HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2011
12. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

978. BGH 5 StR 561/10 – Urteil vom 7. Juli 2011 (LG Berlin)

BGHSt; Körperverletzung mit Todesfolge; Vorsatz (Beweiswürdigung; lückenhafte Erwägungen; Willenselement); Fahrlässigkeit (Vorhersehbarkeit der Gefahr des Todeseintritts); Unterlassen (Abgrenzung vom aktiven Tun; Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit); medizinische Heilbehandlung (unwirksame Einwilligung; Aufklärung über wesentliche Risiken; Übernahmeverschulden); versuchter Mord (Verdeckungsabsicht; niedere Beweggründe).

§ 227 StGB; § 15 StGB; § 223 StGB; § 224 StGB; § 13 StGB; § 211 StGB

1. Zur Strafbarkeit gemäß § 227 StGB und zum Tötungsvorsatz eines Schönheitschirurgen, der es vorübergehend unterlassen hat, seine wegen eines Aufklärungsmangels rechtswidrig operierte komatöse Patientin zur cerebralen Reanimation in ein Krankenhaus einzuweisen. (BGHSt)

2. Das Willenselement des bedingten Vorsatzes ist bei Tötungsdelikten nur gegeben, wenn der Täter den von ihm als möglich erkannten Eintritt des Todes billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen damit abfindet. Bewusste Fahrlässigkeit liegt hingegen dann vor, wenn er mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft – nicht nur vage – darauf vertraut, der Tod werde nicht eintreten. (Bearbeiter)

3. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stellt zur Lösung der Abgrenzungsproblematik zwischen aktivem Tun und Unterlassen wertend auf den Schwerpunkt des Vorwurfs ab (vgl. BGHSt 6, 46, 59; 40, 257, 265 f.). Er liegt – im konkreten Einzelfall der komplikationsreichen Operation im Unterlassen der Veranlassung der medizinisch gebotenen cerebralen Reanimation in einer Intensivstation eines Krankenhauses und nicht im bloßen Zuführen kreislaufstabilisierender Medikamente. (Bearbeiter)


Entscheidung

803. BGH 1 StR 20/11 – Urteil vom 26. Mai 2011 (LG München II)

Rücktritt vom Versuch (unbeendeter Versuch; ernsthaftes Bemühen; Freiwilligkeit; Behindern der Rettung); Grenzen der Revisionsbegründung (urteilsfremder Vortrag; Augenschein).

§ 24 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 StGB; § 212 StGB; § 22 StGB

1. Ein ernsthaftes Bemühen um die Verhinderung der drohenden Tatvollendung kann auch vorliegen, wenn der Angeklagte die Polizei telefonisch zur Rettung seines Opfers aufgefordert hat, und er zuvor bereits einen Nachbarn über seine Tat informiert hat, der die Polizei informierte, welche daraufhin bereits die für die Rettung entscheidenden Beamte und Rettungskräfte geschickt hatte. Dies gilt auch dann, wenn der Angeklagte beim Eintreffen der Polizei und Rettungskräfte „auf Zuruf nicht sofort alle Gegenstände aus den Händen“ legte, so dass die Polizei zur Eigensicherung Pfefferspray einsetzte.

2. Ob ein Versuch unbeendet oder beendet ist, hängt von der Vorstellung des Täters nach der letzten Ausführungshandlung (Rücktrittshorizont) ab. Hält er für den Taterfolg noch weitere Handlungen für (möglich und) nötig, ist der Versuch unbeendet, er kann durch Untätigkeit zurücktreten (§ 24 Abs. 1 Satz 1 StGB erste Alternative). Hält er dagegen den Eintritt des Taterfolgs für möglich, ist der Versuch beendet; ein Rücktritt erfordert eine Verhinderung des Erfolgs durch eigene Tätigkeit (§ 24 Abs. 1 Satz 1 StGB zweite Alternative) oder entsprechende Bemühungen (§ 24 Abs. 1 Satz 2 StGB), wenn der Erfolg ohne sein Zutun ausgeblieben ist (BGHSt <GS> 39, 221, 229 mwN).

