HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2011
12. Jahrgang
PDF-Download

IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

915. BGH 2 StR 590/10 – Urteil vom 11. Mai 2011 (LG Frankfurt am Main)

BGHSt; Verhältnis zwischen dem Verständigungsgesetz und den allgemeinen Hinweispflichten nach der StPO (Beruhen; Hinweis auf den Wechsel der Beteiligungsform; rechtliches Gehör; Recht auf ein faires Strafverfahren); Pflicht zur Offenlegung von Ermittlungen des erkennenden Gerichts.

§ 257c StPO; § 265 StPO; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK

1. Die mit dem Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2353) eingeführte Vorschrift des § 257c StPO und die sich aus einer danach getroffenen Verständigung ergebenden Bindungen des Gerichts haben nicht die Kraft, die Hinweispflichten des § 265 StPO zu relativeren oder gar zu verdrängen. (BGHSt)

2. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gilt auch für den Angeklagten uneingeschränkt, der einem Verständigungsvorschlag des Gerichts zugestimmt hat. Von der sich aus § 265 StPO ergebenden Pflichten ist das Gericht auch dann nicht enthoben, wenn es sich auch unter geänderten Bedingungen von seiner Strafrahmenzusage nicht lösen will. (Bearbeiter)

3. Ein Urteil beruht auf einem Rechtsfehler, wenn es möglich erscheint oder jedenfalls nicht auszuschließen ist, dass es ohne ihn anders ausgefallen wäre. An einem Beruhen fehlt es nur, wenn die Möglichkeit, dass der Verstoß das Urteil beeinflusst hat, ausgeschlossen oder nur theoretischer Natur ist (BGHSt 14, 265, 268; 22, 278, 280). Die Bewertung des Beruhens hängt, gerade bei Verfahrensverstößen, stark von den Umständen des Einzelfalls ab (BGH StV 2011, 76, 77). Zur Annahme des Beruhens bei einem unterlassenen Hinweis zur möglichen Annahme mittäterschaftlicher Tatbeteiligung (vgl. BGHR StPO § 265 Abs. 1, Hinweispflicht 5). (Bearbeiter)

4. Dem Tatgericht, das während, aber außerhalb der Hauptverhandlung verfahrensbezogene Ermittlungen anstellt, erwächst aus dem Gebot der Verfahrensfairness (Art. 6 EMRK, § 147 StPO) grundsätzlich die Pflicht, dem Angeklagten und der Verteidigung durch eine entsprechende Unterrichtung Gelegenheit zu geben, sich Kenntnis von den Ergebnissen dieser Ermittlungen zu verschaffen (BGHSt 36, 305, 308; BGHR StPO vor § 1/faires Verfahren, Hinweispflicht 5). (Bearbeiter)


Entscheidung

776. BGH 3 StR 485/10 – Beschluss vom 28. Juni 2011 (LG Oldenburg)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Anbau; Tateinheit; Tatmehrheit; Zusammentreffen in einem Handlungsteil); bewaffnetes Handeltreiben; halbautomatische Schusswaffe (Revolver); letztes Wort; Protokollberichtigung; Rügeverkümmerung; redaktioneller Hinweis.

§ 29a BtMG; § 52 StGB; § 53 StGB; § 30a BtMG; § 258 StPO; § 52 WaffG; § 274 StPO

1. Dem Revisionsgericht ist es grundsätzlich verwehrt, den tatgerichtlichen Verfahrensablauf anhand dienstlicher Erklärungen im Wege des Freibeweises darauf zu überprüfen, ob die für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten beobachtet worden sind. Denn diese können nach § 274 Satz 1 StPO allein durch das Protokoll bewiesen werden; als Gegenbeweis lässt § 274 Satz 2 StPO nur den Nachweis der Fälschung zu.

2. Dies gilt insbesondere angesichts der Möglichkeit, auch noch nach Erhebung einer ordnungsgemäßen Verfahrensrüge das Protokoll zu berichtigen, selbst wenn der Rüge dadurch die Tatsachengrundlage entzogen wird. Denn gegenüber einem den Maßstäben des Großen Senats (Beschluss vom 23. April 2007 – GSSt 1/06, BGHSt 51, 298, Rn. 61 ff.) genügenden förmlichen Berichtigungsverfahren bietet das Freibeweisverfahren nur geringere verfahrensrechtliche Sicherungen für die Ermittlung des wahren Sachverhalts.

3. Will der Angeklagte einer nachträglichen Berichtigung des Protokolls widersprechen, so hat er substantiiert darzulegen, aus welchen Gründen er sich im Gegensatz zu den Urkundspersonen der Richtigkeit des zunächst gefertigten Protokolls sicher ist. Hierzu muss er den ihm erinnerlichen Verfahrensablauf näher schildern und sich auch dazu erklären, auf welchen tatsächlichen Vorgängen die von ihm für richtig gehaltene ursprüngliche Fassung des Sitzungsprotokolls beruht.

4. Der Senat hat keine grundsätzlichen Bedenken dagegen, dass das Tatgericht ein zunächst seinerseits verfahrensfehlerhaftes Protokollberichtigungsverfahren solange (hier: dreifach) durchführt, bis die Rügeverkümmerung entsprechend den Vorgeben des Großen Senats für Strafsachen erreicht ist.

5. Gesonderte Anbauvorgänge, die auf gewinnbringende Veräußerung der dadurch erzeugten Betäubungsmittel abzielen, sind grundsätzlich als für sich selbständige, zueinander in Tatmehrheit stehende Taten des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu bewerten.

6. Werden die Erträge aus mehreren einzelnen Anbauvorgängen in einem einheitlichen Umsatzgeschäft veräußert, so führt dies führt jedenfalls zu einer Teilidentität der jeweiligen tatbestandlichen Ausführungshandlungen und verknüpft so die einzelnen Fälle des Handeltreibens zur Tateinheit.

7. Sammelt der Täter mehrere Betäubungsmittel-Ernten zu einem Gesamtvorrat an, bevor er mit dem Verkauf beginnt, so verbindet dies alle hierauf bezogenen Einzelakte des Handeltreibens zu einer Bewertungseinheit mit der Folge einer materiellrechtlich einheitlichen, auch alle zu Grunde liegenden Anbauvorgänge umfassenden Tat.

8. Bewaffnetes Handeltreiben nach § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG setzt voraus, dass der Täter die Schusswaffe oder den Gegenstand bewusst gebrauchsbereit in der Weise bei sich hat, dass er sich ihrer jederzeit bedienen kann. In subjektiver Hinsicht ist das aktuelle Bewusstsein des Bewaffnetseins ausreichend, aber auch erforderlich.


