HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2018
19. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Zur Tendenz der Normativierung der Vorsatzfeststellung am Beispiel der aktuellen Raser-Fälle*

Von Dr. Theresa Schweiger, Wiss. Mit. LMU München

I. Einleitung *

März 2015/Köln: Ein Mann überfährt eine rote Ampel und rammt ein Taxi. Der Fahrgast erliegt wenige Tage später seinen schweren Verletzungen.

April 2015/Köln: Bei einem Rennen zweier Männer verliert einer die Kontrolle über seinen Wagen. Eine 19 Jahre alte Radfahrerin wird tödlich verletzt.

Februar 2016/Berlin: Zwei junge Männer liefern sich in der Berliner Innenstadt ein Rennen, wobei sie rote Ampeln und Kreuzungen mit bis zu 160 km/h überfahren. Eines der Autos stößt mit einem Geländewagen zusammen, dessen 69-Jahre alte Fahrer stirbt.

Dies sind nur einige wenige Beispielsfälle der letzten Jahre, in denen illegale Autorennen, meist von jungen Männern in ihren Zwanzigern veranstaltet, nicht nur zu erheblichen Verletzungen, sondern sogar zum Tode unbeteiligter Menschen geführt haben.[1] Überhöhte Geschwindigkeit ist immer noch eine der Hauptursachen für die vielen Unfälle mit Schwerverletzten und Verkehrstoten.[2] Dies belegt auch eine Faustformel aus der Unfallforschung, die im Zusammenhang mit der Begutachtung der Relevanz von Tempominderungen im Straßenverkehr entwickelt wurde: Würde jeder Fahrer auf allen Straßen das Tempo um ein Prozent reduzieren, würden zwei Prozent weniger Unfälle mit leichten, drei Prozent weniger mit schweren und vier Prozent weniger mit tödlichen Verletzungen die Folge sein. Allein in der EU würden dadurch bis zu 2.200 Menschen jährlich weniger den Verkehrstod sterben. Das einzig wirksame Gegenmittel in der Bekämpfung überhöhter Geschwindigkeiten scheint bislang eine verstärkte Kontroll- und Überwachungsdichte verbunden mit Tempolimits zu sein. Deshalb sind die Zahlen der Verkehrstoten in den Ländern mit einer sehr hohen Überwachungsdichte, insbesondere in der Schweiz, auch besonders niedrig.

Es erscheint allerdings fraglich, ob diese Einschätzung in gleichem Maße auch für Menschen gelten kann, für die ihr Auto ein Spielgerät und der öffentliche Verkehrsraum ein Spielplatz ist. Ob sich diese Menschen, deren Selbstwertgefühl stark mit der PS-Zahl und dem Drehmoment ihres Wagens zusammenhängt, tatsächlich von strengen Tempolimits – die es zumindest innerstädtisch ja schon gibt – und verstärkten Kontrollen abschrecken lassen, kann in Anbetracht der mangelnden Reife und Einsichtsfähigkeit der meisten Raser wohl nur bezweifelt werden. Dies ändert freilich nichts daran, dass dennoch – oder gerade deshalb – weiterhin eine dringende gesellschaftliche Notwendigkeit dafür besteht, solch schädlichen Exzessen zulasten Dritter auf dem Asphalt Einhalt zu gebieten. Dies erkannte auch der Gesetzgeber und bemühte alsbald das ultima-ratio-Werkzeug aus der staatlichen Instrumentenkiste, so wie es seiner Vernunft der letzten Jahre entspricht, wenn er zu erkennen meint, dass präventive Maßnahmen versagen und bestehende repressive Konsequenzen nicht mehr ausreichen. Seit Oktober letzten Jahres existiert deshalb der neue § 315d StGB,[3] der verbotene Kraftfahrzeugrennen unter Strafe stellt.

Weder die gesetzestechnische Ausgestaltung, noch die systematische Stringenz, noch die allgemeine Tauglichkeit dieser neuen Norm sollen aber Gegenstand dieses Vortrags sein.[4] Dieser Vortrag möchte sich vielmehr mit der – von der Einführung des § 315d StGB völlig unabhängigen – Frage beschäftigen, inwieweit die Zunahme sogenannter Raser-Fälle in den letzten Jahren die strafgerichtliche Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Annahme eines Tötungsvorsatzes bei hochgefährlichen Handlungen beeinflusst und geprägt hat. Denn gerade die Fälle selbstüberschätzter Verkehrsrowdys illustrieren nahezu idealtypisch den äußerst schmalen Grat, der zwischen der Annahme bewusster Fahrlässigkeit auf der einen Seite und der Annahme bedingten Verletzungsvorsatzes auf der anderen Seite verläuft.

