HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2025
26. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

390. BVerfG 2 BvR 64/25 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 20. März 2025 (BGH / LG Köln)

Erfolgloser Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den weiteren Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe (Recht auf ein faires Verfahren; Mindestanforderungen an die Wahrheitserforschung; Beweisantrag auf Vernehmung eines aussagebereiten Auslandszeugen; Folgenabwägung zum Nachteil des Verurteilten).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO; § 211 StGB

1. Eine Schwurgerichtskammer verletzt möglicherweise die sich aus dem Recht auf ein faires Verfahren ergebenden Mindestanforderungen an die Wahrheitserforschung, wenn sie einen Beweisantrag auf Vernehmung eines im Ausland befindlichen, aber für eine audiovisuelle Vernehmung zur Verfügung stehenden und aussagebereiten Entlastungszeugen ablehnt.

2. Eine Aussetzung des weiteren Vollzuges der in dem Verfahren verhängten lebenslangen Freiheitsstrafe im Wege einer einstweiligen Anordnung kommt gleichwohl nicht in Betracht, wenn der Beschwerdeführer auch im Falle einer Aufhebung der Verurteilung der ihm zur Last gelegten Anstiftung zum Mord weiterhin dringend verdächtig bleibt und sich die Gefahr aufdrängt, dass er sich dem Verfahren entziehen würde.


Entscheidung

391. BVerfG 2 BvR 442/23 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 18. März 2025 (OLG Frankfurt am Main)

Klageerzwingungsverfahren (Zulässigkeit eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung; Garantie effektiven Rechtsschutzes; Verletzung bei Forderung eines förmlichen Ablehnungsbescheides entgegen der Weigerung der Generalstaatsanwaltschaft und nach Entscheidung nur im Wege der Dienstaufsicht).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 171 Satz 1 StPO; § 172 Abs. 2 StPO; § 23 EGGVG; § 27 EGGVG

1. Die Zurückweisung eines Klageerzwingungsantrags als unzulässig ist mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbar, wenn das Oberlandesgericht sie darauf stützt, dass die Generalstaatsanwaltschaft über die Beschwerde des Anzeigenerstatters nicht durch förmlichen Bescheid, sondern lediglich im Wege der Dienstaufsicht entschieden habe. Dies gilt umso mehr, wenn das Gericht zugleich die Auffassung vertritt, eine förmliche Bescheidung seiner Beschwerde könne der Anzeigenerstatter nicht mit einem Untätigkeitsantrag nach § 23 EGGVG erreichen.

2. Die Rechtsschutzgarantie wirkt über das gerichtliche Verfahren hinaus auch in ein vorgelagertes behördliches Verfahren hinein, wenn eine solche Vorwirkung für die Inanspruchnahme effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes erforderlich ist.

3. Mit der Rechtsschutzgarantie ist es nicht vereinbar, die Zulässigkeit eines Klageerzwingungsantrags von der gerichtlich nicht durchsetzbaren Sachbehandlung durch die Strafverfolgungsbehörden abhängig zu machen.


Entscheidung

392. BVerfG 2 BvR 444/21, 2 BvR 533/23 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 14. Februar 2025 (OLG Frankfurt am Main)

Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre in einem „Altfall“ (Freiheitsgrundrecht; schutzwürdiges Vertrauen; Verhältnismäßigkeit; Voraussetzungen der gesetzlichen Übergangsvorschrift; hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten; Begriff der psychischen Störung; eigenständige gerichtliche Prüfung auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens; Erfordernis der wissenschaftlichen Einordnung festgestellter Persönlichkeitsauffälligkeiten; Begründungstiefe von Fortdauerentscheidungen; Art und Grad der Wahrscheinlichkeit künftig zu erwartender Delikte); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Rechtsschutzbedürfnis; Feststellungsinteresse nach prozessualer Überholung einer Fortdauerentscheidung; tiefgreifender Grundrechtseingriff).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EMRK; § 66 StGB; § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB; Art. 316f Abs. 2 EGStGB; § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG

1. Die Anordnung der Fortdauer einer seit (weit) über zehn Jahren vollzogenen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in einem „Altfall“ genügt nicht den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen in Bezug auf die Annahme einer psychischen Störung, wenn die zuletzt beauftragten Sachverständigen eine solche überwiegend verneint haben und das Gericht lediglich eine Reihe in jüngerer Zeit noch festgestellter Persönlichkeitsauffälligkeiten des Untergebrachten benennt, ohne diese wissenschaftlich einzuordnen und ohne darzulegen, inwieweit diese insgesamt die Kriterien einer Persönlichkeitsstörung erfüllen.

2. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326HRRS 2011 Nr. 488) beeinträchtigt die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen, wenn dieser die Anlasstaten vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) begangen hat (sog. Altfälle).

3. Die Fortdauer der Unterbringung ist in diesen Fällen nur verhältnismäßig, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und wenn bei ihm eine psychische Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes (ThUG) und Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK besteht. Dem trägt die Übergangsregelung des Art. 316f Abs. 2 EGStGB Rechnung.

4. Bei dem Begriff der psychischen Störung im Sinne des Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der mit den überkommenen Kategorisierungen der Psychiatrie nicht deckungsgleich ist und der weder eine Einschränkung der Schuldfähigkeit nach den §§ 20, 21 StGB noch einen subjektiven Leidensdruck des Betroffenen voraussetzt. Erfasst sind vielmehr auch spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz oder der Impuls- und Triebkontrolle, wie insbesondere eine dissoziale Persönlichkeitsstörung. Ob die Merkmale einer psychischen Störung im Einzelfall erfüllt sind, haben die Gerichte – regelmäßig auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens – eigenständig zu prüfen.

5. Bei langandauernden Unterbringungen erhöhen sich aufgrund des zunehmenden Gewichts des Freiheitsanspruchs die Anforderungen an die Begründung einer Fortdauerentscheidung und die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. Die Gerichte müssen Art und Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten des Untergebrachten darlegen und dabei auf die Besonderheiten des Einzelfalles eingehen. Soweit sie von den Feststellungen des zuletzt beauftragten Sachverständigen abweichen, haben sie dies sorgfältig zu begründen.

6. Das Rechtsschutzbedürfnis für die verfassungsgerichtliche Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch dann fort, wenn die angegriffene Entscheidung prozessual überholt ist, weil zwischenzeitlich eine erneute Fortdauerentscheidung ergangen oder Unterbringung für erledigt erklärt worden ist.


Entscheidung

393. BVerfG 2 BvR 1569/23 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 20. Februar 2025 (OLG Koblenz)


Klageerzwingungsverfahren (erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Nichteinleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Polizeibeamte wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt; Recht auf effektiven Rechtsschutz; Darlegungsanforderungen an einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung; Wiedergabe der wesentlichen Erwägungen der Einstellungsentscheidung).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 340 StGB

1. Ein Oberlandesgericht überspannt die Darlegungsanforderungen an einen Klageerzwingungsantrag nicht, wenn es beanstandet, dass der Anzeigenerstatter, der eine Strafverfolgung von Polizeibeamten wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt erstrebt, für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit des Polizeieinsatzes wesentliche Umstände nicht benannt und insbesondere nicht mitgeteilt hat, dass er vor dem gegen ihn gerichteten Reizgaseinsatz alkoholisiert einen Rettungseinsatz behindert und einen Platzverweis ignoriert hatte und dass gegen ihn deshalb ein Strafverfahren wegen Beleidigung, Bedrohung und Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte eingeleitet worden war.

2. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO so auszulegen, dass der Klageerzwingungsantrag den Gang des Ermittlungsverfahrens, den Inhalt der angegriffenen Bescheide und die Gründe für ihre Unrichtigkeit in groben Zügen wiedergeben und eine aus sich selbst heraus verständliche Schilderung des Sachverhalts enthalten muss, der bei Unterstellung des hinreichenden Tatverdachts die Erhebung der öffentlichen Klage rechtfertigt.