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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 943

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 481/20, Urteil v. 15.07.2021, HRRS 2021 Nr. 943


BGH 3 StR 481/20 - Urteil vom 15. Juli 2021 (LG Mainz)

Erforderlichkeit von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld bei Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung (keine Beschränkung auf Kapitalverbrechen; Einzelfallbetrachtung; konkretes Tatbild; Rücktritt vom unbeendeten Versuch (endgültige Aufgabe der Tat; vorübergehendes Innehalten); Tötungseventualvorsatz bei gefährlichen Gewalthandlungen; (Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang zum übermäßigen Konsum berauschender Mittel).

§ 17 Abs. 2 JGG; § 15 StGB; § 24 StGB; § 64 StGB; § 212 StGB; § 224 StGB;

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Erforderlichkeit von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld nach § 17 Abs. 2 JGG kommt nicht nur bei Kapitalverbrechen oder vergleichbaren besonders schweren Gewalttaten in Betracht. Zudem sind Vergehen im Sinne des § 12 Abs. 2 StGB nicht von vornherein ungeeignet, Schuldschwere im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG zu begründen. Vielmehr kommt eine solche grundsätzlich etwa auch bei einer gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 StGB in Betracht.

2. Für die Erforderlichkeit von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld nach § 17 Abs. 2 JGG ist nicht auf die abstrakte rechtliche Einordnung des Straftatbestandes als Vergehen, sondern einzelfallbezogen auf das konkrete Tatbild, insbesondere die Art und Weise der Einwirkung auf das Tatopfer, die Gefährlichkeit der Tathandlung und die Schwere der erlittenen Verletzungen abzustellen. Allein der so im Einzelfall festgestellte konkrete äußere Unrechtsgehalt der Tat, nicht aber die abstrakte rechtliche Einordnung des verwirklichten Straftatbestandes ist eine geeignete Basis, um Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Angeklagten und das Maß seiner persönlichen Schuld zu ziehen und damit die Schwere der Schuld nach § 17 Abs. 2 JGG zu bestimmen.

3. Die Aufgabe der weiteren Ausführung der Tat i.S.d. § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 1 StGB setzt die endgültige Abstandnahme des Täters von der konkreten Tatbegehung voraus. Nicht aufgegeben ist die Tat dagegen, solange der Täter mit dem Versuch ihrer Begehung lediglich vorübergehend innehält.

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Mainz vom 26. Juni 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten H. wegen gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung eines früheren Urteils zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Vollstreckung der Strafe hat es zur Bewährung ausgesetzt. Den Angeklagten S. hat das Landgericht der gefährlichen Körperverletzung schuldig gesprochen und die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Gegen ihn hat das Landgericht zudem auf einen Dauerarrest von zwei Wochen erkannt. Gegen diese Verurteilungen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihren zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten und auf die Sachrüge gestützten Revisionen. Die vom Generalbundesanwalt vertretenen Rechtsmittel haben Erfolg.

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Die 1999 geborenen und aus Afghanistan stammenden Angeklagten kamen 2015 als minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland. Sie trafen sich regelmäßig mit Freunden, darunter dem gleichfalls aus Afghanistan stammenden späteren Tatopfer Su., in M. Bei diesen zumeist nächtlichen Zusammentreffen konsumierten sie ganz erhebliche Mengen Alkohol; so auch in der Nacht vom 9. auf den 10. Juni 2019.

Kurz vor 04:00 Uhr gerieten die Angeklagten und der Geschädigte, der ebenfalls deutlich alkoholisiert war, in Streit. Die Angeklagten fühlten sich durch Äußerungen des Su. provoziert und in ihrer Ehre gekränkt. Der Streit mündete in eine körperliche Auseinandersetzung. Die Angeklagten, die aufgrund des konsumierten Alkohols in ihrer Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt waren, entschlossen sich, dem Geschädigten einen „Denkzettel“ zu verpassen und gewaltsam gegen ihn vorzugehen, um ihm ihre Überlegenheit zu verdeutlichen. Sie wollten ihn verletzen, aber nicht töten.

Der Angeklagte S. nahm eine Bierflasche und schlug sie dem Geschädigten gegen den Hinterkopf, wodurch dieser eine blutende Platzwunde erlitt. Der Angeklagte H. ergriff eine weitere Bierflasche, zerschlug sie auf dem Boden und trat mit dem zerbrochenen Flaschenhals in der Hand auf das Tatopfer zu. Dieses ergriff daraufhin die Flucht.