II. Status quo der Abgrenzung von bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz

Um aber überhaupt zu der Frage Stellung beziehen zu können, ob Raser im Allgemeinen eher bedingt vorsätzlich oder bewusst fahrlässig handeln, wenn sie beispielsweise infolge der erhöhten Geschwindigkeit die Kontrolle über ihren Wagen verlieren und dadurch eine oder mehrere Personen tödlich verletzen, gilt es zunächst, den status quo der Abgrenzung von bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz in der strafrechtlichen Judikatur aufzuarbeiten. Sowohl die höchstrichterliche Rechtsprechung[5] als auch die herrschende Lehre[6] sind sich in diesem Zusammenhang seit längerer Zeit dahingehend einig, dass die Annahme eines bedingten Vorsatzes im strafrechtlichen Sinne jedenfalls zwei, voneinander grundsätzlich unabhängige Elemente erfordert: ein kognitives und ein voluntatives. In kognitiver Hinsicht erfordert die vorsätzliche Tatbegehung, dass der Täter die Möglichkeit des deliktischen Erfolges zu-

mindest erkannt hat. Er muss also die Wahrscheinlichkeit des Erfolges intellektuell wahrnehmen und bewerten können. In voluntativer Hinsicht muss der Täter sich gerade mit dieser Möglichkeit des Eintritts des deliktischen Erfolges abgefunden haben. In der Diktion des Bundesgerichtshofs gesprochen: Er muss den Erfolgseintritt zumindest billigend in Kauf genommen haben.[7] Gerade diese Willenskomponente – das Sich-Abfinden mit dem deliktischen Erfolg – ist es, die – zumindest in der Theorie – das trennscharfe Kriterium zwischen noch bewusst fahrlässigem und schon bedingt vorsätzlichem Handeln liefern soll. Denn auch der bewusst fahrlässig Handelnde hat die Chance der Realisierung eines deliktischen Erfolges zumindest erkannt, anderenfalls handelt er höchstens unbewusst fahrlässig.[8]

III. Zur Problematik der Feststellung des dolus eventualis in den sog. Raser-Fällen

Wie aber bemisst das geschulte Auge nun, ob sich der Täter, der beispielsweise mit Tempo 120 durch die Münchener Innenstadt rast und diverse rote Ampelzeichen missachtet, mit der Möglichkeit des Erfolgseintrittes in Form der Verletzung oder Tötung unbeteiligter Dritter abgefunden hat oder nicht? Der Bundesgerichtshof springt dem ratlos Rechtssuchenden in dieser Situation mit folgenden Worten helfend zur Seite: Zitat: "Bedingter Vorsatz und bewusste Fahrlässigkeit unterscheiden sich darin, dass der bewusst fahrlässig Handelnde mit der als möglich erkannten Folge nicht einverstanden ist und deshalb auf ihren Nichteintritt vertraut, während der bedingt vorsätzlich Handelnde mit dem Eintreten des schädlichen Erfolgs in der Weise einverstanden ist, dass er ihn billigend in Kauf nimmt oder dass er sich wenigstens mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet."[9] Zitat Ende. Zusammengefasst: Wer einverstanden ist, findet sich mit dem Eintritt ab und handelt vorsätzlich, wer nicht einverstanden ist, vertraut auf den Nichteintritt und handelt fahrlässig. Eigentlich ganz einfach.

Der erste Anschein der Einfachheit dieser Lösung verflüchtigt sich allerdings wieder recht schnell, wenn man als Tatrichter vor der Aufgabe steht, im Einzelfall zu klären, ob der Täter sich denn nun tatsächlich mit der Möglichkeit der Tötung eines Menschen zum Zeitpunkt seiner rasanten Fahrt abgefunden hatte. Der kluge, da meist anwaltlich beratene Angeklagte wird im Zweifelsfalle einfach schweigen. Und da sitzt er nun, der Richter, und soll vom Gesicht seines schweigenden Angeklagten ablesen, ob dieser sich damals, als er seine Freundin und Freunde beeindrucken wollte, indem er dem aus dem Nachbarort stammenden Rivalen im Geschwindigkeitsmessen den Schneid abkauft, mit der Möglichkeit der tödlichen Verletzung einer dritten Person im Fall eines Unfalls abgefunden hatte oder nicht. Es offenbart sich an dieser Stelle der Kern der Problematik, nämlich dass der Vorsatz zuvörderst in einer bestimmten aktuellen psychologischen Vorstellung des Täters besteht, zu der der Tatrichter nachträglich keinen direkten Zugang hat.[10]

