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HRR-Strafrecht
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
November 2002
3. Jahrgang
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1. Der Senat beabsichtigt zu entscheiden: Die audiovisuelle Vernehmung von Vertrauenspersonen der Polizei oder Verdeckten Ermittlern gemäß § 247a StPO kann mit einer die Identifizierung des Vernommenen verhindernden technischen Veränderung der Bild- und Tonübertragung stattfinden, wenn der Vernehmung sonst eine Sperrerklärung der zuständigen Stelle entgegenstünde.
2. Der Umstand, dass ein Beschwerdeführer sein Einverständnis zu einer Einschränkung der audiovisuellen Vernehmung erklärt hatte, um sein Fragerecht (vgl. Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK) so gut wie möglich ausüben zu können, hindert ihn nicht daran, mit der Revision geltend zu machen, dass er bei "richtiger" Durchführung des Verfahrens nach § 247a StPO bessere Verteidigungsmöglichkeiten gehabt hätte.
3. Die Verfassung fordert das bestmögliche und sachnähere Beweismittel (vgl. BVerfGE 57, 250, 285).
4. Gegenüber der vollen Individualisierbarkeit und Erkennbarkeit des in der Hauptverhandlung zu hörenden Zeugen hat der Gesetzgeber mit § 68 Abs. 3 StPO und § 247a StPO der im Interesse einer wirksamen Bekämpfung moderner Kriminalitätsformen erforderliche Zeugenschutz Vorrang erhalten.
5. Heute geht es bei der Glaubwürdigkeitsprüfung mehr um die Analyse des Aussageinhalts, d.h. um eine methodische Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben einem tatsächlichen Erleben des Zeugen entsprechen (vgl. z.B. BGHSt 45, 164), weniger um den "Leumund" des Zeugen.
6. Die neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat der Verwertung des Wissens anonym gehaltener Zeugen durch Beweissurrogate erhebliche Grenzen gesetzt. Die Auslegung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (MRK) durch den EGMR ist bei der Anwendung des deutschen Strafprozessrechts zu berücksichtigen (BGHSt 45, 321, 328 f.; 46, 93, 97).
1. Die Zuständigkeitskonzentration nach § 162 Abs. 1 Satz 2 StPO setzt nicht voraus, dass die Anträge für mindestens zwei richterliche Untersuchungshandlungen gleichzeitig gestellt werden. (BGHSt)
2. Lediglich beabsichtigte, aber noch nicht konkret gestellte Anträge reichen nicht aus, eine Zuständigkeitskonzentration gemäß § 162 Abs. 1 Satz 2 StPO zu begründen. (Bearbeiter)
1. Zur Frage der Befangenheit bei Fehlern im Zusammenhang mit der Anordnung und Durchführung der Begutachtung der Schuldfähigkeit. (BGHSt)
2. Verfahrensverstöße eines Richters, die auf einem Irrtum oder auf einer unrichtigen oder sogar unhaltbaren Rechtsansicht beruhen, stellen grundsätzlich keinen Ablehnungsgrund dar, da sachliche und rechtliche Fehler allein nicht geeignet sind, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen. Allerdings gilt dies nicht, wenn Entscheidungen abwegig sind oder sogar den Anschein der Willkür erwecken. Zudem kann sich die Befangenheit daraus ergeben, dass das Verhalten des Richters vor der Hauptverhandlung befürchten lässt, er werde nicht mehr unvoreingenommen an die Sache herangehen, indem er etwa deutlich zum Ausdruck bringt, er sei bereits endgültig von der Schuld des Angeklagten überzeugt. (Bearbeiter)
3. Zur Verhältnismäßigkeit bei der vorbereitenden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Erstellung eines Gutachtens über eine Persönlichkeitsstörung. (BGHSt)
4. Die Unterbringung zur Beobachtung in einem öffentlichen psychiatrischen Krankenhaus nach § 81 StPO darf nur angeordnet werden, wenn sie unerlässlich ist und alle anderen, insbesondere ambulanten Mittel ausgeschöpft sind, um zu einer Beurteilung der Schuldfähigkeit des Beschuldigten zu kommen. Dies folgt aus dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. BVerfG StV 1995, 617). Die Anforderungen an die Darlegungen zur Unerlässlichkeit sind dabei höher, wenn bereits eine Exploration durchgeführt worden ist. (Bearbeiter)
5. Die Zusammenlegung eines Angeklagten mit anderen Mitgefangenen zur Erlangung von Äußerungen durch den sich der Exploration berechtigt verweigernden Angeklagten stellt eine Umgehung des verfassungsrechtlich garantierten Schweigerechts des Angeklagten und einen Verstoß gegen § 136a StPO dar. Verfassungsrechtlich steht einer solchen Totalbeobachtung das Persönlichkeitsrecht des Angeklagten entgegen. (Bearbeiter)
Hat ein Anbieter von Telekommunikationsdiensten an einem anderen bekannten Ort als am Verwaltungssitz der Gesellschaft eine Abteilung errichtet, welche den Abruf von Telekommunikationsdaten technisch umsetzt, so folgt daraus gemäß § 162 Abs. 1 StPO, dass nicht das Amtsgericht am Verwaltungssitz für die Anordnung der Übermittlung von Verbindungsdaten zuständig ist, sondern dasjenige Amtsgericht, in dessen Bezirk die Auskünfte zu erteilen sind.