Die Angeklagten folgten Su. und holten ihn ein. Der Angeklagte S. hielt ihn fest, während der Angeklagte H. mit dem zerbrochenen Rest der Bierflasche zweimal in Richtung des Bauches des Tatopfers stieß und diesem dadurch zwei stark blutende Stichverletzungen im linken Bauchbereich zufügte. Als der Geschädigte sich losreißen und wegdrehen konnte, stieß der Angeklagte H. ein weiteres Mal zu und verletzte ihn am Gesäß.

Su. versuchte erneut zu fliehen, wurde aber von den Angeklagten sogleich wieder gestellt. Der Angeklagte S. schlug dem Tatopfer mindestens drei Mal mit der Faust in das Gesicht. Der Angeklagte H. stieß erneut mit dem in der rechten Hand gehaltenen abgebrochenen Flaschenhals auf den Geschädigten ein, der sich zu schützen versuchte, indem er seinen rechten Arm vor sich hielt. Der Geschädigte wurde zunächst mehrfach am rechten Unterarm getroffen und erlitt dort tief bis in die Muskulatur reichende Verletzungen. Als er sich wegdrehte, traf ihn ein weiterer Stich des Angeklagten H. mit dem Flaschenrest am Hinterkopf, wodurch er dort im Bereich der Halswirbelsäule eine tief klaffende Stichwunde erlitt.

Der Geschädigte versuchte daraufhin ein drittes Mal zu fliehen, wurde aber von den Angeklagten wiederum eingeholt. Der Angeklagte S. versetzte ihm erneut Faustschläge in Richtung des Gesichts, während der Angeklagte H. abermals mit dem abgebrochenen Flaschenhals auf ihn einstach und ihm nunmehr an der rechten Bauchflanke eine zwölf Zentimeter lange Stichwunde zufügte. Sodann ließen die Angeklagten, die erkannt hatten, dass sie ihr Opfer noch nicht tödlich verletzt hatten, zunächst von diesem ab.

Der stark blutende Su. raffte sich auf und lief weg. Er traf auf zwei Zeugen, die ihn anhielten, auf den Boden setzten und Erste Hilfe leisteten. Nun kamen die Angeklagten erneut auf den Geschädigten zu. Die beiden Zeugen versuchten vergeblich, sich schützend zwischen die Angeklagten und das Tatopfer zu stellen. Nachdem der Angeklagte H. den bis dahin weiter in der Hand gehaltenen Flaschenrest weggeworfen hatte, schlugen beide Angeklagte mit Fäusten auf den Geschädigten ein, der von zwei Schlägen getroffen wurde, dann aber aufstehen und hinter am Fahrbahnrand parkende Fahrzeuge flüchten konnte. Die Angeklagten setzten ihm erneut nach und versuchten, ihn zu treten und zu schlagen, was ihnen aufgrund ihrer Alkoholisierung und Ausweichbewegungen des Opfers aber nur vereinzelt gelang.

Gegen 04:15 Uhr traf die Polizei ein. Die Angeklagten konnten von den Polizeibeamten erst unter Vorhalt der Dienstwaffen und Androhung des Einsatzes eines Distanzelektroimpulsgerätes unter Kontrolle gebracht werden.

Der Geschädigte erlitt multiple Stichverletzungen, die chirurgisch versorgt wurden, jedoch weder für sich genommen noch in ihrer Gesamtheit konkret lebensgefährlich waren. Er verließ das Krankenhaus nach einem Tag gegen ärztlichen Rat und war zwei Monate krankgeschrieben; seine Verletzungen sind mit Ausnahme von kleineren Narben folgenlos verheilt.

II.

Zwar hat die Staatsanwaltschaft beantragt, das angefochtene Urteil bezüglich beider Angeklagter nur im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben. Die Revisionsbegründung macht indes geltend, die Strafkammer habe rechtsfehlerhaft einen zumindest bedingten Tötungsvorsatz der Angeklagten verneint. Die Revisionen wenden sich mithin auch gegen die Schuldsprüche. Die Rechtsmittel sind daher als uneingeschränkt eingelegte und auf eine umfassende Aufhebung des Urteils abzielende Revisionen auszulegen (vgl. BGH, Urteile vom 30. September 2020 - 3 StR 511/19, juris Rn. 12; vom 10 11 12 21. September 2017 - 3 StR 288/17, StV 2019, 443 Rn. 8; Beschluss vom 28. Januar 2014 - 4 StR 528/13, NJW 2014, 871; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 344 Rn. 1, 6).