Dieses Dilemma hat auch der Bundesgerichtshof erkannt und doziert entsprechend weiter: Zitat: "Die Prüfung, ob Vorsatz oder (bewusste) Fahrlässigkeit vorliegt, erfordert insbesondere bei Tötungs- oder Körperverletzungsdelikten eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände, wobei es vor allem bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements regelmäßig erforderlich ist, dass sich der Tatrichter mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung sowie seine Motivation und die zum Tatgeschehen bedeutsamen Umstände – insbesondere die konkrete Angriffsweise – mit in Betracht zieht. Diese Gesamtschau ist insbesondere dann notwendig, wenn der Tatrichter allein oder im Wesentlichen aus äußeren Umständen auf die innere Einstellung eines Angeklagten zur Tat schließen muss."[11] Zitat Ende.

Derart gewappnet stürzt sich der beflissene Tatrichter nun in die Beweisaufnahme, um die Persönlichkeit des Täters, seine zum Tatzeitpunkt gegebene psychische Verfassung, seine Motivation sowie die objektiven Tatumstände zu ermitteln. Dabei wird sich regelmäßig folgendes Bild ergeben:[12] Ein junger, testosteronangetriebener und entsprechend risikofreudiger Mann, der abseits der Straße meist ein wenig bis mäßig erfolgreiches Leben führt, überschätzt sein fahrerisches Können im Zustand adrenalinverursachter Erregung, obwohl er nach intensiver Filmstudie davon ausging, mit seiner Freundin auf dem Beifahrersitz seines getunten Mittelklassewagens mindestens genauso gut wie James Bond durch den deutschen Großstadtdschungel heizen zu können – ohne Anschnallen, versteht sich, alles andere wäre ja etwas für Feiglinge.

All diese Feststellungen sprechen sodann im Zweifel gerade gegen die Annahme, dass sich der Täter – trotz möglicher Erkenntnis aller Gefahren, die aus seinem Handeln resultieren – mit der tödlichen Verletzung anderer Personen abgefunden hatte. Denn die Konsequenz eines Unfalls mit derartigen Folgen passt nicht in das psychologische Muster des beschriebenen Täters, der weder will, dass er, noch sein Auto, noch seine Freundin bei dem Manöver zu Schaden kommen .[13] Getreu seinem mentalen Biotop, zusammengesetzt aus "Need for speed" und "The fast and the furious", rechnet der Raser unter Berücksichtigung seiner geglaubten Fähigkeiten schon gar nicht mit der Möglichkeit eines Unfalls.

IV. Zur Angemessenheit dieses Ergebnisses und zur Alternative einer rein normativen Vorsatzfeststellung

Ist dieses Ergebnis nun gerecht? Nach der Ansicht und dem Rechtsgefühl vieler deutscher Mitbürger wohl kaum. Es entspricht aber dem von der Rechtsprechung seit langem praktizierten deskriptiv-psychologischen Rechtsverständnis in Bezug auf das voluntative Vorsatzelement, nach welchem sich aus dem äußeren Tatgeschehen und der entsprechenden Kenntnis des Täters verschiedene Indizien zugunsten oder zulasten einer billigenden Inkaufnahme des Erfolges ergeben.[14] Eine sorgfältige tatge-

richtliche Abwägung dieser Indizien soll vorschnellen und formelhaften Schlüssen von einer bestimmten Tatsituation auf den entsprechenden Vorsatz entgegenwirken.[15] Diese Anforderungen gelten im besonderen Maße bei der Frage nach einem möglichen Tötungsvorsatz .[16]

Die Grenzen der Nachvollziehbarkeit dieser an sich klug ausgehandelten Rechtsprechung scheinen allerdings in den Fällen erreicht zu sein, in denen sich dem Täter die Möglichkeit des tatbestandlichen Erfolgseinritts aufgrund einer so zwingenden Erkenntnislage derart aufgedrängt haben muss, dass es für den einzelnen Bürger schwer verständlich wird, wenn derselbe Täter später im Prozess entlastend anführen darf, er habe trotz des Wissens um die Gefährlichkeit seiner Handlung auf einen guten Ausgang vertraut, da er stets in dem Glauben war, die volle Kontrolle über sein Fahrzeug zu besitzen und ein Unfall aus seinem Blickwinkel heraus deshalb völlig fernliegend war.[17]

