Das ist nicht durchdacht. Hillenkamp,[18] auf den sich der DE (S. 51) beruft, hatte mit guten Gründen eine Entscheidung des Vorsitzenden des Revisionsgerichts befürwortet, was aber neben den dogmatischen Bedenken des DE jedenfalls kaum praktikabel sein dürfte: Die Akten müssten während der Revisionsbegründungsfrist zwischen Tatgericht und Revisionsgericht hin und her geschickt werden. Vor allem aber: Die Handhabung des Wiedereinsetzungsrechts ist im Hinblick auf die §§ 344, 345 StPO seit jeher mit gravierenden Problemen behaftet[19] . Sie werden durch diesen konturlosen Reformvorschlag unheilvoll verstärkt. Warum also keine an § 275 StPO - wie auch immer - angelehnte Staffelung der Revisionsbegründungsfrist, die allen Verfahrensbeteiligten die notwendige Sicherheit bei der Fristbestimmung vermitteln würde?

Zum anderen soll § 344 Abs. 2 StPO verändert werden. Allerdings steht nicht eine Entschärfung des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO auf der Tagesordnung. Absatz 2 soll vielmehr durch den folgenden Satz 3 ergänzt werden:

"Im Übrigen soll der Beschwerdeführer angeben, auf welcher Verletzung einer anderen Rechtsnorm das Urteil beruht." (S. 10, 50)

Was diese ausdrücklich als solche klassifizierte bloße Soll-Vorschrift praktisch bewirken soll, verrät der DE nicht. Bereits jetzt gilt: Der Beschwerdeführer wird der Revisionsstaatsanwaltschaft und dem Revisionsgericht seine sachlichrechtlichen Bedenken gegen das angefochtene Urteil frühestmöglich mitteilen. [20] Andererseits: Die dem Revisionsgericht eröffnete Möglichkeit, die sachlichrechtliche Unbedenklichkeit eines tatgerichtlichen Urteils auf die allgemeine Sachrüge hin umfassend zu überprüfen, ist unverzichtbar, solange durch die revisionsgerichtliche Praxis auch die Einheitlichkeit der Rechtsprechung gesichert werden soll. [21] Und zudem: Bisher hatten sich die Revisionsgerichte unter dem Blickwinkel einer unzulässigen Sachrüge eher mit Revisionsbegründungen auseinanderzusetzen, in denen Zuviel - auf Urteilsfremdes Bezugnehmendes - zu lesen war. [22] Trotzdem - und auch deshalb stelle ich sie an den Anfang meiner Erörterungen - ist die "Regelung" in ihrer argumentativen Herleitung symptomatisch für den DE:

"Die vom Angeklagten als Revisionsführer verlangte verstärke Mitarbeit ist sachgerecht, weil gerade seine Stellung und seine Verteidigung, insbesondere durch die verstärkten Mitwirkungsbefugnisse bei Beweiserhebungen, in den vorangegangenen Abschnitten des Verfahrens entscheidend gestärkt werden. (S. 50)"

Was hat das, die von den Entwurfsverfassern behauptete Stärkung der verfahrensrechtlichen Stellung eines Angeklagten, mit dem Rechtsinstitut der Sachrüge des Revisionsrechts zu tun?

Blickte man am 08.03.2004 auf die revisionsrechtlichen Vorschriften, so lautete das Fazit bestenfalls: Weder Unheil noch Paradigmenwechsel.

b) Zu einem völlig anderen Ergebnis führte indes der Blick auf die geänderten Vorschriften des Berufungsrechts. Gewiss: Einschränkungslos zu begrüßen ist es, dass entgegen den Vorstellungen etwa des Justizbeschleunigungsgesetzes[23] die Annahmeberufung abgeschafft werden soll, aber um welchen Preis!

§ 319 Abs. 1 StPO würde wie folgt lauten (S. 10):

"Ist die Berufung verspätet eingelegt oder nicht begründet worden, so hat das Gericht des ersten Rechtszuges das Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen."

