HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2021
22. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

920. BVerfG 2 BvR 908/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 18. August 2021 (Schleswig-Holsteinisches OLG)

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen eine Auslieferung nach Rumänien zum Zwecke der Strafvollstreckung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls (unionsgrundrechtliches Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung; gerichtliche Aufklärungspflicht; zweistufiges Prüfprogramm; Gesamtwürdigung der konkret zu erwartenden Haftbedingungen; Bedeutung der Haftraumgröße; Vermutung eines Verstoßes bei unter 3 m² Bodenfläche pro Gefangenem in einem Gemeinschaftshaftraum; Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens; konkrete Zusicherungen des Ausstellungsmitgliedstaats; Überprüfung der Belastbarkeit durch gerichtliche Gefahrenprognose).

Art. 4 GRCh; Art. 3 EMRK; Art. 15 Abs. 2 RbEuHb; Art. 17 RbEuHb

1. Ein Oberlandesgericht kommt bei der Entscheidung, mit der es eine Auslieferung nach Rumänien zum Zwecke der Strafvollstreckung aufgrund eines europäischen Haftbefehls für zulässig erklärt, seiner sich aus Art. 4 GRCh ergebenden Pflicht zur Prüfung und Aufklärung, ob dem Verfolgten im Zielstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, nicht hinreichend nach, wenn es nicht berücksichtigt, dass ihm eigenständige Prüfungspflichten hinsichtlich aller erteilten Zusicherungen

obliegen und dass Art. 4 GRCh bei Hinzutreten weiterer defizitärer Haftbedingungen auch bei einer Unterbringung des Gefangenen in einer Gemeinschaftszelle mit einem persönlichen Raum zwischen 3 m² und 4 m² verletzt sein kann (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 2. Juni 2021 [= HRRS 2021 Nr. 640] und Folgeverfahren zum Beschluss des BVerfG vom 9. Mai 2018 – 2 BvR 37/18 – [= HRRS 2018 Nr. 462]).

2. Aus Art. 4 GRCh folgt für ein mit einem Überstellungsersuchen befasstes Gericht die Pflicht, in zwei Prüfungsschritten – zunächst mit Blick auf systemische Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat, sodann hinsichtlich der für die Situation des Verfolgten maßgeblichen materiellen Haftbedingungen – von Amts wegen aufzuklären, ob die konkrete Gefahr besteht, dass der zu Überstellende nach einer Übergabe einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird. Der zweite Prüfungsschritt erfordert eine Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen und darf nicht auf offensichtliche Unzulänglichkeiten beschränkt werden.

3. Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Haftbedingungen ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei Gemeinschaftszellen hinsichtlich des einem Inhaftierten zur Verfügung stehenden Raums zu unterscheiden, ob dieser unter 3 m², zwischen 3 m² und 4 m² oder über 4 m² liegt. Bei der Berechnung der verfügbaren Fläche in einer Gemeinschaftszelle ist die Fläche der Sanitärvorrichtungen nicht einzuschließen, wohl aber die durch Möbel eingenommene Fläche, wobei es den Gefangenen möglich bleiben muss, sich in der Zelle normal zu bewegen.

4. Liegt der einem Inhaftierten zur Verfügung stehende Raum in einer Gemeinschaftszelle zwischen 3 m² und 4 m², so kann Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK verletzt sein, wenn zu dem Raummangel weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten, wie etwa fehlender Zugang zum Freistundenhof beziehungsweise zu Frischluft und Tageslicht, schlechte Belüftung, eine zu niedrige oder zu hohe Raumtemperatur, fehlende Intimsphäre in den Toiletten oder schlechte Sanitär- und Hygienebedingungen.

5. Mit dem zweistufigen Prüfprogramm sind Aufklärungspflichten des mit einem Überstellungsersuchen befassten Gerichts verbunden. Dieses muss den Ausstellungsmitgliedstaat um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen Informationen in Bezug auf die konkret zu erwartenden Haftbedingungen bitten. Der Ausstellungsmitgliedstaat ist verpflichtet, diese Informationen innerhalb der ihm vom ersuchten Mitgliedstaat gesetzten Fristen zu übermitteln. Die Aufklärungspflicht beschränkt sich auf die Prüfung derjenigen Haftanstalten, in denen der Verfolgte nach den vorliegenden Informationen wahrscheinlich, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, konkret inhaftiert werden soll.

6. Auf eine konkrete Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaats muss sich das mit dem Überstellungsersuchen befasste Gericht zumindest dann verlassen, wenn keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art. 4 GRCh verstoßen. Auch eine Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaats entbindet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht jedoch nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um so die Belastbarkeit der Zusicherung einschätzen zu können.


