HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2021
22. Jahrgang
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V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

984. BGH 1 StR 519/20 – Urteil vom 28. Juli 2021 (LG Bonn)

BGHSt; besonders schwere Steuerhinterziehung (Strafbarkeit von beantragten Steuererstattungen auf Grundlage von Cum/Ex-Transaktionen; Beihilfe zur Steuerhinterziehung: Tateinheit bei Förderung mehrerer Steuerhinterziehungen durch eine Handlung); Einziehung (Dritteinziehung: Handeln „für“ den Dritten; keine Sperre einer Einziehung gegen eine juristische Person durch gleichzeitiges Ordnungswidrigkeitsverfahren; rückwirkende Anwendbarkeit von § 73e Abs. 1 Satz 2 StGB: Begriff der Entscheidung, kein Verstoß gegen Rückwirkungsverbot; Anordnung der gesamtschuldnerischen Haftung)

§ 370 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO; § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG; § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG [VZ 2007 – 2011]; § 27 Abs. 1 StGB § 73 StGB, § 73b StGB, § 30 Abs. 5 OWiG; § 73e StGB; Art. 316j Nr. 1 EStGB; § 421 BGB

1. Die Geltendmachung tatsächlich nicht einbehaltener Kapitalertragsteuer zur Steuer-anrechnung bzw. Steuererstattung gegenüber den Finanzbehörden auf der Grundlage von Cum-Ex-Leerverkaufsgeschäften stellt eine unrichtige Angabe über steuerlich erhebliche Tatsachen im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO dar; sie führt im Fall ihrer positiven Bescheidung zu ungerechtfertigten Steuervorteilen im Sinne des § 370 Abs. 4 Satz 2 AO. (BGHSt)

2. § 73e Abs. 1 Satz 2 StGB in der Fassung durch das Jahressteuergesetz 2020 vom 21. Dezember 2020 ermög-

licht in Verbindung mit Art. 316j Nr. 1 EGStGB die Einziehung von Taterträgen trotz eingetretener Zahlungsverjährung aus steuerlichen Gründen. (BGHSt)

3. Der Anwendungsbereich des § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB ist jedenfalls dann eröffnet, wenn dies bereits nach der bisherigen Rechtsprechung zu § 73 Abs. 3 StGB aF der Fall war. Erfasst werden daher von der Neuregelung die sogenannten Vertretungsfälle, wenn der Täter oder Teilnehmer für einen anderen gehandelt hat. Dies ist nicht nur der Fall, wenn der Täter als Organ, Vertreter oder Beauftragter im Sinne des § 14 StGB handelt („im engeren Sinn“), sondern sogar auch dann, wenn der Täter oder Teilnehmer Teil der (betrieblichen) Organisation der juristischen Person war und sich ein Bereicherungszusammenhang aus dem Zurechnungsverhältnis („im weiteren Sinn“) ergibt, ohne dass es auf eine Unmittelbarkeit des Dritterwerbs durch die Tathandlung sowie auf die Bösgläubigkeit des Dritten ankommt (vgl. BGHSt 45, 235, 245 f.). Eine Organstellung ist nicht erforderlich; maßgeblich ist, dass der Tatbeteiligte faktisch im Interesse des Dritten tätig wird. (Bearbeiter)

4. Bei einer unmittelbar durch die Straftat bewirkten Vermögensmehrung auf Seiten einer juristischen Person ist damit maßgeblich, ob an der Tat zumindest ein Täter oder Teilnehmer mitgewirkt hat, der in einem Zurechnungsverhältnis zur juristischen Person steht. (Bearbeiter)

5. Solange eine Geldbuße gegen die Einziehungsbeteiligte nicht festgesetzt wurde, schließt § 30 Abs. 5 OWiG die strafrechtlichen Einziehungsvorschriften bei juristischen Personen nicht aus. (Bearbeiter)

6. Die Übergangsvorschrift des Art. 316j EGStGB verstößt nicht gegen das auch bei der Einziehung zu beachtende verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot. (Bearbeiter)