1. Voraussetzung für die grundsätzlich zulässige Erwägung, dass im Hinblick auf mögliche psychische Verdrängungsmechanismen Lücken der Erinnerung der Glaubhaftigkeit einer Aussage nicht entgegenstehen müssen, wäre jedenfalls, dass sich gerade in der Aussage dieser Zeugin tragfähige Anhaltspunkte für das Vorliegen solcher Verdrängungen fanden. Dies kann aber nicht schon daraus geschlossen werden, dass die Zeugin sich widersprechende detaillierte Angaben gemacht hat.
2. Widersprüche oder Unklarheiten des Beweisergebnisses können nicht mit kursorischen Hinweisen auf vom Sachverständigen bekundete allgemeine psychologische Grunderkenntnisse beiseite geschoben werden, welche ebensogut für ein anderes Ergebnis zitiert werden könnten. So ist namentlich ein allgemeiner Hinweis auf das - außerordentlich vielgestaltige und in der Fachliteratur intensiv diskutierte - Phänomen der "Verdrängung" in der Regel nicht geeignet, bestimmte Beweisergebnisse zu tragen. Die Zitierung eher alltagspsychologischer Erkenntnisse bedarf, wenn sie nicht die Gefahr praktisch beliebiger Ergebnisse nach sich ziehen soll, einer sorgfältigen Überprüfung im Einzelfall.
Die Beweiswürdigung ist dem Tatrichter vorbehalten (§ 261 StPO). Spricht das Gericht einen Angeklagten frei, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies vom Revisionsgericht grundsätzlich hinzunehmen (BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16). Steht dabei Aussage gegen Aussage und hängt die Entscheidung im wesentlichen davon ab, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1, 14, 15, 23).
Der Spezialitätsgrundsatz erfordert die Prüfung, ob ein Strafverfahren gegen einen von einem anderen Staat ausgelieferten Angeklagten von der Auslieferungsbewilligung gedeckt ist, nicht jedoch, ob die Erteilung der Bewilligung gegen das Recht des ausliefernden Staates verstieß. Eine etwaige Verletzung des Auslieferungsrechts durch ausländische Behörden kann grundsätzlich kein Verfahrenshindernis für ein deutsches Gericht begründen.
In der Regel ist die Einholung eines jugendpsychiatrischen Glaubhaftigkeitsgutachtens (vgl. dazu BGHSt 45, 164, 167) zwar nicht erforderlich; denn die Beurteilung der Zeugentüchtigkeit nicht nur von Erwachsenen, sondern auch von kindlichen und jugendlichen Zeugen sowie der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben ist Sache des Tatrichters. Die Hinzuziehung eines Sachverständigen ist aber dann geboten, wenn Besonderheiten vorliegen, die Zweifel an der Sachkunde des Gerichts hinsichtlich der Beurteilung der Aussagetüchtigkeit des Zeugen und der Glaubhaftigkeit seiner Aussage aufkommen lassen können (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Glaubwürdigkeitsgutachten 2, Sachkunde 6; § 244 Abs. 2 Glaubwürdigkeitsgutachten 1).