Entscheidung

913. BGH 2 StR 585/10 – Beschluss vom 25. Mai 2011 (LG Mainz)

Anforderungen an den Sachverständigenbeweis bei der Schuldfähigkeitsbegutachtung (höchstpersönliche Exploration; Beweiswürdigung bei Sachverständigengutachten); Meistbegünstigungsgrundsatz bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung (neuer Deliktsgruppenkatalog).

§ 78 StPO; § 21 StGB; § 20 StGB; § 66 StGB; § 2 Abs. 6 StGB; Art. 316e Abs. 2 EGStGB

1. Das Gutachten eines psychiatrischen Sachverständigen muss – jedenfalls soweit dies überhaupt möglich ist (vgl. BGHSt 44, 26, 32) – eine Exploration des Probanden durch den Sachverständigen einschließen. Dabei handelt es sich um die zentrale Untersuchungsmethode. Deren Ergebnisse kann der gerichtliche Sachverständige nur dann eigenverantwortlich bewerten, wenn er sie selbst durchgeführt oder zumindest insgesamt daran teilgenommen hat. Dies gilt erst recht, wenn bei der Exploration auch Mimik und Gestik des Probanden aufgefasst werden. Eine Delegation der Durchführung dieser Untersuchung an eine Hilfsperson scheidet daher aus. Die Anwesenheit des Sachverständigen in der Hauptverhandlung vermag die eigene Exploration nicht zu ersetzen.

2. Es ist nicht unbedenklich, wenn die unter anderem mit der Schuldfähigkeitsbegutachtung beauftragte psychiatrische Sachverständige die Durchführung einer Exploration des Angeklagten „einer erfahrenen Hilfskraft mit der Qualifikation einer Diplom-Psychologin übertragen“ hat. Ein gerichtlich bestellter Sachverständiger hat die Pflicht zur persönlichen Gutachtenerstattung. Es besteht daher ein Delegationsverbot, soweit durch Heranziehung anderer Personen die Verantwortung des Sachverständigen für das Gutachten in Frage gestellt wird.

3. Es genügt nicht, wenn eine Strafkammer betont, sie habe „die sachverständigen Ausführungen im Rahmen ihrer Erkenntnismöglichkeiten auf Widersprüche und Verstöße gegen wissenschaftliche Denkgesetze geprüft und solche nicht gefunden“. Der Tatrichter hat das Gutachten anstatt dessen eigenverantwortlich zu bewerten (vgl. BGHSt 7, 238, 239) und „weiterzuverarbeiten“. Er muss sich selbst sachkundig machen. Damit ist die Beschränkung auf eine Rechtskontrolle unvereinbar.

4. Der Katalog der Straftaten, deren Begehung zur Anordnung oder zum Vorbehalt dieser Maßregel der Besserung und Sicherung führen kann, ist durch das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 mit Wirkung vom 1. Januar 2011 neu gefasst worden. Zu diesem gehört das unerlaubte Handeltreiben mit Betäubungsmitteln nicht, soweit die Tat nicht im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist (§ 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. b, Abs. 2 und 3 Satz 1 StGB). Gemäß Art. 316e Abs. 2 EGStGB ist das neue Gesetz für vor seinem Inkrafttreten begangene und noch nicht rechtskräftig abgeurteilte Taten maßgeblich, wenn es gegenüber der bisherigen Rechtslage milder ist.


Entscheidung

975. BGH 4 StR 643/10 – Beschluss vom 7. Juni 2011 (LG Hamburg)

Rechtsfolgen der mangelnden Belehrung über die konsularischen Rechte (Beruhen; Kompensation durch ein Beweisverwertungsverbot oder durch eine Anwendung der Vollstreckungslösung; Recht auf Beschwerde: Abhilfeanspruch); Recht auf ein faires Verfahren (Wider-

spruchslösung; völkerrechtsfreundliche Auslegung).

Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK; Art. 6 EMRK; Art. 13 EMRK; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 114b Abs. 2 Satz 3 StPO

1. Das Fehlen der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK führt nicht zu einem Verwertungsverbot, wenn dem Angeklagten hierdurch in seinem weiteren Verfahren kein Nachteil erwachsen ist.

2. Allerdings ist die Entstehung eines Beweisverwertungsverbotes aus einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nicht von vornherein ausgeschlossen (BVerfG NJW 2011, 207, 209 f.). Nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs im Fall „Avena“ ist vielmehr im Einzelfall zu untersuchen, ob dem Betroffenen aus dem Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK im weiteren Verfahrensverlauf tatsächlich ein Nachteil entstanden ist. Dieser Rechtsprechung ist – was im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung möglich ist – dadurch Rechnung zu tragen, dass die vom Bundesgerichtshof für nicht speziell geregelte Beweisverwertungsverbote entwickelte Abwägungslehre zur Anwendung gebracht wird. Es hat eine Abwägung zwischen dem durch den Verfahrensverstoß bewirkten Eingriff in die Rechtsstellung des Beschuldigten einerseits und den Strafverfolgungsinteressen des Staates andererseits stattzufinden, wobei auf den Schutzzweck der verletzten Norm ebenso abzustellen ist wie auf die Umstände, Hintergründe und Auswirkungen der Rechtsverletzung im Einzelfall.

3. Der Geltendmachung des Verstoßes gegen die Belehrungspflicht des Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK steht nicht entgegen, dass der Angeklagte keinen spezifisch auf die Verletzung des Art. 36 WÜK abstellenden Widerspruch erhoben, sondern der Verwertung seiner Angaben in der Beschuldigtenvernehmung vom 1. November 2001 durch zeugenschaftliche Vernehmung der Verhörspersonen mit Blick auf die nicht durchgreifende Beanstandung eines Verstoßes gegen §§ 136, 137 StPO widersprochen hat. Dies gilt jedenfalls dann, wenn eine Belehrung zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt war.

4. Zweck der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK ist die Verwirklichung des Rechts des Betroffenen auf konsularische Unterstützung bei der effektiven Wahrnehmung der eigenen Verteidigungsrechte. Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK schützt dabei nicht speziell die Aussagefreiheit des Beschuldigten, sondern allgemein das Recht auf effektive Verteidigung.