Entscheidung

913. BVerfG 2 BvR 171/20 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 8. August 2021 (LG Dresden / AG Dresden)

Einspruch gegen einen Strafbefehl (Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Zustellung an einen Zustellungsbevollmächtigten; volle Einspruchsfrist ab tatsächlicher Kenntniserlangung; Recht auf den gesetzlichen Richter und Pflicht zur Vorlage an den EuGH); Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde (Beginn der Monatsfrist bei mehrfacher Bekanntgabe einer strafgerichtlichen Entscheidung bereits mit der zuerst bewirkten Bekanntmachung; Mitteilung aller Zugangszeitpunkte jedenfalls in Zweifelsfällen).

Art. 101 Abs. 1 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; Art. 6 EMRK; Art. 267 Abs. 2 AEUV; § 35 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 145a Abs. 1 StPO; § 145a Abs. 3 StPO

1. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Zustellung einer strafgerichtlichen Entscheidung an einen Zustellungsbevollmächtigten ist ein Beschuldigter, sobald er von der Entscheidung tatsächlich Kenntnis erlangt, in die gleiche Lage zu versetzen, als sei ihm diese Entscheidung persönlich zugestellt worden. Er muss insbesondere über die volle Einspruchsfrist verfügen. Dabei muss der Adressat eines Strafbefehls nicht dartun, sich bei dem Zustellungsbevollmächtigten zeitnah nach der Existenz des Strafbefehls erkundigt zu haben.

2. Verneint ein Strafgericht ohne nähere Begründung eine von dem Beschuldigten substantiiert vorgetragene und nach den Umständen des Einzelfalls naheliegende Abweichung von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, so kann die unterbliebene Vorlage an den EuGH den Beschuldigten in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter verletzen.

3. Im Falle mehrfacher Bekanntmachung einer strafgerichtlichen Entscheidung beginnt der Lauf der Monatsfrist zur Erhebung und Begründung der Verfassungsbeschwerde bereits mit der zuerst bewirkten Zustellung oder formlosen Mitteilung der den Rechtsweg beendenden Entscheidung. Zu berücksichtigen sind dabei Zustellungen an einen zustellungsbevollmächtigten Verteidiger und an den Beschuldigten sowie auch die Unterrichtungen nach § 145a Abs. 3 StPO über die Zustellung an eine andere Person.

4. Angesichts dessen ist im Verfassungsbeschwerdeverfahren die Angabe aller Zugangszeitpunkte oder die Klarstellung, dass nur eine einzige Bekanntgabe erfolgt ist, jedenfalls dann erforderlich, wenn die Verfassungsbeschwerde über einen Monat nach dem Entscheidungsdatum der angegriffenen Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht eingeht und der Verteidiger einen Zugangs-

zeitpunkt bei sich selbst angibt, nach dem die Verfassungsbeschwerde nur einen Tag vor Ablauf der Monatsfrist erhoben wurde.


Entscheidung

914. BVerfG 2 BvR 972/21 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 16. August 2021 (BGH / LG Magdeburg)

Strafrechtliche Verurteilung wegen Insolvenzverschleppung und Subventionsbetruges (Bestimmtheitsgebot; Analogieverbot; Wortlautgrenze; keine ausdehnende Auslegung allein anhand des Normzwecks; faktischer Geschäftsführer als tauglicher Täter einer Insolvenzverschleppung; verfassungsgerichtliche Überprüfung der Strafzumessung nur anhand des Willkürmaßstabes; Recht auf ein faires Verfahren; rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Substantiierungserfordernis; Vorlage von Dokumenten; keine pauschale Bezugnahme; kein bloßes Einkopieren ohne inhaltliche Aufbereitung).

Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 264 StGB; § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO; § 15a Abs. 4 InsO; § 6 Abs. 2 GmbHG

1. Die grundsätzliche Frage, ob die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach auch der faktische Geschäftsführer unter den Begriff des „Mitglieds eines Vertretungsorgans“ zu fassen ist und tauglicher Täter einer Insolvenzverschleppung sein kann, mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot zu vereinbaren ist, bedarf keiner Entscheidung, wenn ein Beschwerdeführer lediglich die Anwendung des Straftatbestands der Insolvenzverschleppung auf ihn als inhabilen, aber faktischen Geschäftsführer im Einzelfall gerügt hat (Folgeentscheidung zu BGH, Beschluss vom 21. April 2021 – 6 StR 67/21 – [= HRRS 2021 Nr. 581]).