So wirkte auch die Argumentation der Verteidigung in dem Fall der Berliner Raser, die um die Mitternachtszeit mit mehr als 160 km/h durch die Berliner Innenstadt schossen und dabei mehrere rote Ampeln an großen Verkehrsadern missachteten, fernab der Realität konstruiert, wenn sie sich insbesondere darauf stützt, dass die beiden Fahrer ihre Fähigkeiten und die Situation derart falsch eingeschätzt hätten, dass sie die aus ihrer Raserei resultierenden und für nahezu jeden Anderen offensichtlichen Gefahren für Leib und Leben Dritter nicht erkannt, und in der Folge auch nicht gebilligt hätten. Das Berliner Landgericht ist dieser Ansicht nicht gefolgt und hat die beiden Angeklagten wegen Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt;[18] alles andere hätte der normale Bürger angesichts der besonders drastischen Umstände in diesem Fall wohl auch nicht verstanden. Zur Begründung der Annahme des bedingten Tötungsvorsatzes der beiden Täter führte das Landgericht unter anderem aus, dass die Größe und Anschaulichkeit der vom Täter wissentlich geschaffenen Lebensgefahr für das Willenselement des Vorsatzes entscheidende Bedeutung erlange. Liege demnach – wie hier – eine große und anschauliche Todesgefahr vor, so genüge das zur Begründung der Zuschreibung des dolus eventualis.[19]

Diese Herangehensweise des Gerichts erinnert stark an normative Begründungslehren zur Vorsatzfeststellung, die – ähnlich den reinen Wissenstheorien[20] – für die Abgrenzungsfrage von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit nicht auf die Rekonstruktion der psychischen Reflexion des Täters über die als möglich erkannte Tatverwirklichung abstellen wollen, sondern allein danach fragen, ob der Täter die Gefahr der Tatbestandsverwirklichung in seinem ganzen Ausmaß erkannt habe und dennoch handele.[21] Derartige Lehren reichern das Wissenselement des bedingten Vorsatzes in quantitativer und qualitativer Hinsicht derart an, dass es auf ein Willenselement gar nicht mehr ankommt. Gegenläufige Handlungsziele oder anderweitige Motivlagen des Täters werden dabei ebenso wenig berücksichtigt wie eine bestimmte emotionale Verfassung.

So verlockend eine derartige, da auf den ersten Blick frappierend einfache, stark normativierende Herangehensweise an die Vorsatzfeststellung wirkt,[22] so wenig überzeugt sie, wenn man ihre Konsequenzen für die strafgerichtliche Rechtsprechung im Einzelnen analysiert. Zunächst aber: Warum befürworten Verfechter einer starken Normativierung der Vorsatzfeststellung überhaupt die Abkehr vom voluntativen Vorsatzelement? Der Hauptvorwurf gegenüber dem vom Bundesgerichtshof in stetiger Rechtsprechung postulierten Billigungserfordernis gründet auf einer angeblichen Willkür bei der Vorsatzabgrenzung durch den Rückgriff auf die innerpsychologische Tatsache des Sich-Abfindens mit dem tatbestandlichen Erfolg.[23] Darüber hinaus könne diese Vorgehensweise auch keinen besonderen Vorteil für sich verbuchen, da das Abstellen auf voluntative Aspekte neben einem – richtigerweise weit zu verstehenden – Wissenselement keine eigenständige, für die Abgrenzungsfrage relevante Bedeutung erlange. Im Gegenteil: Indem die Rechtsprechung über den Untersuchungspunkt des billigenden Inkaufnehmens die psychische Willensreflexion des Täters mit in die Abwägungsschale für oder gegen einen bedingten Vorsatz werfe, eröffne sie den Weg in eine – meist für den Täter günstige – Auslegungs-

vielfalt, um im Einzelfall billigere Ergebnisse zulasten der Rechtssicherheit erkaufen zu können.[24]

In der Tat gibt es eine Vielzahl von Urteilen des Bundesgerichtshofs, die, obwohl sie auf teilweise nahezu identische Aspekte für die Abgrenzung abstellen, in der Vorsatzfrage zu unterschiedlichen, teils widersprüchlich anmutenden Ergebnissen kommen:[25] So hielt der 3. Strafsenat den Tötungsvorsatz bei einem Karate-Schlag gegen den Kopf eines Kleinkindes durch einen ausgebildeten Karatekämpfer für nicht feststellbar,[26] während der 1. Strafsenat in einem Fall, in dem der Täter einem Kleinkind mit der Faust ins Gesicht schlug, wodurch der Kopf des Kindes vorhersehbar gegen eine Wand prallte, davon ausging, dass die Lebensgefährlichkeit dieser Handlung den Schluss auf den Tötungsvorsatz gerade gebiete.[27] Dagegen urteile wiederum der 2. Strafsenat, dass der Tötungsvorsatz bei vier- bis fünfmaligem Schlagen des Kopfes einer Wehrlosen auf den Betonboden eher zweifelhaft sei, da der Täter 1. in Rage war und 2. als ehemaliger Boxer seine Schläge dosieren konnte.[28]

Es mag in der Tat wahrlich schwierig sein, einem rechtlich nicht vorgebildeten Dritten das logische Bewertungsschema dieser verschiedenen Urteilsergebnisse nahezubringen. Und dennoch ist es richtig, und das aus mehreren Gründen:

Zunächst würde ein von normativen Begründungsansätzen bezweckter Verzicht auf die Feststellung eines voluntativen Elementes dazu führen, dass die Vorsatzfeststellung zu einem reinen Akt der Zuschreibung degenerieren würde, der der Bedeutung des Vorsatzes als subjektivem Unrechtsmerkmal im deliktischen Tatbestandsaufbau nicht gerecht werden würde.[29] Das Sich-Abfinden mit der Tatbestandsverwirklichung ist der psychologisch individuell feststellbare Umstand, der die positive Entscheidung des Täters für die Tat in Abgrenzung zu einem rein fahrlässigen Zur-Kenntnis-Nehmen der Gefahr gerade deutlich machen kann.[30] Es ist nicht die Aufgabe strafgerichtlicher Rechtsprechung, kluge und vernünftig abgewogene Entscheidungen einseitig zu privilegieren, sondern das gerechte Urteilsmaß gerade auch an denjenigen Personen auszurichten, deren Handlungsmaximen für einen Großteil der Bevölkerung schlichtweg töricht und wenig nachvollziehbar erscheinen.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass das Strafrecht eine wichtige soziale Aufgabe wahrnimmt, indem es mit möglichst gerechten Strafen für die Stabilität und den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft sorgen soll.[31] Gerecht sind richterliche Strafaussprüche aber nur solange, wie sie auch die individuelle Lebenswirklichkeit jedes einzelnen Menschen anerkennen, und berücksichtigen, dass Menschen als von Emotionen, Wünschen und Hoffnungen angeleitete Wesen zuweilen Entscheidungen treffen, die höchst irrational, unvernünftig oder sogar widersprüchlich sind. Diese Komplexität menschlicher Entschlussfassung muss das Strafrecht gerade auf der subjektiven Ebene abbilden können, und das kann es nur unter Anknüpfung an ein irgendwie ausgestaltetes voluntatives Vorsatzelement. Die §§ 15, 16 StGB differenzieren in ihren Konsequenzen nämlich nicht zwischen einem absichtsvoll oder nur bedingt vorsätzlich handelndem Täter, sodass das Erfordernis eines willentlichen Entschlusses zur Tat gerade die entscheidende Gerechtigkeitshürde markiert, die darüber entscheidet, welche Folgen des Gesetzes im Einzelfall zur Anwendung gelangen.[32] Der Bundesgerichtshof behält sich deshalb aus Billigkeitserwägungen vor, das voluntative Element im Anschluss an eine sorgsame Gesamtschau aller zur Verfügung stehenden Indizien – wozu zweifelsohne auch die Gefährlichkeit der Handlung zählt[33] – abzulehnen, selbst wenn der Täter eine ausreichende Gefährdungskenntnis zum Tatzeitpunkt besaß.

Ließe man dagegen für die Annahme bedingten Vorsatzes die reine Kenntnis der Gefahrenlage ausreichen, griffe man durch eine Gleichsetzung von Gefährdungs- und Verletzungsvorsatz nicht nur erheblich in die Systematik des Strafgesetzbuches, das bewusst zwischen Verletzungs- und Gefährdungsdelikten unterscheidet, ein, sondern leistete auch einer Strafrechtsausdehnung Vorschub, für die kein legitimer Anlass besteht. Unverhältnismäßige Strafen, nicht zuletzt durch eine enorme Ausweitung des Anwendungsbereiches der Versuchsstrafbarkeit begründet,[34] wären die Folge. Bezogen auf den Straßenverkehr bedeutete dies beispielsweise auch, dass allgemein jede Person, die durch eine 30er Zone mit 60 km/h fährt, wegen versuchten Totschlags zu verurteilen wäre.[35]

V. Übertragung auf künftige Raser-Fälle

Dass ein solches Ergebnis unbillig ist und nicht viel mit einem moderat-rechtsstaatlichen Strafrechtsverständnis gemein hat, lässt sich anhand dieses vergleichsweise harmlosen Beispiels naturgemäß sehr viel besser demonstrieren als an einem Fall, in dem geschwindigkeitsverliebte Raser zur Steigerung ihres Selbstwertgefühls rücksichtslos und ohne irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen zu treffen durch die Berliner Innenstadt rasen und dabei einen unbeteiligten Mann töten. Es ist zuzugestehen, dass der Fall der Berliner KuʼDamm-Raser in seinen Einzelheiten und in seinem Ausmaß zu den besonders extremen und drastischen Fällen gehört, die einen Großteil der Bevölkerung gerne und schnell dazu veranlassen, von den Gerichten ein starkes Signal durch besonders harte Bestrafungen zu verlangen. Aber gerade dies sind die Fälle, die das Strafrecht durch Aufrufe zur emotionalen Beteiligung und gesellschaftlichen Steuerung im besonderen Maße herausfordern und auf seine Beständigkeit hin überprüfen.

So pfiff der Bundesgerichtshof das Landgericht Berlin in seiner Entscheidung zu den Berliner Rasern vor kurzem auch deutlich zurück, indem er das Urteil wegen rechtsfehlerhaften Feststellungen zum Zeitpunkt des Vorsatzes und wegen einer widersprüchlichen Beweiswürdigung aufhob und zur neuen Entscheidung zurückverwies.[36] Die Karlsruher Richter machten in ihrer Urteilsaufhebung deutlich, dass es für die Vorsatzfeststellung weiterhin entscheidend auf die Gesamtwürdigung tatsächlicher Indizien im Einzelfall ankommt, aus der die psychische Reflexion des Täters zum Tatzeitpunkt zu rekonstruieren und ein etwaiges Billigen des Taterfolges abzuleiten ist.[37] Für künftige Raser-Fälle spricht vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung vieles dafür, dass dem Täter ein billigendes Inkaufnehmen in der Regel nicht oder jedenfalls nur schwer nachzuweisen sein wird.[38]

VI. Fazit

So schwer erträglich dieses Ergebnis für viele Menschen sein mag, so richtig ist es für einen liberalen Rechtsstaat. Allein die Anschaulichkeit oder Größe einer erkannten Gefahr erlaubt nicht die bedingungslose Zuschreibung eines Verletzungsvorsatzes, wie es stark verobjektivierenden Tendenzen zufolge richtig wäre. Die Ablehnung solcher stark einseitig normativierenden Ansätze begründet sich allerdings nicht – und das sei am Ende festgestellt – auf einer grundsätzlichen Verfehltheit normativer Überlegungen. Denn auch der Bundesgerichtshof steuert seit Jahren die Abgrenzungsfrage zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit mitunter normativ, wenn er zur Ermittlung der Frage, ob sich ein Täter mit dem Taterfolg abgefunden hat, auf bestimmte Indizien zurückgreift, um den Vorsatz als innerpsychologischen Vorgang objektiv greifbar zu machen.[39] Diese Vorgehensweise stellt allerdings eine notwendige und damit unbedenkliche Normativierung dar, da es bislang keine andere Möglichkeit gibt, die inneren Vorgänge eines Täters zum Tatzeitpunkt gewinnbringend zu ermitteln.

Eine darüber hinausgehende Normativierung dergestalt, von der äußeren Gefährlichkeit einer Handlung ohne Weiteres auf den Vorsatz zu schließen, widerspricht dagegen den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Tatstrafrechts; denn sie würde nahelegen, dass jeder Mensch, der sehenden Auges eine bestimmte Gefahrensituation erschafft oder aufrechterhält, ausnahmslos als Vorsatztäter zu diskreditieren ist. Dabei sollte unsere Rechtsordnung gerade stolz darauf sein, sich von einem derartigen Gesinnungsstrafrecht entfernt und bewusst für ein objektiv-liberales Rechtsverständnis entschieden zu haben.


[*] Bei dem Beitrag handelt es sich um den um Fußnoten und Überschriften ergänzten Vortrag aus der mündlichen Doktorprüfung der Verfasserin vom 13.6.2018. Der Vortragsstil wurde beibehalten.

[1] Eine Chronik illegaler Autorennen, die in den letzten Jahren immer wieder zu Verletzten und/oder Toten geführt haben, ist zu finden unter https://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/illegale-autorennen-hintergrund-faq-recht-100.html, zul. abgerufen am 15.10.2018.

[2] Vgl. zum Folgenden den Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 27.5.2010, http://www.sueddeutsche.de/auto/verkehrsopfer-mit-sicherheit-am-ziel-vorbei-1.949009-3, zul. abgerufen am 15.10.2018.

[3] BGBl. 2017 I, S. 3532.

[4] Vgl. dazu aber bspw. Kusche NZV 2017, 4141; Mitsch DAR 2017, 70 (71 ff.); Neumann JA 2017, 160 (168 ff.); Preuß NZV 2017, 105 (111). Einer solchen Neuregelung allgemein kritisch gegenüberstehend Ceffinato ZRP 2016, 201; Walter NJW 1350 (1353); Zieschang JA 2016, 721 (722, 726).

[5] Der Bundesgerichtshof fordert diesen Dualismus bei der Bestimmung des dolus eventualis in stetiger Rechtsprechung seit dem sog. Lederriemen-Fall, BGHSt 7, 363 = NJW 1955, 1688. Vgl. zuletzt bspw. BGH NStZ-RR 2018, 154 (155) = HRRS 2018 Nr. 393.

[6] S. bspw. Gaede, in: Matt/Renzikowski, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 1. Aufl. 2013, § 15 Rn. 4; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 15 Rn. 81; Jakobs RW 2010, 283 ff.; Roxin JuS 1964, 54 (58 ff.). A.A. insb. Puppe GA 2006, 65 (72); dies. ZStW 103 (1991), 1.

[7] St. Rspr. BGHSt 36, 1 (9); BGHSt 21, 283 (285); BGH NJW 2011, 2895 (2896 f.) = HRRS 2011978.

[8] So auch schon zutreffend Walter NJW 2017, 1350.

[9] Zuletzt BGH NStZ-RR 2016, 79 = HRRS 2016 Nr. 256 unter Bezugnahme auf BGHSt 52, 220 = NStZ 2008 451 = HRRS 2008 Nr. 405.

[10] Instruktiv Gaede, in: Matt/Renzikowski § 15 StGB Rn. 8, 15; vgl. auch Kubiciel/Hoven NStZ 2017, 439 (440); Prittwitz GA 1994, 454 (466 f.).

[11] Zuletzt BGH NStZ-RR 2016, 79 = HRRS 2016 Nr. 256 unter Bezugnahme auf BGHSt 52, 220 = NStZ 2008 451 = HRRS 2008 Nr. 405.

[12] Dieses Bild wurde schon ausdrücklich gezeichnet von Walter NJW 2017, 1350 f.; ähnlich Jäger JA 2017, 786 (787 f.).

[13] Erneut Walter NJW 2018, 1350 (351). Vgl. dazu auch Fischer in: ZEIT ONLINE v. 7.3.2017, https://www.zeit.de/gesellschaft/2017-03/sicherheit-raser-moerder-kommissare-fischer-im-recht, zuletzt abgerufen am 15.10.2018.

[14] Mit jeweils weiteren Nachweisen Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 65. Aufl. 2018, § 15 Rn. 9a f.; Gaede, in: Matt/Renzikowski § 15 StGB Rn. 16 f.; Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 3. Aufl. 2017, Bd. 1, § 16 Rn. 55 ff.

[15] Instruktiv Gaede, in: Matt/Renzikowski § 15 StGB Rn. 17 f.

[16] Eine gute Übersicht zur diesbezüglichen Rechtsprechung enthält Fischer, § 212 Rn. 7 ff. m.w.N.

[17] Dieses Gefühl der Gesellschaft aufgreifend Kubiciel, LTO v. 28.2.2017, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/kudamm-raser-berlin-urteil-mord-211-stgb-315-stgb-kommentar/, zul. abgerufen am 15.10.2018.

[18] LG Berlin, Urt. v. 27.2.2017 – (535 Ks) 251 Js 52/16 (8/16), NStZ 2017, 471.

[19] LG Berlin, Urt. v. 27.2.2107 – (535 Ks) 251 Js 52/16 (8/16), NStZ 2017, 471 (473).

[20] Beispielhaft seien einerseits die sog. Möglichkeitstheorie, wonach vorsätzlich handelt, wer sich der konkreten Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung bewusst ist und dennoch handelt, vgl. dazu insbesondere Schmidhäuser JuS 1980, 241 ff., und andererseits die sog. Wahrscheinlichkeitstheorie, wonach vorsätzlich handelt, wer die Tatbestandsverwirklichung für wahrscheinlich hält und dennoch handelt, vgl. dazu bspw. Schumann JZ 1989, 427 (433 f.), angeführt.