Der Berufungsführer wird nämlich zukünftig verpflichtet sein, die Berufung "binnen einer Woche" nach Urteilszustellung zu begründen:

"Der Beschwerdeführer hat dabei das mit der Berufung erstrebte Ziel anzugeben; vorhandene Beweismittel soll er angeben." (§ 317 S. 2 DE)

Derartiges kommentiert sich selbst: Wer weiß oder wissen müsste, dass

  • der Verteidigerwechsel häufig nach Zustellung des schriftlichen Urteils 1. Instanz in die Wege geleitet wird,
  • in umfangreichen Verfahren, etwa Schöffensachen, das Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme (z.B. anhand des Protokolls) ausgewertet werden muss,
  • der Sachverhalt mit dem Mandanten ggf. neu erarbeitet werden muss,
  • die Frage der Rechtsmittelbeschränkung mit nicht unerheblichen Problemen behaftet ist (Lassen die erstinstanzlichen Urteilsgründe eine Rechtsmittelbeschränkung überhaupt zu? Welche Bindungswirkung wird durch ein Rechtsmittelverzicht hinsichtlich sog. doppelrelevanter Tatsachen ausgelöst?),

wer dies alles berücksichtigt, kann sich nur über die Schlichtheit wundern, mit der die Verfasser des DE die Einführung dieser - wohlgemerkt: nicht verlängerbaren - Frist bei gleichzeitiger (berechtigter) personeller Aufstockung der Berufungsgerichte (S. 53 ff.) als Lappalie abtun:

"Damit ist kein Angeklagter überfordert, zumal er sein Rechtsmittel zu Protokoll der Geschäftsstelle einlegen kann. Dadurch können die Vorbereitung der Berufungsverhandlung erleichtert und unnötige Zeugenladungen vermieden werden. Auch mit eher allgemeinen Begründungen - etwa: ´weil mir die Strafe zu hoch ist´ - kann das Verfahren entlastet werden, weil dies die Beschränkung in der Berufungsinstanz auf das Strafmaß ermöglicht." (S. 49)

Eine Flut von Wiedereinsetzungsgesuchen und der Streit darüber, ob eine Rechtsmittelbegründung diesen Mindesterfordernissen entspricht, sind vorprogrammiert, und zwar ebenso wie die auf der Hand liegende Lösung, nämlich im Zweifel mit lapidarer Begründung die vollumfängliche Anfechtung zu erklären, um erst zu einem späteren Zeitpunkt ggf. eine Präzisierung vorzunehmen.

Bizarr wird es, wenn diese Regelung nach Auffassung der Entwurfsverfasser im Licht des § 35 a DE zu lesen ist, wonach der erstinstanzlich Verurteilte - der Sozialstaatsabbau lässt grüßen! - auf die Kosten seines Rechtsmittels hinzuweisen ist:

"Wer weiß, dass er bei einer beschränkten, dafür aber erfolgreichen Berufung keine Kosten tragen muss, wird eher versuchen, die Berufung auf den Teil zu beschränken, auf den es ihm ankommt." (S. 27)

Wer, weil ihm die Strafe zu hoch erscheint, sein Rechtsmittel gleich - vermeintlich kostengünstig - beschränkt, ohne zu bedenken oder bedenken zu können, welche schwierigen Teilrechtskraftprobleme er damit möglicherweise ausgelöst hat, wird sich für eine derartige "Fürsorge" bedanken. [24] Unheil durch Paradigmenwechsel lautet das Fazit.

2. Hinsichtlich der Gestaltung der tatgerichtlichen Hauptverhandlung hat der DE zwei Anliegen:

  • Regelung eines konsensualen Verfahrens
  • Abschaffung des Unmittelbarkeits-/Mündlichkeitsprinzips durch weitgehende Etablierung von Beweissurrogaten in der Hauptverhandlung.

a) Die erste Regelung ist handwerklich misslungen und erweist sich - mit zwei Ausnahmen - als ungeeignet, den Verfahrensalltag normativ zu strukturieren und damit dem trotz BGHSt 43, 195 verbreiteten Unbehagen abzuhelfen.

"In geeigneten Fällen kann das Gericht in der Hauptverhandlung den Stand des Verfahrens mit den Beteiligten erörtern." (§ 257 b Abs. 1 DE)

Einen eigenständigen Regelungsgehalt vermag ich diesem § 155 a StPO ähnlichen, nur programmsatzartigen Normwortlaut nicht zu entnehmen. Er passt allerdings zu den strukturähnlichen §§ 160 a, 202 a des Opferrechtsreformgesetzes. Die ihm beigemessene Klarstellungsfunktion (S. 45) mag im Hinblick auf § 24 Abs. 2 StPO hilfreich sein, obwohl es dort ohnehin nur auf das "Wie" der Erörterung ankommen kann, zu dem der DE indes gerade schweigt.