3. Ein Rücktritt vom unbeendeten Versuch liegt nicht vor, wenn der Angeklagte, der seine Frau zuvor mit der Machete geschlagen hat, davon ausgeht, dass sie bereits an diesem Schnitt sterben könne. Allein der Verzicht auf eine (gewisse) Beschleunigung ihres von ihm ohnehin erwarteten verletzungsbedingten Todes stellt keinen Rücktritt gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB erste Alternative dar.

4. Bemerkt der Angeklagte, dass sein Opfer entgegen einer ersten Annahme doch noch lebte, wird nicht der Rücktrittshorizont korrigiert, sondern es entsteht vielmehr erstmals ein Rücktrittshorizont.

5. Freiwillig ist ein Rücktritt, wenn weder eine äußere Zwangslage noch seelischer Druck den Täter an der Vollendung der Tat hindert (st. Rspr., BGHSt 7, 296, 299); eine vorherige Entdeckung der Tat kann aber gegen Freiwilligkeit sprechen.

6. Urteilsfremder Vortrag kann die Sachrüge nicht begründen (BGHSt 35, 238, 241). Über das Ergebnis eines Augenscheins – hierunter fällt auch das Abhören eines Tonbands (BGHSt 27, 135) – hat allein der Tatrichter zu befinden (BGHSt 29, 18). Ebenso wenig kann die Sach- oder eine Verfahrensrüge auf einen Abgleich von Urteilsgründen und Akteninhalt, etwa dem von der Revision vorgetragenen Vermerk, gestützt werden.


Entscheidung

824. BGH 5 StR 565/10 – Urteil vom 24. Mai 2011 (LG Hamburg)

Rücktritt vom Totschlagsversuch durch Unterlassen (Zurechenbarkeit; tauglicher und untauglicher Versuch); Totschlag; Zweifelssatz (taugliche Tatsachengrundlage); Anwendung von Jugendstrafrecht; Bemessung der Jugendstrafe (Erziehungsbedarf; Schwere der Schuld).

§ 24 Abs. 2 StGB; § 13 StGB; § 212 StGB; § 105 Abs. 1 JGG; § 32 JGG; § 17 JGG; § 18 JGG

Den Täter eines tauglichen Unterlassungsdelikts trifft das volle Erfolgsabwendungsrisiko. Dem entspricht es, dass der Gesetzgeber mit den Regelungen in § 24 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 StGB in erster Linie das Anliegen verfolgt hat, dem Täter – anders als nach vormaligem Recht – bei „ungefährlichen“ Versuchen die Möglichkeit des Rücktritts einzuräumen.


Entscheidung

759. BGH 3 StR 167/11 – Beschluss vom 28. Juni 2011 (LG Kleve)

Rücktritt vom Versuch (Rücktrittshorizont; Darlegungsmangel; Erörterungsmangel; Rücktritt mehrerer Tatbeteiligter); Doppelverwertungsverbot (Erpressung; Rechtswidrigkeit der durchzusetzenden „Forderung“).

§ 24 StGB; § 267 Abs. 3 StPO; § 46 Abs. 3 StGB; 253 StGB

1. Ein Versuch ist nicht bereits dann fehlgeschlagen, wenn der Angeklagte seinen Tatplan nicht verwirklichen konnte. Maßgeblich ist hierfür vielmehr, ob ihm infolge einer Veränderung der Handlungssituation oder aufkommender innerer Hemmnisse das Erreichen seines Ziels nicht mehr möglich erschien. War der Angeklagte hingegen noch Herr seiner Entschlüsse und hielt er – wenngleich mit anderen Mitteln – die Ausführung seiner Tat noch für möglich, liegt ein unbeendeter und kein fehlgeschlagener Versuch vor. Entscheidend ist dabei die Sicht des Täters nach Ende der letzten Ausführungshandlung (BGH NStZ 2007, 91).