2. Art. 103 Abs. 2 GG enthält für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmtheitsgebot sowie ein damit korrespondierendes, ein an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie. Ausgeschlossen ist danach nicht nur eine gewohnheitsrechtliche oder rückwirkende Strafbegründung, sondern jede Rechtsanwendung, die tatbestandsausweitend über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht.

3. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Die Wortlautgrenze ist aus Sicht des Normadressaten zu bestimmen. Den Strafgerichten ist es verwehrt, eine Strafbestimmung über ihren eindeutigen, einer Auslegung nicht zugänglichen Wortlaut hinaus allein im Blick auf den Normzweck anzuwenden. Dies gilt auch dann, wenn einzelne Fälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen mögen wie das pönalisierte Verhalten. Ob eine Strafbarkeitslücke bestehen bleiben oder durch eine neue Regelung geschlossen werden soll, ist allein Sache des Gesetzgebers.

4. Die Strafzumessung ist Sache der Tatgerichte und der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen, es sei denn, die Strafzumessung entfernt sich so weit von dem Gedanken des gerechten Schuldausgleichs, dass sie sich als objektiv willkürlich erweist.

5. Zur hinreichenden Substantiierung einer Verfassungsbeschwerde reicht eine lediglich pauschale Bezugnahme auf Dokumente nicht aus, denn das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Aufgabe, eingereichte Unterlagen auf verfassungsrechtlich relevanten Vortrag hin zu durchsuchen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Beschwerdeführer auf eine Anlage verweist, mit der er Bestandteile der Verfahrensakte der Verfassungsbeschwerde beigegeben hat, oder ob er versucht, diese ohne inhaltliche Aufbereitung in die Beschwerdeschrift zu integrieren.

6. Eine Verletzung des Gebots der Verfahrensfairness ist nicht hinreichend dargelegt, wenn der Beschwerdeführer zum Beleg des als schleppend gerügten Verhandlungsgangs lediglich pauschal auf die von ihm vorgelegten Protokollbände verweist, ohne den Ablauf der jeweiligen Sitzungstage zu schildern.


Entscheidung

912. BVerfG 2 BvR 27/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 18. August 2021 (KG / LG Berlin)

Vollstreckung einer einstweiligen Anordnung im Strafvollzug (ärztliche Untersuchung und schmerzlindernde Behandlung eines Strafgefangenen; Zwangsgeldfestsetzung gegenüber einer Justizvollzugsanstalt; Recht auf effektiven Rechtsschutz; gerichtliche Aufklärungspflicht; Willkürverstoß in der Rechtsmittelinstanz bei Übersehen einer zwangsweise durchsetzbaren Entscheidung).

Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 120 Abs. 1 Satz 1 StVollzG; § 172 VwGO

1. Eine Strafvollstreckungskammer wird ihrer aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes folgenden Amtsermittlungspflicht nicht gerecht, wenn sie bei der Beurteilung der Frage, ob eine Justizvollzugsanstalt bereit ist, einer einstweiligen Anordnung auf ärztliche Untersuchung und schmerzlindernde Behandlung eines Strafgefangenen nachzukommen oder ob insoweit ein Zwangsgeld festzusetzen ist, nicht aufklärt, ob und gegebenenfalls wann der Gefangene tatsächlich einem Arzt zugeführt worden ist (Folgeentscheidung zu BVerfG, Beschluss vom 23. Oktober 2020 – 2 BvR 1879/20 – [= HRRS 2020 Nr. 1318]).

2. Eine Beschwerdeentscheidung gegen eine unterbliebene Zwangsgeldfestsetzung erweist sich als unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar und daher objektiv willkürlich, wenn das Beschwerdegericht übersieht, dass bereits eine zwangsweise durchzusetzende einstweilige Anordnung der Strafvollstreckungskammer existiert und dass das Beschwerdegericht einem vorangegangenen Rechtsmittel gegen die Ablehnung eines Antrags auf Festsetzung eines Zwangsgelds bereits entsprochen hatte.


Entscheidung

915. BVerfG 2 BvR 1195/21 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 29. Juli 2021 (OLG Koblenz / LG Trier / AG Trier)

Fortdauer der Untersuchungshaft (Freiheitsgrundrecht; erhöhte Begründungsanforderungen an Haftentschei-

dungen; Fluchtgefahr; Fluchtanreiz bietende Straferwartung; Erörterung einer möglichen Reststrafenaussetzung zur Bewährung; Entlassung zum Halbstrafentermin auch bei Freiheitsstrafe über zwei Jahren; besondere Umstände).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO; § 57 Abs. 2 StGB

Eine Haftfortdauerentscheidung wird den sich aus dem Freiheitsgrundrecht ergebenden erhöhten Begründungsanforderungen nicht gerecht, wenn sich das Gericht im Hinblick auf den von einer noch nicht rechtskräftigen Verurteilung ausgehenden Fluchtanreiz zwar zur Dauer der nach Anrechnung der Untersuchungshaft voraussichtlich noch zu verbüßenden Freiheitsstrafe äußert, dabei jedoch eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung bereits zum Halbstrafentermin allein unter Hinweis auf die zwei Jahre übersteigende Freiheitsstrafe (§ 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB) verneint und die Möglichkeit einer Strafaussetzung wegen besonderer Umstände (§ 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB) übergeht.