III.

Die Rechtsmittel führen zur Aufhebung des Urteils.

1. Die Verneinung eines zumindest bedingten Tötungsvorsatzes der Angeklagten durch die Jugendkammer hält der materiellrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

a) Mit bedingtem Tötungsvorsatz handelt der Täter, wenn er den Tod des Opfers als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles Willen zumindest mit dem Eintritt des Todes eines anderen Menschen abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement; st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 28. April 2021 - 5 StR 500/20, juris Rn. 8; Beschlüsse vom 24. März 2021 - 4 StR 142/20, juris Rn. 10; vom 17. März 2021 - 2 StR 359/20, juris Rn. 10; Urteil vom 27. Juli 2017 - 3 StR 172/17, NStZ 2018, 37, 38).

Bei äußerst gefährlichen (Gewalt-)Handlungen liegt es nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne zu Tode kommen, und - weil er mit seinem Handeln gleichwohl fortfährt - einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt. Eine hohe und zudem anschauliche konkrete Lebensgefährlichkeit der Tatausführung stellt mithin auf beiden Vorsatzebenen ein wesentliches auf bedingten Tötungsvorsatz hinweisendes Beweisanzeichen dar (vgl. BGH, Urteile vom 28. April 2021 - 5 StR 500/20, juris Rn. 8; vom 12. August 2020 13 14 15 16 - 2 StR 574/19, juris Rn. 17; Beschluss vom 30. Juli 2019 - 2 StR 122/19, NStZ 2020, 288).

b) Bei ihrer Beurteilung, ob die Angeklagten mit Tötungsvorsatz auf den Geschädigten einwirkten, hat die Jugendkammer daher zu Recht - unter anderem - auf die Gefährlichkeit der Gewalthandlungen der Angeklagten abgestellt. Sie hat insofern aber dem Vorgehen der Angeklagten den Charakter objektiv äußerst gefährlicher Gewalthandlungen abgesprochen, und zwar mit der Erwägung, nach den Ausführungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen seien die Stichverletzungen des Geschädigten „rein oberflächlicher Natur“ gewesen, das Opfer sei trotz des Blutverlustes kardiostabil gewesen und es habe weder einer komplizierten Wundversorgung noch eines längeren Krankenhausaufenthaltes bedurft.

Diese Erwägung widerstreitet jedoch den Feststellungen, wonach der Geschädigte durch die Stiche mit der abgebrochenen Flasche am Unterarm „multiple, tief bis in die Muskulatur reichende Verletzungen“ und am Hinterkopf im Bereich der Halswirbelsäule eine „tief klaffende Stichwunde“ erlitt. Dieser Widerspruch zwischen den Feststellungen zum Verletzungsbild des Opfers einerseits und den Erwägungen, mit denen die Strafkammer den Tötungsvorsatz verneint hat, begründet einen durchgreifenden Rechtsfehler. Denn sollten die Verletzungen des Tatopfers derart schwer gewesen sein, hätten sie entgegen der Annahme der Strafkammer erheblichen indiziellen Wert für ein Handeln der Angeklagten mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz.

c) Das Urteil beruht auf diesem Rechtsfehler. Eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen eines versuchten Tötungsdelikts kann auf der Basis der getroffenen Feststellungen insbesondere nicht mit der Erwägung ausgeschlossen werden, die Angeklagten seien, sollten sie zunächst mit bedingtem Tötungsvorsatz gegen den Geschädigten vorgegangen sein, jedenfalls strafbefreiend von einem Tötungsversuch zurückgetreten.

Zwar heißt es in den Urteilsfeststellungen, die Angeklagten hätten, nachdem sie ein viertes Mal auf den Geschädigten gewaltsam eingewirkt hatten, von ihm abgelassen und dabei erkannt, dass sie ihn noch nicht tödlich verletzt hatten und ihnen dies noch ohne weiteres möglich gewesen wäre. Damit ist ein strafbefreiender Rücktritt von einem versuchten Tötungsdelikt allerdings nicht belegt. Denn dieser setzt die endgültige Abstandnahme des Täters von der konkreten Tatbegehung voraus; nicht aufgegeben ist die Tat dagegen, solange der Täter mit dem Versuch ihrer Begehung lediglich vorübergehend innehält (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 2010 - 4 StR 605/09, BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Rücktritt 12 Rn. 7; Urteile vom 1. April 2009 - 2 StR 571/08, NStZ 2009, 501, 502; vom 13. Februar 1985 - 3 StR 481/84, BGHSt 33, 142, 145; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 24 Rn. 26a mwN). Die Angeklagten jedoch liefen ausweislich der Feststellungen zwar zunächst weg, kehrten aber „unmittelbar“ zurück, begaben sich in der Absicht, „weiter auf ihn einzuwirken“, wieder auf den Geschädigten zu und attackierten diesen erneut.