5. Eine Kompensation des Verstoßes gegen die Pflicht zur Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nach der sog. „Vollstreckungslösung“ kommt nach Ansicht des Senats nicht in Betracht. Das Verbot der reformatio in peius hindert den Senat nicht, eine Kompensation für den Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nunmehr zu versagen. Es verhindert lediglich eine dem Angeklagten nachteilige Änderung in Art und Höhe der Rechtsfolgen, nicht jedoch eine Änderung der diesen zugrunde liegenden rechtlichen Beurteilung.

6. Eine Kompensation nach der „Vollstreckungslösung“ ist für eine – von Amts wegen zu beachtende – der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerung nach Erlass des tatrichterlichen Urteils zu gewähren, wenn eine Revisionsentscheidung abermals trotz der vorherigen spezifischen Fehlerrüge durch das Bundesverfassungsgericht aus dem im Kern identischen Grund aufgehoben werden muss. Die dadurch eingetretene Verzögerung des Verfahrens, die sich über das neuerliche Verfassungsbeschwerdeverfahren und das nach Aufhebung und Zurückverweisung erforderliche weitere Revisionsverfahren vor dem Senat erstreckt, begründet einen Kompensationsanspruch aus Art. 13 EMRK. Im Übrigen lässt der Senat offen, ob und inwieweit grundsätzlich die Dauer des Rechtsmittelverfahrens sowie die Dauer eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens bei der Bestimmung der für die Beurteilung einer Verzögerung maßgeblichen Verfahrensdauer mit einzubeziehen sind.

7. Eine neben die Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung tretende Berücksichtigung der seit Tatbegehung vergangenen Zeit bei der Strafzumessung und infolge dessen die Aufhebung des Strafausspruchs ist nicht stets geboten.

8. Soweit der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in der durch ein Anfrage- und Vorlageverfahren nach § 132 GVG bestimmten, nicht rechtsstaatswidrig verzögerten Dauer des Revisionsverfahrens einen bestimmenden Strafzumessungsgrund erblickt und die vom Tatrichter rechtsfehlerfrei bemessenen Einzelstrafen wie auch die Gesamtstrafe aufgehoben hat, ist darin eine im Hinblick auf § 337 StPO nicht unbedenkliche Rechtsauffassung zu erblicken.

9. Das Wiener Konsularrechtsübereinkommen, dem die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei beigetreten sind, steht in der deutschen Rechtsordnung im Range eines Bundesgesetzes, das deutsche Behörden und Gerichte wie anderes Gesetzesrecht im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben (BVerfG NJW 2007, 499, 501; vgl. auch BGH NStZ 2010, 567). Nach dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes haben deutsche Gerichte dabei auch die Judikate der für Deutschland zuständigen internationalen Gerichte zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen (BVerfG NJW 2007, 499, 501). Sie haben – ungeachtet ihrer auf den Einzelfall beschränkten Bindungswirkung – normative Leitfunktion (BVerfG NJW 2007, 499, 502).


Entscheidung

827. BGH StB 8/11 – Beschluss vom 30. Juni 2011 (OLG Stuttgart)

RAF; Auskunftsverweigerungsrecht; Selbstbelastungsfreiheit; konkrete Gefahr einer weiteren Strafverfolgung; Strafklageverbrauch (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung); ne bis in idem; „Offensive 77“; Verena Becker; Siegfried Haag; Roland Mayer; Baustein einer mosaikartigen Beweiswürdigung; Beugehaft; Ordnungsgeld; Ordnungshaft.

§ 70 StPO; § 55 StPO; § 129a StGB; Art. 103 Abs. 3 GG

1. Die Gefahr einer Strafverfolgung im Sinne des § 55 StPO setzt voraus, dass der Zeuge Tatsachen bekunden müsste, die – nach der Beurteilung durch das Gericht – geeignet sind, unmittelbar oder mittelbar den Anfangs-

verdacht einer von ihm selbst oder von einem Angehörigen (§ 52 Abs. 1 StPO) begangenen Straftat zu begründen oder einen bereits bestehenden Verdacht zu bestärken. Bloße Vermutungen ohne Tatsachengrundlage oder rein denktheoretische Möglichkeiten reichen für die Annahme einer Verfolgungsgefahr nicht aus.

2. Eine das Recht zur Auskunftsverweigerung begründende Verfolgungsgefahr im Sinne des § 55 Abs. 1 StPO besteht grundsätzlich nicht mehr, wenn gegen den Zeugen hinsichtlich der Tat, deren Begehung er sich durch wahrheitsgemäße Beantwortung der Frage verdächtig machen könnte, bereits ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, die Strafklage daher verbraucht ist und deswegen zweifelsfrei ausgeschlossen ist, dass er für diese noch verfolgt, das heißt ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden könnte. Zweifelsfrei ausgeschlossen ist die konkrete Gefahr der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens in diesen Fällen allerdings nur dann, wenn zum Zeitpunkt der Vernehmung endgültig feststeht, dass wegen der Verfolgung der möglichen Straftat Strafklageverbrauch eingetreten ist.

3. Wenn und solange die Frage des Strafklageverbrauchs mit vertretbarer Argumentation auch verneint werden kann, steht dem Zeugen ein Auskunftsverweigerungsrecht zu.

4. Hinsichtlich des Strafklageverbrauchs gelten im Bereich der Organisationsdelikte die Besonderheiten, dass im Vergleich zu §§ 129, 129a, 129b StGB schwerere Straftaten, die mit der mitgliedschaftlichen Beteiligung an der Vereinigung in Tateinheit stehen, dann nicht von der Rechtskraft eines allein wegen dieser Beteiligung ergangenen Urteils erfasst, wenn sie in dem früheren Verfahren tatsächlich nicht – auch nicht als mitgliedschaftlicher Beteiligungsakt – Gegenstand der Anklage und der Urteilsfindung waren. Unter dieser Voraussetzung ist daher ein wegen eines Organisationsdelikts Verurteilter durch die Rechtskraft des früheren Urteils nur vor weiterer Strafverfolgung wegen dieses Delikts und tateinheitlich mit diesem zusammentreffender weiterer, nicht schwerer wiegender Straftaten geschützt.


Entscheidung

861. BGH 1 StR 274/11 – Beschluss vom 12. Juli 2011 (LG Hildesheim)

Informelle, verfahrensverkürzende Verständigung; Beweiswürdigung bei der Steuerhinterziehung (Scheingeschäfte; Betriebsausgaben; Vorsteuer); Strafzumessung bei der Steuerhinterziehung (Verkürzung auf Zeit).