Entscheidung

916. BVerfG 2 BvR 1282/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 28. Juli 2021 (OLG Düsseldorf)

Einstweilige Anordnung gegen eine Auslieferung an die Russische Föderation (Recht auf effektiven Rechtsschutz; hinreichende Sachverhaltsaufklärung; Gefahr der politischen Verfolgung im Zielstaat; Gesamtwürdigung der zu erwartenden Haftbedingungen; Überprüfung der Belastbarkeit von Zusicherungen; Folgenabwägung zugunsten des Verfolgten).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG

Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung nach Russland für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise das Recht auf effektiven Rechtsschutz und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht sich weder mit der von dem Betroffenen detailliert geltend gemachten Gefahr einer politischen Verfolgung im Zielstaat auseinandergesetzt noch eine Gesamtwürdigung der dort konkret zu erwartenden Haftbedingungen vorgenommen oder die Belastbarkeit der von russischer Seite gegebenen Zusagen überprüft hat.


Entscheidung

917. BVerfG 2 BvR 1317/20 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 19. Juli 2021 (KG / LG Berlin)

Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Nichteinhaltung der gesetzlichen Überprüfungsfrist; Sicherstellung einer rechtzeitigen Entscheidung; eigenverantwortliche Fristkontrolle durch den Vorsitzenden oder den Berichterstatter; verfahrensrechtliche Absicherung des Freiheitsgrundrechts; Darlegung der Gründe einer Fristüberschreitung in der Fortdauerentscheidung; Verzögerungen bei der Begutachtung durch Belastung von Sachverständigen; Abstimmung des Anhörungstermins mit den Beteiligten; Abweichen von festen Sitzungstagen; keine Saldierung von Fristüberschreitungen mit früheren Unterschreitungen).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 63 StGB; § 67e Abs. 2 StGB

1. Die Vorschriften über die regelmäßige Überprüfung der weiteren Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus dienen der Wahrung des Übermaßverbots bei der Beschränkung des Freiheitsgrundrechts. Das Vollstreckungsgericht muss eine rechtzeitige Entscheidung vor Ablauf der Überprüfungsfrist sicherstellen. Hierfür ist im Geschäftsgang der Kammer in der Verantwortung des Vorsitzenden oder des Berichterstatters eine Fristenkontrolle vorzusehen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Betroffene in aller Regel persönlich anzuhören und gegebenenfalls sachverständig zu begutachten ist.

2. Gründe für eine etwaige Fristüberschreitung sind zur verfahrensrechtlichen Absicherung des Freiheitsgrundrechts in der Fortdauerentscheidung darzulegen, um eine Überprüfung zu ermöglichen, ob die Fristüberschreitung trotz sorgfältiger Führung des Verfahrens zustande kam oder ob sie auf einer Fehlhaltung gegenüber dem das Grundrecht sichernden Verfahrensrecht beruhte.

3. Die Überschreitung der gesetzlichen Überprüfungsfrist ist verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbar, wenn die Strafvollstreckungskammer zur Begründung auf eine zu Verzögerungen bei der Begutachtung führende allgemeine Mehrbelastung von psychiatrischen Sachverständigen verweist, ohne dass sich erkennen lässt, worauf das Gericht diese Annahme stützt, weshalb es den Gutachtenauftrag dann nicht früher erteilt hat und ob es sich im Einzelfall um einen schneller verfügbaren Sachverständigen bemüht hat.

4. Eine Verzögerung bei der Terminierung der mündlichen Anhörung ist verfassungsrechtlich nicht hinreichend begründet, wenn die Strafvollstreckungskammer für einen Zeitraum von etwa zwei Monaten lediglich pauschal auf eine Verhinderung von Verteidiger, Sachverständigem oder der Kammer bezüglich früherer Termine verweist, nachdem den Beteiligten jeweils nur an einem festen Wochentag Termine angeboten waren.