2. Auch wenn gemäß § 24 Abs. 2 StGB der Rücktritt eines Tatbeteiligten nicht ohne weiteres zugunsten eines anderen Tatbeteiligten wirkt, kann es hierfür ausreichen, wenn die Tatbeteiligten nach unbeendetem Versuch einvernehmlich nicht mehr weiter handeln, obwohl sie dies hätten tun können (BGHSt 42, 158, 162; BGH NStZ 2007, 91, 92).


Entscheidung

804. BGH 5 StR 202/11 – Beschluss vom 22. Juni 2011 (LG Hamburg)

Notwehr (Absichtsprovokation; Einschränkung des Notwehrrechts); Körperverletzung mit Todesfolge; Bemessung der Jugendstrafe (Erziehungsgedanke; Schwere der Schuld; Ausnahmecharakter).

§ 32 StGB; § 18 JGG; § 227 StGB

Hat der Angeklagte unter Billigung der vorausgegangenen Provokation von Seiten eines Mittäters den Geschädigten nochmals provoziert hat, um ihn körperlich misshandeln zu können, liegt sogar ein Fall der Absichtsprovokation nicht fern. Bei der Absichtsprovokation ist dem Täter Notwehr – jedenfalls grundsätzlich – versagt ist,

weil er rechtsmissbräuchlich handelt, indem er einen Verteidigungswillen vortäuscht, in Wirklichkeit aber angreifen will (vgl. BGH NJW 1983, 2267; 2001, 1075). Auch bei der Vorsatzprovokation ist das Notwehrrecht in ähnlichem Umfang eingeschränkt (vgl. BGHSt 39, 374, 378 f.).


Entscheidung

844. BGH 1 StR 179/11 – Beschluss vom 18. Mai 2011 (LG München II)

Unzureichende Begründung eines bedingten Tötungsvorsatzes (Eventualvorsatz).

§ 212 StGB; § 15 StGB; § 16 StGB

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist es zwar anerkannt, dass bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen der Schluss auf einen zumindest bedingten Tötungsvorsatz nahe liegt. Dabei ist jedoch auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Täter die Gefahr der Tötung nicht erkannt oder jedenfalls darauf vertraut hat, ein solcher Erfolg werde nicht eintreten. Der Schluss auf einen bedingten Tötungsvorsatz erfordert deshalb, dass das Tatgericht die der Sachlage nach ernsthaft in Betracht kommenden Tatumstände, zu denen auch die psychische Verfassung des Täters bei der Tatbegehung sowie seine Motive gehören, in seine Erwägungen einbezogen hat. Das gilt namentlich für spontane, unüberlegte, in affektiver Erregung ausgeführte Handlungen.

2. Einzelfall der Anwendung der Rechtsprechungsgrundsätze für barfuß ausgeführter Tritte gegen den Kopf nach einem die Tat provozierenden Verhalten des Geschädigten.


Entscheidung

766. BGH 3 StR 225/11 – Beschluss vom 2. August 2011 (LG Duisburg)

Totschlag (Vorsatz; Beweiswürdigung; besonders gefährliche Gewalthandlungen); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Gefahrenprognose; Gefährlichkeit; minimale strafrechtliche Vorbelastung).

§ 212 StGB; § 15 StGB; § 64 StGB

1. Zwar liegt bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen der Schluss auf einen zumindest bedingten Tötungsvorsatz nahe, doch ist dieser Schluss nur dann rechtsfehlerfrei, wenn der Tatrichter auch alle nach Sachlage in Betracht kommenden Tatumstände in seine Erwägungen einbezogen hat, die dieses Ergebnis in Frage stellen können.

2. Wesentliche Umstände, die den Schluss auf einen Tötungsvorsatz in Frage stellen können, sind etwa eine erhebliche Alkoholisierung zum Tatzeitpunkt, eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit sowie das Fehlen eines Tatmotivs.


Entscheidung

965. BGH 4 StR 268/11 – Beschluss vom 26. Juli 2011 (LG Saarbrücken)

Strafbefreiender Rücktritt des Angeklagten vom Versuch der besonders schweren Brandstiftung (Rücktritt mehrerer Beteiligter; fehlgeschlagener Versuch; unbeendeter Versuch).