§ 202a StPO; § 257c StPO; § 370 AO; § 41 Abs. 2 AO; § 261 StPO

„Informelle Verständigungen“ widersprechen der Strafprozessordnung. Zwar ist es zulässig, auch schon vor Eröffnung des Hauptverfahrens Erörterungen zur Vorbereitung einer Verständigung zu führen. Solche Gespräche können – bei gründlicher Vorbereitung auf der Basis der Anklageschrift und des gesamten Akteninhalts – im Einzelfall sinnvoll sein. Sie lösen aber weder eine Bindung des Gerichts an dabei in Aussicht gestellte Strafober- oder -untergrenzen aus, noch kann durch sie ein durch den fair-trial-Grundsatz geschützter Vertrauenstatbestand entstehen. Die Annahme einer solchen Bindung ist rechtsfehlerhaft und könnte unter Umständen sogar den Bestand eines Urteils gefährden.


Entscheidung

942. BGH 4 StR 173/11 – Beschluss vom 26. Mai 2011 (LG Aachen)

Inhalt des erstatteten Gutachtens (Mündlichkeitsprinzip; Unmittelbarkeitsprinzip; Rekonstruktionsverbot); fehlerhafte Prüfung eines minderschweren Falles (Strafzumessung; Totschlag; Strafrahmenvergleich).

§ 250 StPO; § 261 StPO; § 78 StPO; § 46 StGB; § 213 StGB; § 49 StGB

Aus den Grundsätzen der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit sowie der Notwendigkeit, gegebenenfalls auch erst in der Hauptverhandlung angefallene Erkenntnisse in das Gutachten einzubeziehen, folgt, dass allein der Inhalt des in der Hauptverhandlung erstatteten Gutachtens für die Entscheidungsfindung maßgebend ist. Nur hierauf kann das Urteil beruhen (BGH NStZ 2008, 418 mwN). Den Inhalt des in der Hauptverhandlung erstatteten Gutachtens kann das Revisionsgericht aber, wenn er von dessen Wiedergabe im Urteil abweichen soll, nur durch eine in der Revision nicht zulässige Rekonstruktion der Hauptverhandlung feststellen. Hieran ändert auch die Mitteilung der „Zusammenfassung der mündlichen Gutachten-Erstattung“ in der Revisionsbegründungsschrift nichts.


Entscheidung

826. BGH 5 StR 594/10 – Beschluss vom 10. Februar 2011 (LG Berlin)

Urteilsgründe (Verständigung; Ansprache; Deal; Geständnis).

§ 257c StPO; § 267 Abs. 3 StPO

Auch ein im Zuge einer Verständigung abgegebenes Geständnis (§ 257c Abs. 2 Satz 2 StPO) entbindet das Tatgericht nicht von der Pflicht zu einer geschlossenen Darstellung des in der Hauptverhandlung festgestellten Tatgeschehens.


Entscheidung

756. BGH 3 StR 97/11 – Beschluss vom 31. Mai 2011 (LG Duisburg)

Kompensationslösung (keine Anwendung auf andere Verfahrensmängel); Relativierung des Prozessrechts; Recht auf Beschwerde.

§ 51 StGB; Art. 13 EMRK; Art. 34 EMRK

1. Die Anwendung der Grundsätze, die nach der neueren Rechtsprechung bei der Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen gelten, ist grundsätzlich nicht auf Mängel des Verfahrens auszudehnen (hier: verspätete Mitteilung von neuen Ermittlungsergebnissen), bei denen sie nicht durch entsprechende völkervertrags- oder verfassungsrechtliche Vorgaben geboten ist.

2. Die Folgen, die Verstöße gegen das Verfahrensrecht nach sich ziehen können, sind grundsätzlich in der Strafprozessordnung abschließend geregelt. Dem Staat ist es insbesondere verwehrt, dem Angeklagten Verfahrensverstöße, die sich auf das Urteil ausgewirkt haben, durch einen Vollstreckungsrabatt „abzuhandeln“, da dies auf die Dauer zu einer nicht hinnehmbaren Relativierung des Verfahrensrechts führen würde.


Entscheidung

769. BGH 3 StR 277/10 – Beschluss vom 3. Mai 2011 (KG Berlin)

Militante gruppe (mg); Aufklärungspflicht (tatsächliche Grundlagen eines Beweiserhebungsverbots; tatsächliche Grundlagen eines Beweisverwertungsverbots); Freibeweisverfahren; Strengbeweisverfahren; Beruhen.

§ 244 StPO; § 337 StPO

1. Beweiserhebungen, welche die Feststellung von allein verfahrensrechtlich erheblichen Tatsachen betreffen, richten sich nach den Grundsätzen des Freibeweises. Dies gilt auch dann, wenn die festzustellenden Tatsachen unmittelbar die Urteilsgrundlagen beeinflussen, wie dies bei den tatsächlichen Voraussetzungen von Beweiserhebungs- oder Beweisverwertungsverboten der Fall ist.

2. (Hilfs-)beweisanträge zu freibeweislich aufzuklärenden Tatsachen sind vor diesem Hintergrund lediglich als Anregung anzusehen, die der Tatrichter nicht entsprechend den für Beweisanträge im eigentlichen Sinne geltenden Vorschriften bescheiden muss.

3. Die Grundsätze des Freibeweises ändern jedoch nichts an der Aufklärungspflicht des Gerichts nach § 244 Abs. 2 StPO.


Entscheidung

850. BGH 1 StR 208/11 – Beschluss vom 17. Mai 2011 (LG München I)

Unüberwachte Telefongespräche mit dem Verteidiger in der Untersuchungshaftanstalt (freier Verkehr mit dem Verteidiger).

Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK; § 148 StPO

1. Die Gestattung regelmäßiger unüberwachter Telefonate eines inhaftierten Beschuldigten mit seinem Verteidiger, welcher seine Kanzlei nicht am Ort oder im näheren Umkreis der Justizvollzugsanstalt hat, darf nicht davon abhängig gemacht werden, ob ein entsprechender Raum in der Justizvollzugsanstalt vorhanden ist, weil nach Auffassung der Vollzugsanstalt ansonsten „ein Dienstzimmer so hergerichtet werden müsste, dass der Inhaftierte keine Einsicht in dienstliche Vorgänge nehmen kann“.

2. Auch die Frage, ob der Gefangene das Telefonat mit einem Verteidiger dazu nutzen könnte, Kontakt mit Dritten aufzunehmen, kann letztlich durch die Justizvollzugsanstalt nicht dahingehend beantwortet werden, deswegen überhaupt keine unüberwachten Telefonate zuzulassen. Eine solche Entscheidung obliegt allenfalls dem zuständigen Gericht, welches aber die Grundsätze des § 148 Abs. 1 StPO zu beachten hat. Um offensichtliche Missbräuche auszuschließen, kann sich die Vollzugsanstalt bei Beginn des Telefonats vom Verteidiger beispielsweise versichern lassen, dass er allein das Telefonat führen und keine weitere Person während des Gesprächs zugegen sein wird.