7. Für die Frage der Anwendbarkeit des § 73e Abs. 1 Satz 2 StGB ist nicht an das Ergehen der erstinstanzlichen Entscheidung über die Einziehung des Tatertrages bzw. des Wertes des Tatertrages anzuknüpfen. Nach dem Gesetzeswortlaut und der systematischen Auslegung ist der Begriff „entschieden“ in Art. 316j EGStGB umfassend zu verstehen. Das Revisionsgericht „entscheidet“ bei der Überprüfung auf Rechtsfehler stets, nicht nur dann, wenn es eine Entscheidung in der Sache selbst trifft (§ 354 Abs. 1 StPO entsprechend), etwa auf Revision der Staatsanwaltschaft einen Einziehungsbetrag erhöht. (Bearbeiter)


Entscheidung

927. BGH 3 StR 61/21 – Beschluss vom 2. Juni 2021 (LG Mannheim)

BGHR; kriminelle Vereinigung bei Betrieb eines sog. „Hawala-Banking-Systems“ (Organisationsstrukturen; übergeordnetes gemeinsames Interesse; Gesamtwürdigung); Erbringung von Zahlungsdiensten ohne Erlaubnis (eine Tat im Rechtssinne bei wiederholter Erbringung innerhalb eines einheitlichen Betriebes).

§ 129 Abs. 2 StGB; § 63 Abs. 1 Nr. 4 ZAG; § 10 Abs. 1 Satz 1 ZAG: § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 ZAG

1. Bei einer ein Hawala-System betreibenden Organisation kann es sich um eine kriminelle Vereinigung im Sinne des § 129 Abs. 2 StGB handeln. Insbesondere kann nach den konkreten Tatumständen ein über individuelle Einzelinteressen hinausgehendes übergeordnetes gemeinsames Interesse am Fortbestand des Hawala-Systems bestehen. (BGHR)

2. Die Übermittlungen von Geldbeträgen im Rahmen eines Hawala-Systems stellen grundsätzlich Finanztransfergeschäfte nach § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 ZAG dar. (BGHR)

3. Das wiederholte Erbringen von Zahlungsdienstleistungen innerhalb eines einheitlichen Betriebes ist als eine Tat im Rechtssinne zu werten. (BGHR)

4. Zur Ermittlung des für eine Vereinigung im Sinne des § 129 Abs. 2 StGB konstitutiven übergeordneten gemeinsamen Interesses können im Rahmen einer Gesamtwürdigung die äußeren Tatumstände herangezogen werden. (Bearbeiter)

5. Bereits nach dem Wortlaut des § 63 Abs. 1 Nr. 4 ZAG ist der Tatbestand auf mehrfaches Tätigwerden angelegt, da bestraft wird, wer „Zahlungsdienste“ erbringt. Zudem bedarf es gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 ZAG – ebenso wie nach § 32 Abs. 1 Satz 1 KWG – einer Erlaubnis nur, wenn die Handlungen gewerbsmäßig oder in einem Umfang vorgenommen werden, der einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb erfordert. Ohne einen solchen Rahmen erbrachte vereinzelte Zahlungsdienste benötigen mithin keine Erlaubnis und stellen keine Straftat dar. (Bearbeiter)


Entscheidung

930. BGH 3 StR 156/20 – Urteil vom 29. Juli 2021 (Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg)

Strafbarer Verstoß gegen außenwirtschaftsrechtliches Bereitstellungsverbot durch Zurverfügungstellung von Geldern an die Ehefrau eines „IS-Kämpfers“; Einziehung von Tatobjekten bei Vereitelung der Einziehung (Verhältnis von Vereitelungshandlung und Tathandlung).

§ 18 Abs. 1 Nr. 1 AWG; Art. 2 Abs. 2 VO (EG) Nr. 881/2002; § 74 StGB; § 74c StGB

1. Gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AWG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 VO (EG) Nr. 881/2002 ist es strafbar, den in der Anlage zur VO (EG) Nr. 881/2002 aufgeführten natürlichen und juristischen Personen, Organisationen, Einrichtungen und Vereinigungen unmittelbar oder mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen oder zugute kommen zu lassen. Die in Art. 2 Abs. 2 VO (EG) Nr. 881/2002 genutzte Wendung „zur Verfügung gestellt werden“ ist dabei in einem weiten Sinn zu verstehen. Hierdurch wird jede Handlung erfasst, die erforderlich ist, damit eine Person die Verfügungsbefugnis über den betreffenden Vermögenswert erlangen kann.

2. Art. 2 Abs. 2 VO (EG) Nr. 881/2002 zielt insgesamt darauf ab, zu verhindern, dass aufgeführte Organisationen oder Personen Zugriff auf wirtschaftliche Ressourcen und Finanzmittel gleich welcher Art haben, die sie zur Unterstützung terroristischer Tätigkeiten. Inwieweit dieses Ziel gefährdet ist, richtet sich nach den konkreten

Umständen des jeweiligen Falles. Eine solche konkrete Betrachtung ist ebenso zur Klärung der Frage vorzunehmen, ob die Tatsache, dass Mitglieder einer Organisation Gelder besitzen, die sie von Außenstehenden erhalten haben, den Schluss zulässt, die Führungsspitze der gelisteten Organisation verfüge selbst über die Gelder.

3. Tatmittel beziehungsweise Tatobjekt wird ein Gegenstand durch die Tatbegehung. Die Einziehung eines Gegenstandes als Tatmittel oder Tatobjekt kommt daher erst mit einer Anknüpfungstat in Betracht, zu deren Begehung oder Vorbereitung er gebraucht wurde beziehungsweise die sich auf ihn bezog. Voraussetzung für eine Anordnung nach § 74c Abs. 1 StGB ist deshalb, dass durch eine Straftat eine Einziehungslage entstanden ist und der Täter oder Teilnehmer zeitlich nachfolgend, also nach der – gegebenenfalls versuchten – Tatbegehung und der hieraus resultierenden Entstehung der staatlichen Einziehungsbefugnis, die Einziehung des betreffenden Tatmittels oder Tatobjekts unmöglich gemacht hat, indem er dieses veräußert oder verbraucht oder dessen Einziehung auf andere Weise vereitelt hat.

4. Die Tatbegehung selbst ist somit keine Vereitelungshandlung im Sinne des § 74c Abs. 1 StGB. Die Einziehung des Wertes von Tatmitteln und Tatobjekten erfasst mithin nur solche Fälle, in denen der Täter oder Teilnehmer durch andere als die im konkreten Fall die Einziehung begründenden Tathandlungen die Einziehung eines Tatmittels oder Tatobjektes vereitelt.


Entscheidung

943. BGH 3 StR 481/20 – Urteil vom 15. Juli 2021 (LG Mainz)

Erforderlichkeit von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld bei Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung (keine Beschränkung auf Kapitalverbrechen; Einzelfallbetrachtung; konkretes Tatbild; Rücktritt vom unbeendeten Versuch (endgültige Aufgabe der Tat; vorübergehendes Innehalten); Tötungseventualvorsatz bei gefährlichen Gewalthandlungen; (Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang zum übermäßigen Konsum berauschender Mittel).

§ 17 Abs. 2 JGG; § 15 StGB; § 24 StGB; § 64 StGB; § 212 StGB; § 224 StGB

1. Die Erforderlichkeit von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld nach § 17 Abs. 2 JGG kommt nicht nur bei Kapitalverbrechen oder vergleichbaren besonders schweren Gewalttaten in Betracht. Zudem sind Vergehen im Sinne des § 12 Abs. 2 StGB nicht von vornherein ungeeignet, Schuldschwere im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG zu begründen. Vielmehr kommt eine solche grundsätzlich etwa auch bei einer gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 StGB in Betracht.

2. Für die Erforderlichkeit von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld nach § 17 Abs. 2 JGG ist nicht auf die abstrakte rechtliche Einordnung des Straftatbestandes als Vergehen, sondern einzelfallbezogen auf das konkrete Tatbild, insbesondere die Art und Weise der Einwirkung auf das Tatopfer, die Gefährlichkeit der Tathandlung und die Schwere der erlittenen Verletzungen abzustellen. Allein der so im Einzelfall festgestellte konkrete äußere Unrechtsgehalt der Tat, nicht aber die abstrakte rechtliche Einordnung des verwirklichten Straftatbestandes ist eine geeignete Basis, um Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Angeklagten und das Maß seiner persönlichen Schuld zu ziehen und damit die Schwere der Schuld nach § 17 Abs. 2 JGG zu bestimmen.

3. Die Aufgabe der weiteren Ausführung der Tat i.S.d. § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 1 StGB setzt die endgültige Abstandnahme des Täters von der konkreten Tatbegehung voraus. Nicht aufgegeben ist die Tat dagegen, solange der Täter mit dem Versuch ihrer Begehung lediglich vorübergehend innehält.