Eine endgültige Abstandnahme der Angeklagten von einer Einwirkung auf das Tatopfer mit Tötungsvorsatz folgt auch nicht ohne Weiteres daraus, dass der neuerliche Angriff auf das Opfer nicht mehr mit dem abgebrochenen Flaschenhals erfolgte, sondern der Angeklagte H. den bis dahin weiter von ihm in der Hand gehaltenen Flaschenrest zuvor weggeworfen hatte. Denn die Angeklagten wirkten erneut massiv auf den Geschädigten ein, und zwar unter anderem durch von oben und der Seite geführte Faustschläge gegen den Kopf des zu diesem Zeitpunkt bereits erheblich verletzt auf dem Boden sitzenden Opfers. Die Feststellungen zu diesem Teil des Tatgeschehens, die sich nicht zum subjektiven Vorstellungsbild der Angeklagten in diesem Moment verhalten, gebieten daher nicht den Schluss eines zu diesem Zeitpunkt nicht (mehr) bestehenden bedingten Tötungsvorsatzes.

2. Der Rechtsfolgenausspruch weist daneben für sich genommen mehrere durchgreifende Rechtsfehler auf.

a) Unabhängig von der Ablehnung eines bedingten Tötungsvorsatzes der Angeklagten stoßen die Erwägungen, mit denen die Jugendkammer die Erforderlichkeit von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld nach § 17 Abs. 2 JGG hinsichtlich beider Angeklagter verneint hat, auf rechtliche Bedenken.

Die Jugendkammer hat insofern maßgeblich darauf abgestellt, dass es sich bei der Tat um kein Kapitalverbrechen und keine andere besonders schwere Straftat gehandelt habe, sondern die Angeklagten sich mit der Verwirklichung des Straftatbestandes der gefährlichen Körperverletzung eines Vergehens schuldig gemacht hätten. Dies lässt besorgen, dass sie mit einer pauschalen Herausnahme der Straftat der gefährlichen Körperverletzung (§ 224 StGB) als Vergehen aus dem Kanon der Straftaten, bei denen die Verhängung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG möglich ist, einen zu engen Maßstab angelegt hat.

Die Erforderlichkeit von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld nach § 17 Abs. 2 JGG kommt nicht nur bei Kapitalverbrechen oder vergleichbaren besonders schweren Gewalttaten in Betracht. Zudem sind Vergehen im Sinne des § 12 Abs. 2 StGB nicht von vornherein ungeeignet, Schuldschwere im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG zu begründen. Vielmehr kommt eine solche grundsätzlich etwa auch bei einer gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 StGB in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 18. Juli 2018 - 2 StR 150/18, NStZ 2018, 728, 729; Beschlüsse vom 27. September 2011 - 3 StR 259/11, NStZ-RR 2011, 385; vom 23. März 2010 - 5 StR 556/09, NStZ-RR 2010, 290; MüKoStGB/Radtke, 3. Aufl., § 17 JGG Rn. 66, 68). Insofern ist nicht auf die abstrakte rechtliche Einordnung des Straftatbestandes als Vergehen, sondern einzelfallbezogen auf das konkrete Tatbild, insbesondere die Art und Weise der Einwirkung auf das Tatopfer, die Gefährlichkeit der Tathandlung und die Schwere der erlittenen Verletzungen abzustellen. Allein der so im Einzelfall festgestellte konkrete äußere Unrechtsgehalt der Tat, nicht aber die abstrakte rechtliche Einordnung des verwirklichten Straftatbestandes ist eine geeignete Basis, um Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Angeklagten und das Maß seiner persönlichen Schuld zu ziehen und damit die Schwere der Schuld nach § 17 Abs. 2 JGG zu bestimmen (vgl. zur Bedeutung des äußeren Unrechtsgehalts für die Beurteilung der Schwere der Schuld BGH, Urteile vom 13. November 2019 - 2 StR 217/19, NStZ 2020, 301 Rn. 11; vom 9. Januar 2018 - 1 StR 239/17, NStZ 2018, 659; vom 4. August 2016 - 4 StR 142/16, NStZ 2017, 648, 649; Beschluss vom 2. Dezember 2008 - 4 StR 543/08, NStZ 2009, 450; Urteile vom 29. September 1961 - 4 StR 301/61, BGHSt 16, 261; vom 11. November 1960 - 4 StR 387/60, BGHSt 15, 224). Eine solche Betrachtung ist vorliegend nur unzureichend vorgenommen worden.