[21] Allen voran spricht sich insbesondere die von Puppe begründete sog. normative Lehre von der Vorsatzgefahr gegen die Einbeziehung voluntativer Gesichtspunkte in die Abgrenzungsfrage zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit aus, Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2017, Bd. 1, § 15 Rn. 64 ff.; dies. ZStW 103 (1991), 1 ff. (17 f.). Explizit abl. BGH NStZ 2003, 369 (370).

[22] Dass insbesondere der Berliner Raser-Fall dazu verleitet, den Begriff des bedingten Vorsatzes zu objektivieren, erkannte bereits Walter NJW 2017, 1350 (1352).

[23] Vgl. für diese Ansicht v.a. Puppe, in: NK-StGB § 15 Rn. 23 ff., 32 ff., 43 f., 97 f.

[24] Erneut Puppe, in: NK-StGB § 15 Rn. 23 ff., 32 ff., 43 f., 97 f. Bezogen auf die Raser-Fälle ebenfalls in diese Richtung argumentierend Hoven/Kubiciel NStZ 2017, 439 (441).

[25] Eine detaillierte Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung der letzten Jahre hierzu ist zu finden bei Puppe, in: NK-StGB § 15 Rn. 90 ff.

[26] BGH NStZ 1988, 175.

[27] BGH NStZ 2006, 444 (445) = HRRS 2006 Nr. 34.

[28] BGH NStZ 2015, 516 (517) = HRRS 2015 Nr. 97.

[29] So schon zutreffend Gaede, in: Matt/Renzikowski § 15 StGB Rn. 23.

[30] Erneut Gaede, in: Matt/Renzikowski § 15 StGB Rn. 22.

[31] Ausführlich dazu bspw. Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 2011, § 1 Rn. 2; Radbruch, Rechtsphilosophie, Leipzig 1932, passim; Walter, Vergeltung und Strafe – Rehabilitation und Grenzen eines Prinzips, 2016.

[32] Vgl. dazu Walter NJW 2017, 1350 (1352). Grundlegend Weigend ZStW 93 (1981), 675 (660, 687).

[33] Vgl. zuletzt BGH NStZ 2017, 22 (23) = HRRS 2016 Nr. 604; NStZ 2017, 25 = HRRS 2016 Nr. 1020. Auf Ausführungen zu dem sog. Hemmschwellengedanken der Rechtsprechung wurde an dieser Stelle bewusst verzichtet, da er als Ausprägung des richterlichen Beweiswürdigungsgebots lediglich einen weiteren Appell an die Tatgerichte darstellt, insbesondere bei Tötungsdelikten eine sorgsame Gesamtschau aller zur Verfügung stehenden Indizien bei der Vorsatzfrage vorzunehmen, s. dazu BGH NStZ 2010, 571 f. = HRRS 2010 Nr. 174; BGH NStZ-RR 2001, 369; BGH NStZ-RR 2007, 304 f. = HRRS 2007 Nr. 763.

[34] Zu diesem "Versuchsdilemma" Walter NJW 2017, 1350 (1352); vgl. auch Gaede, in: Matt/Renzikowski § 15 StGB Rn. 23; Jäger JA 2017, 786 (788). Für die Schweiz Godenzi/Bächli-Biétry in: Schaffhauser, Jahrbuch zum Straßenverkehrsrecht 2009, 561 (613 f.). Dagegen Kubiciel/Hoven NStZ 2017, 439 (442).

[35] Beispiel entnommen bei Fischer in: ZEIT ONLINE v. 7.3.2017, https://www.zeit.de/gesellschaft/2017-03/sicherheit-raser-moerder-kommissare-fischer-im-recht, zul. abgerufen am 15.10.2018.

[36] BGH NStZ 2018, 1621 (1622 f.) = HRRS 2018 Nr. 289. Das Urteil in seinen wesentlichen Zügen darstellend und analysierend Eisele JuS 2018, 492.

[37] Diese Herangehensweise schon vor dem Urteil befürwortend Jäger JA 2017, 786 (787).

[38] Im Ergebnis mit der gleichen Konklusion Jäger JA 2017, 786 (788).

[39] Gaede in: Matt/Renzikowski § 15 StGB Rn. 8; ähnlich Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder § 15 Rn. 87b. Vgl. auch Prittwitz GA 1994, 454 (466 f.). Vgl. auch Kubiciel/Hoven NStZ 2017, 439 (440).