§ 257 b Abs. 2 S. 1 DE ermächtigt den Tatrichter - zu welchem Zeitpunkt? In welcher Form? -, die Erörterung "auf die vorläufige Beurteilung des Verfahrensergebnisses" zu erstrecken. Das erlaubt bereits § 257 b Abs. 1 DE. Eine inhaltliche Konkretisierung erfährt dieser Grundsatz erst in Abs. 2 S. 2 DE:

"Das Gericht kann dabei mit Einverständnis des Angeklagten unter freier Würdigung aller Umstände des Falles sowie der allgemeinen Strafzumessungserwägungen eine Strafobergrenze angeben, die unter dem Vorbehalt einer Bewertungsänderung im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung steht."

Das Problem der "Sanktionenschere", auf das Salditt[25] bereits 2001 eindringlich hingewiesen hatte, wird so nicht gelöst, da gerade kein ausschließliches Initiativrecht des (bestreitenden) Angeklagten etabliert wird. Denkbar wird vielmehr folgendes Szenario: Der Sitzungsvertreter der Staatanwaltschaft verliest den Anklagesatz. Der Verteidiger macht von seinem Erwiderungsrecht gemäß § 243 Abs.3 S. 5 DE Gebrauch. Der Vorsitzende tritt in eine Erörterung des Standes des Verfahrens ein und unterwirft das bisherige Verfahrensergebnis einer - wie er mehrfach betont - vorläufigen Beurteilung, um alsdann den Angeklagten freundlich zu fragen: "Sie sind doch sicher damit einverstanden, dass ich Ihnen unter freier Würdigung aller Umstände Ihres Falles sowie der allgemeinen Strafzumessungserwägungen eine Strafobergrenze angebe, die natürlich unter dem Vorbehalt einer Bewertungsänderung im weiteren Verlauf unserer Hauptverhandlung steht, oder?" Moderner Strafprozess?

Handhabbare Regelungen enthält der DE nur zur Frage der Protokollierungspflicht im Sinne des § 273 Abs. 1 StPO und in § 302 Abs. 1 S. 2 DE, wonach im Fall des § 257 b Abs. 2 DE ein Rechtsmittelverzicht unwirksam ist, der "Gegenstand der Verständigung war". Befremdlich ist es, wenn der DE, der Rechtsprechung und Literatur ohnehin allenfalls selektiv zur Kenntnis nimmt, hierbei erwägt:

"Die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts mit dem Angeklagten vor der Urteilsverkündungist nach allgemeiner Meinung unzulässig." (S. 46)

Da muss offenbar aus Sicht der Verfasser des DE der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs[26] mit seinem (im DE unterschlagenen) Anfragebeschluss einiges völlig missverstanden haben, indem er

  • die Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung zur (Un-) Wirksamkeit einer derartigen unzulässigen Vereinbarung und
  • die Problematik eines verdeckt vereinbarten Rechtsmittelverzichts angesprochen hat.

Ebenso unerörtert bleiben Fragen, die in dem durch den 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs ausgelösten Anfrageverfahren eine Rolle spielen:

  • Rechtsmittelrechtliche Konsequenzen, die der 5. Strafsenat erwogen hat. [27]
  • Praktische Erwägungen, die den 1. und 2. Strafsenat zu ihrer von dem Anfragebeschluss abweichenden Sichtweise motiviert haben. [28]

Viel klüger wären wir am 08.03.2004 nicht, und alle würden vermutlich weitermachen wie zuvor, also entweder sich an den Vorgaben des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs orientieren oder aber die gerichtssprengelspezifischen Gepflogenheiten beherzigen. [29] Also wiederum: Weder Unheil noch Paradigmenwechsel.

b) Anderes gilt für den Versuch des DE, die Hauptverhandlung tendenziell zu einer "Zuschauerveranstaltung" zu machen[30], in der vernehmungsersetzend Urkunden verlesen und Videos angeschaut werden. Allerdings steht der Gesetzesentwurf mit diesem Vorhaben nicht allein:

"Im Mittelpunkt muss (…) heute die Erkenntnis stehen, dass wir uns den Luxus einer duplizierten (und daher überschießenden) Beweisführung - zunächst im Ermittlungsverfahren und dann aufs neue in der Hauptverhandlung - offensichtlich nicht mehr leisten können."