b) Der Bemessung der Jugendstrafe für den Angeklagten H. hat die Jugendkammer gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 JGG einen Strafrahmen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren Jugendstrafe zu Grunde gelegt. Dabei ist ihr aus dem Blick geraten, dass der Angeklagte zur Tatzeit Heranwachsender war und nach § 105 Abs. 3 Satz 1 JGG das Höchstmaß der Jugendstrafe für Heranwachsende zehn Jahre beträgt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Jugendkammer, wenn sie der Zumessung der Jugendstrafe den richtigen Strafrahmen zu Grunde gelegt hätte, gegen den Angeklagten H. eine höhere Jugendstrafe verhängt hätte.

c) Das Landgericht hat eine Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB, § 7 Abs. 1 JGG) abgelehnt und diese Entscheidung - sachverständig beraten - damit begründet, bei beiden Angeklagten liege weder eine Abhängigkeitserkrankung im Sinne von ICD-10: F10.2 noch ein schädlicher Gebrauch von Alkohol im Sinne von ICD-10: Fp10.1 vor. Es bestehe daher kein sicher feststellbarer Hang, Alkohol in einem solchen Übermaß zu konsumieren, dass es bereits zu erheblichen Einschränkungen der Gesundheit oder Arbeits- und Leistungsfähigkeit der Angeklagten gekommen sei.

Diese Ausführungen geben Anlass zur Besorgnis, dass es bei der Prüfung des Hangs, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, von einem unzutreffenden Maßstab ausgegangen ist. Denn ein übermäßiger Konsum setzt keine erhebliche Beeinträchtigung der Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit voraus. Vielmehr hat eine solche Beeinträchtigung nach der Rechtsprechung der Strafsenate des Bundesgerichtshofs lediglich indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hangs; ihr Fehlen steht dem Hang nicht notwendig entgegen (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 13. Oktober 2020 - 1 StR 291/20, juris Rn. 7; vom 3. März 2020 - 3 StR 576/19, juris; vom 19. Februar 2020 - 3 StR 415/19, NStZ-RR 2020, 168, 169; vom 17. September 2019 - 3 StR 355/19, juris Rn. 4; vom 12. März 2019 - 2 StR 584/18, juris Rn. 19; vom 27. November 2018 - 3 StR 299/18, NStZ 2019, 265 Rn. 8; vom 27. September 2018 - 4 StR 276/18, StV 2019, 261 Rn. 7; vom 10. Januar 2018 - 3 StR 563/17, juris Rn. 7; vom 10. November 2015 - 1 StR 482/15, NStZ-RR 2016, 113, 114; vom 30. Juni 2015 - 5 StR 215/15, juris Rn. 8 [jeweils mwN]; vgl. auch Fischer, StGB, 68. Aufl., § 64 Rn. 10a). Das Landgericht hat sich damit den Blick darauf verstellt, dass ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln jedenfalls dann gegeben ist, wenn der Betreffende aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint. Soziale Gefährlichkeit liegt typischerweise im Falle von Beschaffungskriminalität vor, ist hierauf jedoch nicht beschränkt. Denn es kommen auch andere Delikte als solche der Beschaffungskriminalität als Hangtaten in Betracht, wenn sich in ihnen die hangbedingte besondere Gefährlichkeit des Täters zeigt (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 23. August 2017 - 1 StR 367/17, NStZ-RR 2017, 370, 371).

Danach erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt bei den Angeklagten erfüllt sind. Denn nach den Feststellungen konsumierten die Angeklagten bei ihren regelmäßigen nächtlichen Zusammenkünften mit Freunden im Übermaß Alkohol. Sie begingen die verfahrensgegenständliche Tat im Rahmen eines solchen Treffens und jeweils in einem akuten hochgradigen Alkoholrausch. Mithin zeigen die Feststellungen Anhaltspunkte dafür auf, dass die Angeklagten insofern sozial gefährlich sind, als bei ihnen die intensive Neigung vorliegen könnte, sich erheblich zu berauschen und dann im Rauschzustand Gewaltdelikte zu begehen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 943

Externe Fundstellen: NStZ 2022, 753

Bearbeiter: Christian Becker