Entscheidung

887. BGH 2 StR 124/11 – Urteil vom 6. Juli 2011 (LG Trier)

Antrag auf Vernehmung eines sachverständigen, präsenten Zeugen (Umdeutung in einen Antrag auf Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens; eigene Sachkunde; rechtliches Gehör; faires Verfahren).

§ 244 Abs. 3, Abs. 4 StPO; § 245 Abs. 2 StPO

1. Ein Beweisantrag kann – auch bei präsenten Beweismitteln – wegen völliger Ungeeignetheit abgelehnt werden, wenn das Gericht ohne jede Rücksicht auf das bisherige Beweisergebnis ausschließen kann, dass sich mit dem angebotenen Beweismittel das in Aussicht gestellte Ergebnis erzielen lässt. Ein geminderter, geringer oder zweifelhafter Beweiswert reicht dagegen nicht aus. Ein Sachverständiger ist als Beweismittel völlig ungeeignet, wenn das Gutachten zu keinem verwertbaren Ergebnis führen kann, so z.B. wenn die für das Gutachten notwendigen tatsächlichen Grundlagen nicht gegeben sind und auch nicht beschafft werden können (BGH NStZ 2003, 611). Keine völlige Ungeeignetheit liegt vor, wenn nur wenige Anknüpfungstatsachen vorliegen (BGH StV 07, 513).

2. Ein aussagepsychologischer Sachverständiger ist nicht schon deshalb ein völlig ungeeignetes Beweismittel im Sinne von § 245 Abs. 2 StPO, weil er während der Vernehmung des betreffenden Zeugen in der Hauptverhandlung nicht anwesend war. Dass die Sachverständigen sich keinen unmittelbaren eigenen Eindruck von der Aussage der Zeugin machen konnten, ist erforderlichenfalls bei der Würdigung ihres Gutachtens in Rechnung zu stellen, macht sie entgegen der Auffassung des Landgerichts aber nicht zu Beweismitteln ohne jeden Beweiswert. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Sachverständigen unabhängig von der unmittelbaren Wahrnehmung der Vernehmung in der Hauptverhandlung eine hinreichende tatsächliche Grundlage für die aussagepsychologische Begutachtung der Zeugin hatten.

3. Der Katalog des § 245 Abs. 2 StPO fasst die sachlichen Ablehnungsgründe bei präsenten Beweismitteln bewusst enger. Er lässt die Ablehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung eines Sachverständigen wegen eigener Sachkunde nicht zu (BGH NStZ 1994, 400).


Entscheidung

871. BGH 1 StR 490/10 – Beschluss vom 6. Juni 2011 (BGH)

Unzulässige und unbegründete Anhörungsrüge; rechtliches Gehör; Recht auf ein faires Strafverfahren.

Art. 6 EMRK; Art. 103 Abs. 1 GG; § 356a StPO

§ 356a Satz 1 StPO setzt voraus, dass das Revisionsgericht den Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Dies ist nicht der Fall, wenn ein Verteidigerschriftsatz dem Revisionsgericht zwar nicht zur Entscheidung vorgelegen hat, seine Inhalte jedoch in der Sache zu keiner anderen Entscheidung geführt hätten.


Entscheidung

922. BGH 4 StR 111/11 – Beschluss vom 8. Juni 2011 (LG Bielefeld)

Beratung nach Wiedereintritt in die Verhandlung (Darlegungsvoraussetzungen an die Verfahrensrüge); Erörterung der Strafaussetzung zur Bewährung im Urteil.

§ 260 Abs. 1 StPO; § 265 StPO; § 337 StPO; § 56 Abs. 2 StGB

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darf die erneute Beratung nach Wiedereintritt in die Verhandlung in Form einer kurzen, für alle Verfahrensbeteiligten erkennbaren Verständigung des Gerichts im Sitzungssaal erfolgen, wenn bei der Entscheidung einfacher Fragen rascheste Verständigung möglich ist (vgl. BGHSt 24, 170, 171; BGHR StPO § 260 Abs. 1 Beratung 5; BGH NStZ-RR 1998, 142). Soll eine mangelnde Nachberatung gerügt werden, muss die Revision vortragen, dass eine solche Nachberatung durch Verständigung im Sitzungssaal unterblieben ist. Fehler des Protokolls vermögen die Revision nicht zu begründen.

2. Unabhängig von der verfahrensrechtlichen Vorschrift des § 267 Abs. 3 Satz 4 StPO sind aus materiell-rechtlichen Gründen Ausführungen im Urteil zur Strafaussetzung zur Bewährung erforderlich, wenn eine Erörterung dieser Frage als Grundlage für die revisionsgerichtliche Nachprüfung geboten ist.


Entscheidung

930. BGH 4 StR 126/11 – Beschluss vom 25. Mai 2011 (LG Magdeburg)

Reichweite der Nebenklagebefugnis (Tat im prozessualen Sinne); Anstiftung zum Mord; Strafvereitelung.

§ 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO; § 264 StPO; § 258 StGB; § 26 StGB; § 211 StGB

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs besteht die Befugnis zum Anschluss als Nebenkläger, wenn nach Sachlage die Verurteilung des Angeklagten wegen einer Nebenklagestraftat rechtlich möglich erscheint, also nach dem von der Anklage erfassten Sachverhalt (§ 264 StPO) die Verurteilung wegen eines solchen Delikts materiellrechtlich in Betracht kommt (BGH NStZ-RR 2008, 352, 353).

2. Zu den Grenzen der Annahme einer identischen Tat beim Vorwurf der versuchten Strafvereitelung und der vorgeblichen vorherigen Anstiftung zum Mord.


Entscheidung

972. BGH 4 StR 316/11 – Beschluss vom 27. Juli 2011 (LG Essen)

Verstoß gegen das Vereidigungsverbot des bestehenden Tatverdachts (Beruhen).

§ 60 Nr. 2 StPO; § 337 StPO

1. Dem Vereidigungsverbot des § 60 Nr. 2 StPO liegt ein weiter Beteiligungsbegriff zugrunde.

2. Das Beruhen des Schuldspruchs auf der Aussage eines zu Unrecht vereidigten Zeugen kann nicht ausgeschlossen werden, wenn die Strafkammer ihre Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten in allen der Verurteilung zu Grunde liegenden Fällen auch auf die Angaben der Zeugin gestützt und dabei ausdrücklich auf die Vereidigung der Zeugin abgestellt und ihrer Aussage mit Blick auf den geleisteten Eid ein „besonderes Gewicht“ beigemessen hat.


Entscheidung

748. BGH 3 StR 95/11 – Beschluss vom 8. Juni 2011 (LG Verden)

Serienstraftaten (Teilfreispruch); Verfall (entgegenstehende Ansprüche Geschädigter); Urteilsabsetzungsfrist; Ersetzung der Unterschrift eines mitwirkenden Richters (Verhinderung; Einschätzungsspielraum; organisatorische Vorkehrungen).

§ 260 StPO; § 73 StGB; § 73a StGB; § 73d StGB; § 823 BGB; § 826 BGB; § 111i StPO; § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 338 Nr. 7 StPO

1. Bei der Beurteilung, ob ein Richter aus tatsächlichen Gründen daran gehindert ist, das Urteil zu unterschreiben, steht dem Vorsitzenden ein Beurteilungsspielraum zu.

2. Revisionsgerichtlicher Beanstandung unterliegt die Entscheidung des Vorsitzenden, wonach ein an der Entscheidung mitwirkender Richter an der Unterschrift gehindert sei, nur dann, wenn sie auf sachfremden Erwägungen beruht oder den eingeräumten Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschreitet, so dass sie objektiv willkürlich erscheint.

3. Ist der in einem Verhinderungsvermerk angegebene Umstand generell geeignet, den Richter von der Unterschrift abzuhalten, wird im Rechtsmittelzug grundsätzlich von vorneherein nicht mehr geprüft, ob er im Einzelfall vorgelegen und ob er tatsächlich zu einer Verhinderung geführt hat.

4. Der Vorsitzende ist im Falle – zulässiger – Ausschöpfung der Frist des § 275 Abs. 1 StPO verpflichtet, rechtzeitig organisatorische Maßnahmen zu ergreifen, welche die Unterzeichnung des Urteils durch den Beisitzer sicherstellen.

5. Der Vorsitzende muss bei der Planung der einzuholenden Unterschriften aller mitwirkenden Richter nicht damit rechnen, dass an einem einige Tage vor Ende der Urteilabsetzungsfrist abzugebenden Urteilsentwurf des Berichterstatters noch umfangreiche Änderungen vorzunehmen sein werden.


Entscheidung

780. BGH 5 StR 32/11 – Beschluss vom 21. Juli 2011 (LG Hamburg)

Beweiswürdigung (Glaubhaftigkeit der einen Mitangeklagten belastenden Einlassung; Realkennzeichen; Widerspruchsfreiheit; besonders sorgfältige Würdigung).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 3 StPO

1. Eine sich maßgeblich an Realitätskriterien orientierende Glaubhaftigkeitsbetrachtung einer geständigen Einlassung zum Nachteil eines Mitangeklagten ist rechtlich bedenklich. Denn ein (wahrheitsgemäß) geständiger Angeklagter bekundet naturgemäß selbst erlebtes Tatgeschehen. Allein hieraus ergeben sich daher für die Mitwirkung gerade eines bestimmten Mittäters regelmäßig keine wesentlichen Aspekte, die die Glaubhaftigkeit der Angaben zu Identität und der Art der Mitwirkung des Mittäters zu steigern vermögen.

2. Die vorangestellte Generalklausel, nach der Angaben eines bestimmten Mitangeklagten „einer besonders kritischen Würdigung“ unterzogen worden seien, ersetzt eine tatsächlich nachprüfbare Würdigung nicht.


Entscheidung

765. BGH 3 StR 217/11 – Beschluss vom 2. August 2011 (LG Hildesheim)

Rüge der rechtsfehlerhaften Ablehnung eines fremden Beweisantrags (Aufklärungsrüge; Verletzung des Beweisantragsrechts).

§ 244 StPO; § 337 StPO; § 338 Nr. 8 StPO

Der Senat teilt – nicht tragend – die Auffassung des 5. Strafsenats, dass ein Mitangeklagter oder sonst Beteiligter, der eine Beweiserhebung nicht selbst beantragt hat, auch in Fällen einer übereinstimmenden Interessenlage die Ablehnung des entsprechenden Beweisantrags eines anderen Beteiligten allein mit der Aufklärungsrüge nach § 244 Abs. 2 StPO rügen kann, die je nach Fallgestaltung weitergehenden Vortrags im Sinne des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO bedarf. Die Rüge einer Verletzung der Bestimmungen des § 244 Abs. 3 bis 6 StPO im Hinblick auf den „fremden“ Beweisantrag soll ihm nach Auffassung des Senats dagegen nicht eröffnet sein.


Entscheidung

743. BGH 3 StR 44/11 – Beschluss vom 21. Juli 2011 (LG Hannover)

Isolierte Ablehnung einer Vielzahl kumulativ bedeutsamer Beweisanträge (Glaubwürdigkeit eines Zeugen; Gesamtschau der unter Beweis gestellten Tatsachen); Verfahrensrüge (Mitteilung der den Mangel enthaltenden Tatsachen; Gerichtsbeschluss).

§ 244 StPO; § 338 Nr. 8 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Es kann je nach Fallgestaltung rechtsfehlerhaft sein, wenn der Tatrichter eine Mehrzahl von Beweisanträgen isoliert abhandelt und wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit ablehnt, ohne die einzelnen Beweisbehauptungen jeweils in einer Gesamtschau zu würdigen, wenn die unterschiedlichen Anträge das gemeinsame Ziel hatten, die Glaubhaftigkeit bestimmter Angaben bzw. die Glaubwürdigkeit eines Zeugen oder Mittäters in Zweifel zu ziehen.

2. In einem solchen Fall bedarf es in dem ablehnenden Beschluss einer über die einzelne Beweistatsache hinausgehenden Gesamtwürdigung, warum die zu beweisende Tatsache das Gericht auch im Falle des Nachweises unbeeinflusst gelassen hätte. Denn die isolierte Ablehnung von Beweisanträgen wegen Bedeutungslosigkeit der Beweisbehauptung darf nicht dazu führen, zugunsten des Angeklagten sprechende Umstände der gebotenen Gesamtabwägung im Rahmen der Beweiswürdigung am Ende der Beweisaufnahme zu entziehen.

3. Zu den Anforderungen an die Verfahrensrüge in so einem Sonderfall.


Entscheidung

798. BGH 5 StR 190/11 – Beschluss vom 22. Juni 2011 (LG Dresden)

Schiebetermin; Unterbrechung der Hauptverhandlung; Beweiswürdigung (Aussage gegen Aussage; Urteilsgründe; Darlegung); Überzeugungsbildung.

§ 229 StPO; § 261 StPO; § 267 Abs. 3 StPO

1. Die Bezeichnung eines Hauptverhandlungstermins als „Schiebetermin“ in der Ladungsverfügung ist unschädlich, sofern in dem Hauptverhandlungstermin letztlich zur Sache verhandelt wird, d.h. der Inhalt des Termins den Fortgang der zur Urteilsfindung führenden Sachverhaltsaufklärung betrifft.

2. Zur Sache wird bereits verhandelt, wenn die Hauptverhandlung am betreffenden Tag lediglich für drei Minuten fortgesetzt und der – keine Einträge enthaltende – Auszug aus dem Bundeszentralregister über den Angeklagten verlesen wird.


Entscheidung

923. BGH 4 StR 16/11 – Urteil vom 14. Juli 2011 (LG Neubrandenburg)

Nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (erforderliche Entscheidung auf Grund einer Hauptverhandlung); Auslegung eines Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft (sofortige Beschwerde).

§ 66b StGB; § 300 StPO; § 275a Abs. 2, Abs. 3 StPO; § 333 StPO

1. Maßgebend für die Frage, welches Rechtsmittel statthaft ist, ist das Verfahrensrecht. Danach sind Urteile solche Entscheidungen, die eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung voraussetzen. Ohne Bedeutung ist, ob eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung wirklich stattgefunden haben. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die betreffende Entscheidung nach dem Gesetz nur auf Grund mündlicher Verhandlung und im Wege öffentlicher Verkündung hätte ergehen dürfen. Sind Verhandlung und Verkündung in einem solchen Fall entgegen dem Gesetz unterblieben, handelt es sich für die Frage der Anfechtbarkeit dennoch um ein Urteil (BGHSt 50, 180, 186; 55, 62, 63 f.).

2. Nach § 275a Abs. 2 StPO ist über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung auf Grund einer Hauptverhandlung zu entscheiden. Diese Entscheidung ergeht durch Urteil (§ 275a Abs. 2 i.V.m. § 260 Abs. 1 StPO). Dieses ist grundsätzlich in öffentlicher Verhandlung zu verkünden (§ 169 GVG). Ein schriftliches Verfahren ist für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei der vom Gesetzgeber gewählten Hauptverhandlungslösung nicht vorgesehen; insbesondere kommt eine analoge Anwendung der Regelungen über das Zwischenverfahren nicht in Betracht (BGH NStZ-RR 2006, 74).

3. Dass die Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel zunächst irrtümlich als „sofortige Beschwerde“ bezeichnet hat, nach das Gericht fälschlich einen Beschluss gefasst hat, ist nach § 300 StPO ebenfalls unschädlich. Diese Vorschrift gilt auch für Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft.

4. Die vollständige Verbüßung der Strafe und die Haftentlassung des Verurteilten stehen der Fortsetzung des Verfahrens nicht entgegen (vgl. BGHSt 50, 180, 181 f.).


Entscheidung

749. BGH 3 StR 106/11 – Beschluss vom 14. Juli 2011 (LG Kleve)

Wahrunterstellung (Beweisantrag; Beweisermittlungsantrag; Bindung).

§ 244 Abs. 3 StPO

Unterstellt der Tatrichter eine in einem Beweisantrag aufgestellte Behauptung inhaltlich als wahr, so ist er an

diese Zusage gebunden. Ob es sich bei dem Beweisbegehren überhaupt um einen Beweisantrag handelte, der formell zu bescheiden war, ist dabei irrelevant.


Entscheidung

744. BGH 3 StR 49/11 – Beschluss vom 8. Juni 2011 (LG Kleve)

Zurückweisung eines Beweisantrages (Verschleppungsabsicht); Vernehmung eines Auslandszeugen.

§ 244 Abs. 3 Satz 2, Abs. 5 Satz 2 StPO; § 245 StPO

1. Ein Beweisantrag kann dann wegen Verschleppungsabsicht nach § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO abgelehnt werden, wenn die begehrte Beweiserhebung nach der Überzeugung des Gerichts objektiv nichts Sachdienliches zu Gunsten des Antragstellers zu erbringen vermag, dieser sich dessen bewusst ist und mit seinem Antrag daher keine legitimen, auf die Aufklärung des wahren Sachverhalts gerichtete Anliegen, sondern eine Verzögerung des Verfahrens und gegebenenfalls weitere rechtsmissbräuchliche Zwecke verfolgt.

2. Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob an dem weiteren Erfordernis der wesentlichen Verzögerung des Verfahrens festzuhalten sei.


Entscheidung

881. BGH 2 StR 88/11 – Beschluss vom 13. Juli 2011 (LG Köln)

Missachtete Urteilsabsetzungsfrist.

§ 275 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 338 Nr. 7 StPO

Ein Berechnungsfehler ist kein unvoraussehbarer, unabwendbarer Umstand, der das Gericht an der Fristeinhaltung hindert. Nach ständiger Rechtsprechung liegen Belastungen durch anderweitige Hauptverhandlungen selbst dann außerhalb der zugelassenen Ausnahmen, wenn sie die Arbeitskraft der Richter infolge des Umfangs oder der Schwierigkeit des Verfahrens in besonderer Weise binden (vgl. BGH NJW 1988, 1094; NStZ 1992, 398; 2008, 55; Senat NStZ 2003, 564).


Entscheidung

741. BGH 3 StR 41/11 – Urteil vom 30. Juni 2011 (LG Duisburg)

Freispruch aus tatsächlichen Gründen (Urteilsgründe); Schilderung der erwiesenen Tatsachen; Darlegung der fehlenden weiteren Tatsachen.

§ 267 Abs. 5 StPO

1. Bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen muss die Begründung des Urteils so abgefasst sein, dass das Revisionsgericht überprüfen kann, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind.

2. Deshalb hat der Tatrichter in der Regel nach dem Tatvorwurf und der Einlassung des Angeklagten zunächst in einer geschlossenen Darstellung diejenigen Tatsachen zum objektiven Tatgeschehen festzustellen, die er für erwiesen hält, bevor er in der Beweiswürdigung darlegt, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen – zusätzlichen – Feststellungen zur objektiven und subjektiven Tatseite nicht getroffen werden konnten.

3. Hierauf kann nur ausnahmsweise verzichtet werden, wenn Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen überhaupt nicht möglich waren oder bei einem Freispruch aus subjektiven Gründen die Urteilsgründe ohne Feststellungen zum objektiven Sachverhalt ihrer Aufgabe gerecht werden, dem Revisionsgericht die Überprüfung der Beweiswürdigung auf Rechtsfehler zu ermöglichen.


Entscheidung

836. BGH 1 StR 122/11 – Beschluss vom 8. Juni 2011 (LG Hamburg)

Abfassung der Urteilsgründe und sachfremde Gründe in der Strafzumessung; keine Auswirkungen einer Spielsucht auf die Begehung einer Steuerhinterziehung.

§ 267 StPO; § 46 StGB; § 370 AO; § 20 StGB; § 21 StGB

1. Die Begründung eines Urteils soll schriftlich wie mündlich sachlich sein. Abwertende, persönlich gefärbte Ausführungen zur Persönlichkeit eines Angeklagten sind ebenso untunlich wie „romanhafte Ausführungen“. Der Begriffe „Kumpan“ kann aber wertungsfrei im Sinne von „Tatgenossen“ und synonym zu den – sachlich zutreffenden – Begriffen „Mittäter“ bzw. „Mitglied einer Bande“ verwendet worden sein. In diesem Fall ist kein Rechtsfehler belegt, die Strafkammer habe sich bei der Verhängung der Strafen rechtsfehlerhaft von sachfremden Erwägungen leiten lassen.

2. Es ist fernliegend, dass sich eine „Spielsucht“ „bei der Begehung der Tat“ ausgewirkt haben könnte, wenn die Tat eine langfristig geplante Steuerhinterziehung darstellt.


Entscheidung

883. BGH 2 StR 90/11 – Beschluss vom 1. Juni 2011 (LG Aachen)

Voraussetzungen für die Annahme von Handlungseinheit (Tateinheit; teilweise Identität der Ausführungshandlungen; natürliche Handlungseinheit; Klammerwirkung der Geiselnahme).

§ 223 StGB; § 224 StGB; § 52 StGB; § 53 StGB; § 239b StGB; § 260 StPO; § 353 StPO; § 354 StPO

1. Erweist sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung die Annahme von Tateinheit als offensichtlich fehlerhaft und ist eine der Taten nicht erwiesen, so ist jedenfalls aus Billigkeitsgründen ein Teilfreispruch geboten (BGH NStZ 1992, 398). Dies gilt auch für den Fall des Wegfalls einer Dauerstraftat, wenn dadurch der tateinheitliche Zusammenhang mit mehreren rechtlich selbständigen Taten, von denen eine nicht erwiesen werde konnte, verloren geht (vgl. BGH VRS 21, 341, 343).

2. Zwar muss allein eine fehlerhafte Beurteilung der Konkurrenzen bei insgesamt gleich bleibenden Schuld- und Unrechtsgehalt nicht zwingend auch den Strafausspruch im Ergebnis gefährden (BGH NJW 1996, 936, 938). Der Strafausspruch muss aber schon dann aufgehoben werden, wenn noch eine bislang fehlende Einzelstrafe festzusetzen ist.


Entscheidung

779. BGH 5 StR 26/11 – Urteil vom 7. Juni 2011 (LG Görlitz)

Freispruch (lückenhafte Beweiswürdigung; Urteilsgründe; revisionsgerichtliche Kontrolle); Überzeugungsbildung (überspannte Anforderungen).

§ 267 Abs. 5 StPO; § 261 StPO; § 337 StPO

1. Das Revisionsgericht hat es grundsätzlich hinzunehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an dessen Täterschaft nicht zu überwinden vermag.

2. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht etwa der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Rechtsfehlerhaft ist es auch, wenn sich das Tatgericht bei seiner Beweiswürdigung darauf beschränkt, die einzelnen Belastungsindizien gesondert zu erörtern und auf ihren jeweiligen Beweiswert zu prüfen, ohne eine Gesamtabwägung aller für und gegen die Täterschaft sprechenden Umstände vorzunehmen. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt ferner, ob überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt worden sind

3. Zwar können und müssen auch die Gründe eines freisprechenden Urteils nicht jeden irgendwie beweiserheblichen Umstand ausdrücklich würdigen. Das Maß der gebotenen Darlegung hängt vielmehr von der jeweiligen Beweislage und insoweit von den Umständen des Einzelfalls ab. Sind jedoch erhebliche Belastungsindizien gegeben, so muss das Tatgericht in seine Beweiswürdigung und deren Darlegung alle wesentlichen für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände und Erwägungen einbeziehen und in ihrer Gesamtheit betrachten.


Entscheidung

950. BGH 4 StR 198/11 – Beschluss vom 24. Mai 2011 (LG Essen)

Voraussetzungen an den Wertersatzverfall und Erörterungsmangel hinsichtlich einer möglichen Entreicherung (Ermessen; Verhältnismäßigkeit; Härtefall).

§ 73a StGB; § 73c StGB

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Vermögenswert aus der Tat erlangt im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB (hier i.V.m. § 73a Satz 1 StGB), wenn er dem Täter oder Teilnehmer unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestands in irgendeiner Phase des Tatablaufs zugeflossen ist (BGHSt 52, 227, 246), er an ihm also unmittelbar aus der Tat (tatsächliche, aber nicht notwendig rechtliche) Verfügungsmacht gewonnen und dadurch einen Vermögenszuwachs erzielt hat (vgl. BGHSt 51, 65, 68; BGH NStZ 2010, 85). Bei mehreren Tätern oder Teilnehmern genügt insofern, dass sie zumindest eine faktische bzw. wirtschaftliche Mitverfügungsmacht über den Vermögensgegenstand erlangt haben (st. Rspr.; vgl. nur BGH NJW 2011, 624, 625, auch zur gesamtschuldnerischen Haftung, m.w.N.). Unerheblich ist dagegen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Täter oder Teilnehmer eine unmittelbar aus der Tat gewonnene (Mit-)Verfügungsmacht später aufgegeben hat, ob also der aus der Tat zunächst erzielte Vermögenszuwachs durch Mittelabflüsse gemindert wurde (BGH, aaO).

2. Es genügt zur Prüfung des § 73c Abs. 1 Satz 2 StGB nicht, wenn das Gericht nur eine Unverhältnismäßigkeit der Anordnung des Wertersatzverfalls erörtert. Auch hinsichtlich einer eingetretenen Entreicherung muss eine Ermessensentscheidung getroffen werden.