§ 24 Abs. 2 StGB; § 306b StGB

Sind an einer Tat Mehrere beteiligt, wird nach § 24 Abs. 2 Satz 1 StGB nicht wegen Versuchs bestraft, wer freiwillig die Vollendung verhindert. Dabei muss das die Tatvollendung verhindernde Verhalten nicht notwendig in einem auf die Erfolgsabwendung gerichteten aktiven Tun bestehen. Kann einer von mehreren Beteiligten den noch möglichen Eintritt des Taterfolgs allein dadurch vereiteln, dass er seinen vorgesehenen Tatbeitrag nicht erbringt oder nicht weiter fortführt, so verhindert bereits seine Untätigkeit oder sein Nichtweiterhandeln die Tatvollendung. Ist dem Beteiligten dies im Zeitpunkt der Verweigerung oder des Abbruchs seiner Tatbeteiligung bekannt und handelt er dabei freiwillig, liegen damit die Voraussetzungen für einen strafbefreienden Rücktritt nach § 24 Abs. 2 Satz 1 StGB vor.


Entscheidung

775. BGH 3 StR 445/10 – Urteil vom 5. Mai 2011 (LG Duisburg)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Täterschaft; Beihilfe); Beihilfe zur Beihilfe (Vorsatz); Beihilfe (Feststellungen; Urteilsgründe); unerlaubtes Führen einer Schusswaffe; unerlaubter Besitz einer Schusswaffe; unerlaubter Besitz von Munition.

§ 27 StGB; § 29a BtMG; § 261 StPO; § 267 Abs. 3 StPO; § 52 WaffG

1. Grundsätzlich bedarf sorgfältiger und genauer Feststellungen, dass und wodurch ein Gehilfe die Begehung der Haupttat in ihrer konkreten Gestaltung objektiv gefördert oder erleichtert hat. Dass dies so war, kann je nach Fallgestaltung aber auch auf der Hand liegen.

2. Hilfe im Sinne des § 27 StGB leistet dem Täter auch derjenige, der seinerseits die Tatförderung eines weiteren Gehilfen unterstützt (sog. „Beihilfe zur Beihilfe“). Auch hier ist es ausreichend, dass der Gehilfe über die Haupttat wenigstens in Umrissen Bescheid weiß. Er muss die wesentlichen Merkmale der Haupttat, insbesondere deren Unrechtsund Angriffsrichtung, zumindest für möglich halten und billigen; Einzelheiten der Haupttat braucht der Gehilfe hingegen nicht zu kennen und auch keine bestimmte Vorstellung von ihr zu haben.

3. Auch bei der Unterstützung eines Gehilfen ist es nicht erforderlich, dass der Haupttäter überhaupt von einer objektiv fördernd wirkenden Hilfeleistung Kenntnis erlangt.

II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

877. BGH 2 StR 65/11 – Beschluss vom 14. April 2011 (LG Kassel)

BGHSt; dem Beischlaf ähnliche Handlung im Sinne des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern (Zungenkuss).

§ 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB

1. Ein „Zungenkuss“ ist in der Regel keine dem Beischlaf ähnliche Handlung im Sinne von § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB. (BGHSt)

2. Ob unter besonderen Umständen in extremen Ausnahmefällen etwas anderes gelten kann, kann hier offen bleiben. (Bearbeiter)

3. Für eine dem Beischlaf ähnliche Handlung ist erforderlich, dass der über achtzehn Jahre alte Täter mit dem Kind Handlungen vornimmt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind. Zwar ist nicht jedes Eindringen in den Körper ausreichend, sondern nur eine dem Beischlaf „ähnliche Handlung“. Davon werden andererseits nicht ausschließlich Fälle des Oral- oder Analverkehrs erfasst, also nur ein Eindringen mit dem männlichen Glied. Auch das Eindringen mit anderen Körperteilen oder mit Gegenständen in den Körper kann im Einzelfall genügen (vgl. BGH NJW 2000, 672 f.). Erforderlich ist aber, dass die sexuelle Handlung mit Blick auf das geschützte Rechtsgut, nämlich die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern (BGHSt 53, 118, 119), ähnlich schwer wiegt wie eine Vollziehung des Beischlafs. Dies ist bei einem Eindringen mit dem Finger in Scheide oder After des Kindes anzunehmen. (Bearbeiter)


Entscheidung

825. BGH 5 StR 568/10 – Beschluss vom 3. Mai 2011 (LG Berlin)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (minder schwerer Fall; polizeiliche Überwachung; Sicherstellung aller Betäubungsmittel); Strafzumessung (Strafrahmenwahl); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt; Zurückstellung der Strafvollstreckung.

§ 29a BtMG; § 30a BtMG; § 35 BtMG; § 64 StGB; § 35 BtMG; § 46 StGB

1. Die polizeiliche Überwachung einer Tat des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln sowie die Sicherstellung aller gehandelten Betäubungsmittel stellt angesichts des damit verbundenen Wegfalls jeglicher Gefahr für die Allgemeinheit einen bestimmenden Strafzumessungsgrund dar (§ 267 Abs. 3 StPO), der bereits bei der Strafrahmenwahl zu würdigen ist (§§ 29a Abs. 2, 30a Abs. 3 BtMG).

2. Die Möglichkeit der Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG hindert die Anordnung der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB nicht.


Entscheidung

777. BGH 3 StR 492/10 – Urteil vom 26. Mai 2011 (LG Hildesheim)

Schulfotograf; Bestechung; Bestechlichkeit; Beweiswürdigung (lückenhafte); verwaltungsakzessorische Auslegung; Vorteil; Vertrag; Diensthandlung; Verwaltungsgebühr (Findungsrecht; Gesetzesvorbehalt).

§ 332 StGB; § 334 StGB; § 261 StPO; § 267 Abs. 5 StPO

1. Das Tatgericht ist gemäß § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO verpflichtet, all diejenigen Umstände festzustellen und darzulegen, die für die Beurteilung des Tatvorwurfs relevant und zur Überprüfung des Freispruchs durch das Revisionsgericht auf Rechtsfehler notwendig sind.

2. Gemäß § 334 Abs. 3 Nr. 2 StGB macht sich wegen Bestechung bereits derjenige strafbar, der einen Vorteil für eine künftige, im Ermessen des Amtsträgers stehende (Dienst-)Handlung anbietet, verspricht oder gewährt, wenn er hierdurch den Amtsträger lediglich zu bestimmen versucht, sich durch den Vorteil bei der Ermessensausübung beeinflussen zu lassen.

3. § 334 Abs. 3 Nr. 2 StGB stellt bereits den Versuch unter Strafe stellt, durch das Anbieten, Versprechen oder Gewähren eines Vorteils auf eine Ermessensentscheidung Einfluss zu nehmen. Daher ist es für die Strafbarkeit ohne Belang, ob die Diensthandlung tatsächlich vorgenommen und durch den (in Aussicht gestellten) Vorteil beeinflusst wird.

4. Unter einem Vorteil im Sinne der §§ 331 ff. StGB ist grundsätzlich jede Leistung des Zuwendenden zu verstehen, welche den Amtsträger oder einen Dritten materiell oder immateriell in seiner wirtschaftlichen, rechtlichen oder persönlichen Lage objektiv besser stellt und auf die kein rechtlich begründeter Anspruch besteht.

5. Auch der Abschluss eines Vertrages steht der Annahme eines Vorteils im Sinne der §§ 331 ff. StGB nicht notwendig entgegen. Zwar wird durch einen wirksamen Vertrag ein rechtlicher Anspruch auf die für die Diensthandlung versprochene Gegenleistung begründet. Dies schließt einen Vorteil in diesem Sinne aber dann nicht aus, wenn kein Anspruch auf den Abschluss eines gegenseitigen Vertrages über die Diensthandlung besteht und der Vorteil daher bereits in dem Vertragsschluss und der dadurch begründeten Forderung liegt, sofern nicht der Vertragsschluss verwaltungsrechtlich rechtmäßig ist und insbesondere die Diensthandlung auch in rechtlich zulässiger Weise von einer Vergütung abhängig gemacht werden darf (verwaltungsakzessorischen Auslegung).