Derartiges wurde nicht an justizpolitischen Stammtischen, sondern von einem veritablen Strafrechtsordinarius auf der Strafrechtslehrertagung 2003 in Bayreuth geäußert[31] . Auf nichts anderes zielt auch der DE mit seinen einschlägigen - von einer Zustimmung des Angeklagten und seines Verteidigers abgekoppelten - Vorschriften der §§ 251 Abs. 1 Nr. 2, 254 Abs. 1, 255 a Abs. 1. Die zentralen Fragen lauten - wie bereits beim Eckpunktepapier - auch hier:

  • Welches sind die tatsächlichen Voraussetzungen dafür, dass davon gesprochen werden kann, ein Verteidiger habe im Sinne des Beweissurrogationsvorschriften des DE "mitgewirkt"?
  • Worin liegt die rechtliche Legimitation dafür, diese gesetzlich nicht näher bezeichnete "Mitwirkung" als Anlass zu nehmen, zustimm-ungsunabhängig eine Beweissurrogation zuzulassen? Eine Beweissurrogation, die nach der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung zu § 255 a StPO[32] das Beweisantragsrecht weitestgehend leer laufen lässt, solange nicht Tatgericht oder Revisionsgericht davon überzeugt werden, der Beweisantrag habe "neue Tatsachen" zum Gegenstand gehabt.

Auf beide Fragen bietet der DE - insbesondere der Normwortlaut, auf den es ankommt - keine vernünftigen Antworten, das schon deshalb, weil seinen Verfassern offenkundig nicht einmal ansatzweise die Frage in den Blick gekommen ist, ob und ggf. welchen Stellenwert etwaige Gesetzesmaterialen überhaupt für die Auslegung strafprozessualer Vorschriften haben können. [33]

Vor allem aber:

"Die Zuverlässigkeit von Beweismitteln (wird) regelmäßig erst bei der Auswertung der im Rahmen der Hauptverhandlung durchgeführten Beweisaufnahme beurteilt. Zuvor ist eine kritische, aber vorurteilsfreie Beweiserhebung gefordert, namentlich unter sachgerechter Anwendung der Regeln der Vernehmungstechnik, die sich (…) weitgehend nicht auf ein gezieltes Abfragen erwarteter Fakten, namentlich aus dem Akteninhalt, zu beschränken hat." [34]

Dieser in der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung aufgestellte Grundsatz soll nicht mehr gelten? Im DE heißt es hierzu:

"Soweit der Verteidiger - bei Vernehmungen durch den Richter oder die Staatsanwaltschaft - tatsächlich mitgewirkt hat, wird dem Gericht die Möglichkeit eröffnet, die Niederschriften zu verlesen. Der Verteidiger hat es bei diesen Vernehmungen durch schlichtes Fernbleiben selbst

in der Hand, ob ein transferierbares Ergebnis zustande kommt." (S. 41/42)

Diese Logik ist verblüffend schlicht: Wer nicht schlicht fernbleibt, hat es nicht mehr in der Hand, ob eine Beweissurrogation in der Hauptverhandlung vorgenommen werden kann. Im Klartext: Der Verteidiger, der z.B. seinen Terminplan umwirft, um für seinen inhaftierten Mandanten bei einer von ihm oder anderen Verfahrensbeteiligten als wesentlich eingeschätzten Vernehmung eines Zeugen anwesend zu sein, obwohl - der DE trifft hierzu keine Regelungen -

  • ihm nicht Akteneinsicht gewährt worden war (vgl. DE, S. 3, 32 f.),
  • er die Akte nicht im Detail hat durcharbeiten können
  • und/oder ihren Inhalt mit seinem Mandanten hat besprechen können,

erklärt nach diesem Konzept konkludent seinen (und seines Mandanten!) insoweitigen Verzicht auf die Geltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes!

Darauf zu hoffen, die revisionsgerichtliche Rechtsprechung werde es schon richten, würde nicht nur von gesetzgeberischem Kleinmut zeugen, sondern vermutlich auch an der insoweit reduzierten Leistungsfähigkeit des Revisionsverfahrens scheitern. Immerhin hat der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (2 StR 315/03 vom 14.01.2004, S. 6) versucht, den Begriff der "Mitwirkung des Verteidigers" zu präzisieren:

"Der Verteidiger kann im Strafprozess (…) nur dann sinnvoll ´mitwirken´ und die Interessen des Angeklagten wirksam wahrnehmen, wenn er den Sachverhalt ausreichend kennt, genügend über die Einlassung des Angeklagten zur Anklage unterrichtet ist und ein klares Bild von den Möglichkeiten gewonnen hat, die für eine sachgemäße Verteidigung bestehen."

Warum wird in diesem Sinne keine Präzisierung im DE vorgenommen?

Ein Problem kommt hinzu: Vernehmungen außerhalb der Hauptverhandlung - und im Übrigen erst recht bei der Kriminalpolizei, bei denen dem Verteidiger nur "Gelegenheit zur Mitwirkung" eingeräumt werden soll - sind weniger detailliert geregelt. Eva Dedy[35] hat gerade für die polizeiliche Vernehmung darauf hingewiesen, welche gravierenden Probleme daraus folgen, dass Frage- und Beanstandungsrechte der Verteidigung ebensowenig normiert sind wie Entscheidungs- und Protokollierungsmodalitäten. Hatte der Bundesgerichtshof[36] doch unlängst Veranlassung die Frage zu erörtern, ob nicht sogar Strafkammervorsitzende mit der Vernehmung von Zeugen überfordert sein könnten.

Anders gewendet: Die Stärkung der Beschuldigtenrechte wird jedenfalls in der Außendarstellung als Ansatz gewählt, um die Hauptverhandlung weiter zu entleeren. Der Abgeordnete Stünker schreibt dann auch in seiner Presseerklärung:

"Der Strafverteidiger soll stärker in das Ermittlungsverfahren eingebunden werden. Er soll vermehrt in Vernehmungen mitwirken und wird dadurch angeregt, sich schon im Ermittlungsverfahren stärker zu engagieren. Ziel ist dabei auch eine Entlastung des weiteren Ermittlungs- als auch des Hauptverfahrens."

Sieht man von den durchaus begrüßenswerten Änderungen im Recht der Pflichtverteidigung (Fortfall der Dreimonatsfrist des § 117 Abs. 4 S. 1 StPO, Beiordnungsmöglichkeiten gemäß § 141 Abs. 3 DE) ab, so lassen sich die weiteren "Einbindungsvorschriften" nicht anders interpretieren: "Gelegenheit zur Mitwirkung" (§§ 147, 161 a ff. DE) soll dem Verteidiger gewährt werden, ohne - trotz der Diskussion, die hierzu das Eckpunktepapier ausgelöst hatte[37] - Fragen der Terminierung, der Akteneinsicht oder der Struktur der Vernehmung im Ermittlungsverfahren zu regeln. Dafür werden die Vorschriften über die Gewährung der Mitwirkungsgelegenheit unter den Vorbehalt unbestimmter Rechtsbegriffe gestellt, die tatsächlichen oder vermeintlichen Ermittlungsnotwendigkeiten Rechnung tragen sollen: "Gefährdung des Untersuchungszwecks" - dieser uns nur allzu bekannte Vorbehalt durchzieht den gesamten DE.

"Bei der Einräumung der `Gelegenheit zur Mitwirkung` handelt es sich um eine Rechtsposition, die einem Anspruch angenähert ist." (S. 18)

Normklarheit und ein für alle Verfahrensbeteiligten nachvollziehbarer Handlungsrahmen im Ermittlungsverfahren wird durch derartige wolkige Begriffe nicht geschaffen, und zwar erst recht nicht, wenn der (polizeilichen) Praxis zugleich - bezogen auf die Beschuldigtenvernehmung - signalisiert wird:

"Das bedeutet jedoch nicht, dass künftig eine Vernehmung nur im Beisein eines Verteidigers erfolgen kann. An den bislang geltenden Grundsätzen der Beschuldigtenvernehmung wird nichts geändert, z.B. wenn ein Beschuldigter nach ordnungsgemäßer Belehrung keinen Wunsch nach einem Verteidiger äußert oder freiwillig aussagt, nachdem er erfahren hat, dass sein Verteidiger verhindert ist, an der Vernehmung teilzunehmen. Insoweit verbleibt es bei der bestehenden Rechtslage." (S. 20)

Was dies bedeutet, wissen wir durch die Kreativität der Revisionsgerichte, jeweils einzelfallbezogen für bestimmte Vernehmungssituationen das Vorliegen von Rechtsverletzungen oder Verwertungsverboten zu verneinen. [38]

Brennglasartig lässt sich die rein verfahrensökonomische Ausrichtung der diesbezüglichen Passagen des DE an der Regelung des § 144 aufzeigen:

"Dem Verteidiger ist an Vernehmungen von Zeugen, die auf seiner Benennung beruhen, Gelegenheit zur Mitwirkung zu geben, es sei denn, dass hierdurch eine dringende, auch durch eine in § 168 e genannte Maßnahme nicht abwendbare Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl des Zeugen zu besorgen ist." (S. 3)

"Zeugen, die auf seiner Benennung beruhen" - ein weites Feld für Dissertationen und Aufsätze in strafjuristischen Fachzeitungen, haben "Kausalität" und "Beruhensfrage" doch schon immer die Diskussionsfreude und die Fantasie der Strafjuristen jeglicher Couleur beflügelt.

Blickt man in die Entwurfsbegründung, so erfährt man:

"Die Vernehmung muss jedoch auf seiner Anregung ´beruhen´. Das bedeutet, dass die Benennung der betreffenden Person durch den Verteidiger kausal für die Vernehmung ist. Es muss sich also um eine für das Ermittlungsverfahren `neue´ Person handeln. Es kommt hier nicht darauf an, wer als erster den Zeugen benennt (Ermittlungsbehörde oder Verteidiger), sondern ausschließlich auf die Kausalität. Mit der Einräumung der Mitwirkungsmöglichkeit soll der Verteidiger dazu veranlasst werden, Entlastungszeugen, die nur dem Verteidiger bekannt sind, bereits frühzeitig im Ermittlungsverfahren zu präsentieren und damit nicht bis zur Hauptverhandlung zu warten." (S. 32)

Der Verteidiger soll - so heißt es an anderer Stelle (S. 21) - hierdurch "´aus der Reserve` gelockt werden".

Und welches Verteidigerbild den Entwurfsverfassern vor Augen stand, wird wenige Zeilen später deutlich:

"Ein Verteidiger wird einen Zeugen nur dann benennen, wenn er weiß, was dieser aussagen wird. Die Konstellation, dass eine solche Vernehmung Erkenntnisse erbringt, die aus ermittlungstaktischen Gründen der Verteidigung nicht bekannt werden sollen, ist in der Praxis nicht vorstellbar. Außerdem soll der Verteidiger dazu angeregt werden, diese ´neuen` Zeugen zu benennen. Das lässt sich jedoch nur erreichen, wenn die Mitwirkungsbefugnis nicht unnötig beschränkt wird." (S. 21)

Im Klartext: Das durch Privilegierung zu bekämpfende Verteidigungsverhalten, das durch die Ideenwelt der Entwurfsverfasser spukt, ist simpel gestrickt:

  • Der Verteidiger allein kennt Entlastungszeugen.
  • Er enthält sie dem Ermittlungsverfahren vor, z.B. auch wenn sein Mandant strafprozessuale Zwangsmaßnahmen erleiden muss.
  • Er präpariert die Zeugen so, dass er ohnehin weiß, was sie automatengleich in der Vernehmung bekunden werden.

Wieder einmal das Zerrbild anwaltlicher Tätigkeit[39], der Rechtsmissbrauch wesenseigen zu sein scheint. Aber nicht nur das: Dass Vernehmungssituationen außerhalb der Hauptverhandlung "unberechenbar" sind und eigene Vorermittlungen eines Verteidigers - so sie denn faktisch überhaupt möglich sind - aus Sicht manchen Tatrichters mehr als problematisch sind, gerät völlig aus dem Blick. [40]

Aber die Regelung hat auch einen Inhalt, den sich die Verfasser nicht getraut haben, in ihren Wortlaut hineinzuschreiben:

"Dabei erhält nur der Verteidiger, der den `neuen` Zeugen präsentiert hat, `Gelegenheit zur Mitwirkung` an der Vernehmung. Die Verteidiger von eventuellen Mitbeschuldigten in dem selben Verfahren oder weitere Verteidiger des Beschuldigten, die diesen Zeugen nicht benannt haben, erhalten hier keine Mitwirkungsbefugnis." (S. 32)

Abgesehen davon, dass der DE

  • den Mitbeschuldigtenbegriff nicht definiert,[41]
  • möglicherweise eine gesplittete Beweisaufnahme bei mehreren Beschuldigten im Hinblick auf § 251 Abs. 1 Nr. 2 DE vorprogrammiert,

ist eine derartige Differenzierung - sogar innerhalb der Verteidigung eines Beschuldigten! - verfahrensrechtlich nicht begründbar, es sei denn, man hofft - angeregt durch Kronzeugenregelungen - auf eine entsprechend korruptive Wirkung derartiger - einem Ablasshandel ähnlichen - Vorschriften.

§ 144 DE macht auch eines deutlich: Dem DE liegt letztlich die Hypothese zugrunde, es gäbe "den" Strafprozess. "Das Verfahren wegen Falschparkens, der landläufige Diebstahlsfall, die Wirtschaftsstrafsache, das Verfahren wegen des Vorwurfs einer Sexualstraftat oder eines Tötungsdelikts (und ergänzend: eine Betäubungsmittelsache und ein Staatsschutzverfahren) haben in ihrem Erscheinungsbild nur wenig gemein."

Diesem Hinweis Jungs[42] ist aus Verteidigersicht wenig hinzuzufügen. Bloß: Wo trägt der DE mit seinem unterschwelligen Bild der allseits kooperations- und konsenswilligen und -fähigen Strafverfolgungsbehörden dieser Ausdifferenzierung Rechnung?

Um den Kreis zu schließen, abschließend noch einmal ein Blick auf das Revisionsrecht: Dazu ist ein Exkurs in das Opferrechtsreformgesetz notwendig. Sein Entwurf sieht - und wieder könnte der Eindruck entstehen, Verteidigerforderungen seien aufgegriffen worden - in § 273 Abs. 2 fakultativ ein Tonbandprotokoll für amtsgerichtliche Hauptverhandlungen vor. Dass "für das Verfahren vor dem Land- und Oberlandesgericht von einer gesetzlichen Regelungen für Tonbandaufnahmen abgesehen" wird, begründet der Entwurf mit der Befürchtung, "dass der Einsatz moderner Kommunikationstechnologien in erstinstanzlichen Verhandlungen vor dem Land- und Oberlandesgericht im Revisionsverfahren zu einer Zunahme von Verfahrensrügen nach § 261 StPO führen würde". Der Entwurf weist in zutreffender Auswertung der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung darauf hin, dass sich diese "Gefahr" daraus herleiten könnte, dass ein Verstoß gegen § 261 StPO - z.B. im Fall des Urkundenbeweises - im Wege der verfahrensrechtlich verlängerten Darstellungsrüge geltend gemacht werden könnte, wenn ohne Rekonstruktion der Hauptverhandlung dem Revisionsgericht die diesbezügliche Überprüfung möglich wäre. [43] Immerhin - auch wenn dies nicht eben tröstlich ist: Einen Weg, dann, wenn als Beweissurrogate des DE ausschließlich Urkunden in die Beweisaufnahme eingeführt worden sind, entsprechende Rügen gemäß § 261 StPO abzuschneiden, haben die Entwurfsverfasser (bisher noch) nicht gefunden.[44] Und was folgt hieraus für § 255 a StPO / DE?[45]

IV.

Der Rückblick am Abend des 08.03.2004 wird die Frage "Unheil oder Paradigmenwechsel?" eindeutig beantworten: Unheil durch zudem handwerklich missglückten Paradigmenwechsel.


1 Vorgelegt von den Bundestagsfraktionen der SPD sowie der Bündnisgrünen und dem Bundesministerium der Justiz (Stand: 18.02.2004); vgl. erstmals dazu: FR vom 14.02.2004, S. 1. Der Entwurf ist verfügbar unter http://www.stpo-reform.de/entwurf.php

2 Der Text lag meinen Beiträgen in der Arbeitsgruppe 7 des 28. Strafverteidigertages in Karlsruhe vom 06.03.2004 zugrunde. Herrn Referendar Dr. Gerwin Moldenhauer danke ich für die ebenso intensive wie instruktive Diskussion des DE.

3 StV 2001, 416.

4 In: Justizreform 2000 - Kurzer Prozess mit neuen Mitteln, 2002, S. 9 ff..

5 z.B. Dedy, Ansätze einer Reform des Ermittlungsverfahrens, 2002, S. 65 ff..

6 FR a.a.O..

7 StV 2001, 314.

8 Bundestagsprotokoll 15. Wahlperiode, S. 4693 C.

9 Jeweils zitiert nach den Homepages der Fraktionen: MdB Stünker anlässlich der ersten Lesung der Bundestags-Drucksache 15/814 am 08.05.2003; MdB Montag am 27.06.2003 anlässlich der Beratung über das Justizmodernisierungsgesetz; MdB Röttgen am 13.11.2003 anlässlich der Debatte über das Opferrechtsreformgesetz; vgl. auch MdB Stünker Bundestagsprotokoll 15. Wahlperiode, S. 8406 C

10 Vgl. nur Roxin, in: Festschrift für Hanack, 1999, S. 1/8 ff.

11 Vgl. zuletzt Gatzweiler, in: Kohlmann u.a.(Hg): Entwicklungen und Probleme des Strafrechts, 2004, S. 59/64 ff..

12 Z.B. Freund GA 2002, 82/86; Salditt, StV 2002, 273 ff; Krauß in: Festschrift für Lüderssen, 2002, S. 269 ff..; Dedy a.a.O., S. 119 f.; Stünker a.a.O. S. 8405 C

13 MdB van Essen am 13.11.2003 anlässlich der Lesung des Opferrechtsreformgesetzes.

14 MdB Raab aus demselben Anlass.

15 Das Konsensprinzip im Strafverfahren, 2002, S. 13 ff..

16 Die vergessene Freiheit, 2003, S. 130.

17 Ebd; vgl. auch Salditt StV 2001, 311 ff.; ZStW 2003, 570 ff.; anders nuanciert wohl Prittwitz, in: Festschrift für Bemmann, 1997, S. 596 ff..

18 Die Urteilsabsetzungs- und die Revisionsbegründungsfrist im deutschen Strafprozess, 1998, S. 121 ff..

19 Vgl. nur Ventzke StV 1997, 226 ff..

20 Vgl. Ventzke NStZ 2003, 104 f..

21 Vgl. Nack, in: Festschrift für Rieß, 2002, S. 361 ff..

22 Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 344, Rn. 19

23 Bundesrats-Drucksache 397/03 (B), S. 53 ff.

24 Verkannt von Freund a.a.O. S. 93, 97.

25 Salditt StV 2001, 311/313; DE, S. 46.

26 StV 2003, 544 ff; dazu z.B. Meyer, StV 2004, 41 ff..

27 StV 2004, 4 f..

28 NStZ 2004, 164 ff.; dazu: Salditt, StraFo 2004, 60 f.; BGH, 2 ARs 330/03 vom 28.01.2004, S. 4 ff..

29 Vgl. nur Meyer-Goßner und Weider, StraFo 2003, 401 ff., 406 ff.. sowie Moldenhauer, Eine Verfahrensordnung für Absprachen pp., 2004.

30 So: MdB Montag am 11.09.2003 a.a.O. zu Vorschlägen der Opposition.

31 Duttge ZStW 2003, 539/565

32 BGH StV 2003, 650 ff. m.Anm. Schlothauer.

33 Vgl. nur Loos, in: AK, StPO, Einleitung III., Rn. 5 ff..

34 BGH StV 1997, 567/568.

35 a.a.O. S. 140 ff..

36 NStZ 2004, 163.

37 Salditt StV 2001, 359/361 ff.; Freund a.a.O. S. 90 ff.; Von Galen/Wattenberg ZRP 2001, 445 ff.; Ignor/Matt StV 2002, 102/105 ff.; Beulke, in: Festschrift für Rieß 2002, S. 3/18 ff.; König und Schünemann, in: Sicherheit durch Strafe, 2003, S. 257 ff., 267 ff..

38 Zuletzt: BGH, 1 StR 380/03 vom 18.12.2003, S. 2 ff..

39 Vgl. auch Meyer-Goßner, in: Festschrift für den BGH, 2002, S. 615 ff. m.w.N..

40 Vgl. Dedy a.a.O. S. 203.

41 Vgl. Dedy a.a.O. S. 120 f..

42 GA 2002, 65/79 f..

43 Bundestags-Drucksache 15/1976, S. 12/13;

44 dazu eindringlich Widmaier, in: Lagodny (Hg): Der Strafprozess vor neuen Herausforderungen?, 2002, S. 183 ff..

45 Vgl. BT-Drucksache a.a.O. S. 13; Diemer, NStZ 2002, 16 ff; Schlothauer a.a.O. S. 655 f.