5. Eine Grundrechtsverletzung durch eine Fristüberschreitung im aktuellen Überprüfungsverfahren entfällt nicht deshalb, weil die Frist in vorangegangenen Vollstreckungsabschnitten teilweise unterschritten worden ist.


Entscheidung

918. BVerfG 2 BvR 1368/20 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 17. August 2021 (OLG Karlsruhe)

Verlegung eines Strafgefangenen in eine andere Justizvollzugsanstalt (Beeinträchtigung des Resozialisierungsanspruchs; Recht auf effektiven Rechtsschutz; Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses bei noch andauernder Beeinträchtigung von Resozialisierungsmöglichkeiten; Eignung für die Vollzugsform des nach innen offenen Vollzuges).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 115 Abs. 3 StVollzG; § 6 Abs. 1 Nr. 4 JVollzGB III BW

1. Wird ein Strafgefangener gegen seinen Willen in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt, so greift dies – insbesondere wegen des Abbruchs sämtlicher in der Anstalt entwickelten sozialen Beziehungen – in sein Grundrecht

aus Art. 2 Abs. 1 GG ein und kann auch seinen Resozialisierungsanspruch beeinträchtigen. Verlegungen, die nicht ihrerseits durch Resozialisierungsgründe bestimmt sind, bedürfen daher einer Rechtfertigung.

2. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ist es zwar vereinbar, die Rechtsschutzgewährung vom Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses abhängig zu machen. Die Anforderungen an das Rechtsschutzinteresse dürfen jedoch nicht überspannt werden. Daher ist in Bezug auf Haftverlegungen ein schutzwürdiges Interesse an einer gerichtlichen Überprüfung wegen der fortwirkenden Beeinträchtigung der Resozialisierung schon dann anzunehmen, wenn ein Beschwerdeführer gegen seinen Willen in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt worden ist. Dies gilt auch dann, wenn es sich um eine Verlegung innerhalb des geschlossenen Vollzugs handelt.

3. Die Verlegung eines Gefangenen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Strafvollstreckungskammer tragfähig festgestellt hat, dass der Gefangene für die Vollzugsform des nach innen offenen Vollzuges nicht geeignet ist, weil er Mitgefangenen mehrfach in unzulässiger Weise Rechtsberatung angeboten hat, was die Gefahr einer Manipulation der zumeist älteren oder kognitiv beeinträchtigten Mitinhaftierten mit der möglichen Folge finanzieller Schäden birgt, und wenn die Kammer bei der Überprüfung der behördlichen Ermessensentscheidung das Resozialisierungsgrundrecht hinreichend berücksichtigt hat.


Entscheidung

919. BVerfG 2 BvR 2181/20 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 18. August 2021 (OLG Rostock / LG Rostock)

Anhalten eines Briefs im Strafvollzug (Postkontrolle bei Gefangenen; unbeobachteter Schriftwechsel als Bedingung der Persönlichkeitsentfaltung; Recht auf effektiven Rechtsschutz; Begründungserfordernis und gerichtliche Nachprüfung einer Anhalteverfügung; gesondertes Rechtsschutzbedürfnis bezüglich Anhalteverfügung und vorangegangener Anordnung der Überwachung des Schriftverkehrs).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 31 StVollzG M-V; § 34 Abs. 1 StVollzG M-V; § 35 Abs. 1 StVollzG M-V

1. Eine Strafvollstreckungskammer verletzt einen Strafgefangenen in dessen Recht auf effektiven Rechtsschutz, wenn sie einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung betreffend das Anhalten eines an den Gefangenen gerichteten Schreibens unter Verweis auf ein weiteres, bereits anhängiges Verfahren mangels Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig zurückweist und dabei verkennt, dass das frühere Verfahren eine der Anhalteverfügung vorangegangene Anordnung der Überwachung des Schriftverkehrs und damit einen anderen Streitgegenstand betrifft.

2. Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Zulässigkeit des Anhaltens an Strafgefangene gerichteter Schreiben ergeben sich aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Zu den Bedingungen der Persönlichkeitsentfaltung gehört es, dass der Einzelne einen Raum besitzt, in dem er unbeobachtet sich selbst überlassen ist oder mit Personen seines besonderen Vertrauens ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhaltenserwartungen und ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen verkehren kann.

3. Erlaubt eine strafvollzugsrechtliche Norm das Anhalten eines Schreiben, wenn dieses grob unrichtige oder erheblich entstellende Darstellungen von Anstaltsverhältnissen oder grobe Beleidigungen enthält, so bedarf eine hierauf gestützte Anhalteverfügung angesichts ihres Eingriffscharakters grundsätzlich einer Begründung hinsichtlich der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen.