HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2004
5. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

359. BGH 2 StR 462/03 - Beschluss vom 18. Februar 2004 (LG Köln)

Gesetzlicher Richter und revisionsrechtliches Rekonstruktionsverbot (keine Umgehung durch Befangenheitsantrag hinsichtlich einer falschen Wiedergabe von Zeugenaussagen); Verwerfung einer Richterablehnung als unzulässig (völlig ungeeignete Begründung; Unzulässigkeit); Verfahrensrüge (Begründungspflicht); sexueller Missbrauch Widerstandsunfähiger (Ausnutzung der Krankheit oder Hilfsbedürftigkeit; Täuschung über medizinische Indikation).

Art. 101 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 24 StPO; § 26a StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 174a Abs. 2 StGB

1. Der Grundsatz des § 261 StPO verbietet ausnahmslos, dass Aufzeichnungen, die ein Prozessbeteiligter über die Vernehmung eines Zeugen in der Hauptverhandlung gemacht hat, zur Widerlegung der tatrichterlichen Feststellungen im Revisionsverfahren herangezogen werden. Diese verfahrensrechtliche Situation kann nicht dadurch umgangen werden, dass der Angeklagte in der laufenden Hauptverhandlung auf seine abweichende Wiedergabe und Würdigung von Zeugenaussagen einen Befangenheitsantrag stützt.

2. Ein Befangenheitsantrag, der sich auf eine bestimmte vorläufige Beweiswürdigung durch das Gericht während der Hauptverhandlung stützt, ist mangels Begründung unzulässig (§ 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO). Eine solche Begründung ist aus zwingenden rechtlichen Gründen zur Rechtfertigung eines Ablehnungsgesuchs völlig ungeeignet. Eine derart ungeeignete Begründung ist ihrem völligen Fehlen gleichzustellen.

3. Der Tatbestand des § 174 a Abs. 2 StGB kann auch dann erfüllt sein, wenn das Opfer der sexuellen Handlungen sich ihnen in dem Glauben, sie seien medizinisch indiziert, freiwillig unterwirft. Denn die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers wird auch dann verletzt und die Krankheit oder Hilfsbedürftigkeit ausgenutzt, wenn ihm die Notwendigkeit einer Maßnahme aus Anlass der Krankheit oder Hilfsbedürftigkeit nur vorgespiegelt wird. Das Opfer duldet eine solche "ärztliche Handlung" nämlich nur, weil es sich dadurch Hilfe erhofft (obiter dictum).


Entscheidung

410. BGH 1 StR 1/04 - Beschluss vom 30. März 2004 (LG Coburg)

Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts (Willensbeeinträchtigung im Zusammenhang mit Verfahrensabsprachen durch das Gericht oder den Verteidiger: heilende Belehrung; Übereinkunft von Staatsanwaltschaft und Verteidigung; Überprüfung der Sprachfähigkeiten des Angeklagten und Hinzuziehung eines Dolmetschers).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK; § 185 StGB; § 302 Abs. 1 Satz 1 StPO

1. Fehlende Sprachkenntnisse eines Angeklagten können die Wirksamkeit eines von ihm abgegebenen Rechtsmittelverzichts in Frage stellen.

2. Ob der Angeklagte genügend Kenntnisse der deutschen Sprache hat, entscheidet der Tatrichter nach pflichtgemäßem Ermessen. Wird gerügt, dass kein Dolmetscher zugezogen wurde, prüft das Revisionsgericht, ob die Grenzen des Ermessens eingehalten wurden. Dies gilt auch, wenn es um die Wirksamkeit eines vom Tatrichter zu Protokoll genommenen mündlichen Rechtsmittelverzichts geht.

3. Jedenfalls dann, wenn der Angeklagte mehrfach über die Möglichkeit eines Rechtsmittels belehrt und er sogar ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass ein Rechtsmittelverzicht der Verteidiger ihn selbst nicht binden würde, ist für die Annahme eines im Hinblick auf vorangegangenes Verfahrensgeschehen (mögliche verfahrensbeendende Absprache; Verzichtserklärung des

Verteidigers) rechtserheblichen Willensmangels des Angeklagten bei der Abgabe des Rechtsmittelverzichts kein Raum.


Entscheidung

418. BGH 1 StR 443/03 - Urteil vom 16. März 2004 (LG Memmingen)

Beweiswürdigung (Grenzen der Revisibilität: keine Berücksichtigung späterer Ermittlungsergebnisse in der Revision; keine Gewissheit als Überzeugungserfordernis: Lebenserfahrung als ausreichendes Maß an Sicherheit bzw. mögliche, nicht zwingende Schlüsse).

§ 352 StPO; § 261 StPO

1. Von den Ermittlungsbehörden nach Abschluss des tatrichterlichen Verfahrens gewonnene neue Erkenntnisse können im Revisionsverfahren keine Berücksichtigung mehr finden.

2. Rechtlich zu beanstanden sind Beweiserwägungen dann, wenn sie erkennen lassen, dass das Gericht überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung gestellt und dabei nicht beachtet hat, dass eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende und von niemandem anzweifelbare Gewissheit nicht erforderlich ist, vielmehr ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit genügt, das vernünftige und nicht bloß auf theoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zulässt.


Entscheidung

375. BGH 3 StR 446/03 - Beschluss vom 9. März 2004 (LG Düsseldorf)

Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (Aufhebung und Zurückverweisung der Sache; Ausgleich durch Verminderung der verwirkten Einzelstrafen; Verfahrenshindernis).

Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 46 Abs. 2 StGB; § 354a StPO

1. Eine Verfahrensverlängerung, die dadurch entstanden ist, dass das Urteil im Rechtsmittelzug teilweise aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden muss, begründet für sich genommen regelmäßig keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung.

2. Die Entscheidung des Revisionsgerichts, dass bis zum tatrichterlichen Urteil kein Verfahrenshindernis infolge rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung entstanden sei, ergeht regelmäßig in Rechtskraft für das gesamte weitere Verfahren, und dies grundsätzlich auch ungeachtet späterer weiterer Verzögerungen.


Entscheidung

451. BGH 5 StR 250/03 - 4. Dezember 2003 (LG Hamburg)

Lückenhafte und widersprüchliche Beweiswürdigung bei einer Verurteilung wegen Anstiftung zum Mord (Auftragsmord; alternative Auftraggeber); Anwesenheitsrecht (Ausschluss bei einer Gefährdung der Wahrheitsfindung: drohende Ausübung eines Auskunftsverweigerungsrechts).

Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK; § 211 StGB; § 26 StGB; § 261 StPO; § 55 StPO; § 338 Nr. StPO; § 247 StPO

Kündigt ein Zeuge an, von einem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch zu machen, sofern der Angeklagte bei seiner Vernehmung anwesend sein wird, darf das Gericht den Angeklagten während der Vernehmung im Interesse der Wahrheitsfindung gemäß § 247 Satz 1 StPO aus dem Sitzungszimmer entfernen.


Entscheidung

381. BGH 2 StR 6/04 - Beschluss vom 19. März 2004 (LG Aachen)

Beweiswürdigung nach dem Inbegriff der Hauptverhandlung (Geständnis des Angeklagten; richterliches Protokoll: Unterschrift und Genehmigung des Angeklagten; Urkundenbeweis).

§ 261 StPO; § 254 Abs. 1 StPO; § 168a StPO

Erklärungen des Angeklagten in einem Protokoll können auch dann gem. § 254 Abs. 1 StPO im Wege der Verlesung zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht werden, wenn die gem. § 168a Abs. 3 StPO notwendige Genehmigung und Unterschrift durch den als Beschuldigten vernommenen Angeklagten nicht erfolgt sind. Das Protokoll bleibt auch in diesem Fall ein richterlichen Protokolls nach § 168a StPO.


Entscheidung

357. BGH 2 StR 496/03 - Beschluss vom 27. Februar 2004 (LG Bonn)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; Verwerfung der Revision als unbegründet; Zurückweisung einer Richterablehnung (Unzulässigkeit; Unbegründetheit; Anwendung von Beschwerdegrundsätzen).

§ 349 Abs. 2 StPO; § 44 StPO; § 25 Abs. 1 StPO

Es ist rechtlich zu missbilligen, wenn ein offensichtlich unbegründetes Ablehnungsgesuch des Angeklagten als unzulässig zurückgewiesen wird, denn die offensichtliche Unbegründetheit des Ablehnungsantrags ist mit seiner Unzulässigkeit nicht gleichzusetzen.


Entscheidung

399. BGH 3 StR 81/04 - Beschluss vom 18. März 2004 (LG Oldenburg)

Grenzen der Teilrechtskraft und der Bindungswirkung bei Teilaufhebung im Rechtsfolgenausspruch.

§ 353 StPO; § 21 StGB

Die Auffassung, dass bei der Teilaufhebung eines Urteils im Rechtsfolgenausspruch die zu § 21 StGB getroffenen Feststellungen rechtskräftig feststehen, trifft nicht zu (vgl. BGHR StPO § 353 Abs. 2 Teilrechtskraft 18).


Entscheidung

355. BGH 2 StR 378/03 - Beschluss vom 3. März 2004

Pauschvergütung (Zuständigkeit für die Bewilligung hinsichtlich der Revisionshauptverhandlung und der Revisionsbegründungsschrift).

§ 99 BRAGO

Für die Bewilligung einer Pauschvergütung ist der BGH nur insoweit zuständig, als es um die Revisionshauptverhandlung geht (§ 99 Abs. 2 Satz 2 BRAGO); für die Bewilligung einer Pauschvergütung für die Anfertigung der Revisionsbegründungsschrift ist hingegen das OLG zuständig (§ 99 Abs. 2 Satz 1 BRAGO).