6. Fehlt eine verwaltungsrechtliche Grundlage für die Vergütung der Tätigkeit eines Amtsträgers in Gestalt einer Rechtsnorm, so ist es rechtlich auch nicht zulässig, eine derartige Vergütung vertraglich zu vereinbaren. Denn nach dem Gesetzesvorbehalt bedürfen Gebühren für Verwaltungstätigkeiten einer gesetzlichen Grundlage; die Verwaltung hat kein „Gebührenfindungsrecht“.

7. Als Dritte im Sinne der §§ 331 ff. StGB kommen neben Privaten auch öffentlich-rechtliche Stellen wie beispielsweise die Anstellungskörperschaft der Amtsträger in Betracht.


Entscheidung

918. BGH 2 StR 618/10 – Beschluss vom 11. Mai 2011 (LG Kassel)

Schwere räuberische Erpressung (Scheinwaffe; Werkzeug oder Mittel um den Widerstand einer anderen Person durch Drohung mit Gewalt zu verhindern); Sicherungsverwahrung (Anwendung des Meistbegünstigungsgrundsatzes).

§ 253 StGB; § 255 StGB; § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB; § 66 StGB; Art. 316e Abs. 2 EGStGB

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs scheiden als tatbestandsqualifizierende Drohungsmittel solche Gegenstände aus, bei denen die Drohungswirkung nicht auf dem objektiven Erscheinungsbild des Gegenstands selbst, sondern auf täuschenden Erklärungen des Täters beruht (vgl. BGHSt 38, 116, 118 f.; BGH, NStZ 1997, 184; NStZ 2007, 332, 333). Danach haftet einem zur Drohung eingesetzten vorgeblich gefährlichen Gegenstand keine objektive Scheinwirkung an, wenn seine objektive Ungefährlichkeit schon nach dem äußeren Erscheinungsbild offenkundig auf der Hand liegt. Für diese Beurteilung kommt es allein auf die Sicht eines objektiven Betrachters und nicht darauf an, ob im konkreten Einzelfall das Tatopfer eine solche Beobachtung tatsächlich machen konnte oder ob der Täter dies durch sein täuschendes Vorgehen gerade vereitelte.

2. Für die Tatbestandserfüllung der §§ 253, 255 StGB durch Drohung ist unerheblich, ob der Täter die Ausführung seiner Drohung beabsichtigt oder ob sie für ihn überhaupt realisierbar ist, solange er nur will, dass die Bedrohten – wie hier – die Ausführung der Drohung für möglich halten (BGHSt 23, 294, 295 f.; BGH, NStZ 1997, 184).


Entscheidung

772. BGH 3 StR 444/10 – Beschluss vom 5. Juli 2011 (LG Hildesheim)

Betrug; Vermögensschaden; Fingierung einer Forderung zur Durchsetzung einer tatsächlich bestehenden, nicht durchsetzbaren Forderung; Bewertung einer noch nicht fälligen Forderung; Kompensation eines Vermögensverlusts.

§ 263 StGB

1. Ein Vermögensnachteil im Sinne des § 263 StGB liegt nicht vor, wenn mit dem Verlust eines Vermögenswerts zugleich ein den Verlust aufwiegender Vermögenszuwachs begründet wird. Ein solcher Vermögenszuwachs tritt ein, soweit das Vermögen von einer Verbindlichkeit in Höhe des Verlusts befreit wird. Dies gilt selbst dann, wenn die Verbindlichkeit schwer zu beweisen wäre.

2. Es ist grundsätzlich möglich, dass ein Gläubiger sich im Rahmen eines Rechtsgeschäfts, auf Grund dessen ihm kein Anspruch zusteht, einen Vermögensvorteil verschafft, um sich damit für einen aus einem anderen Rechtsgeschäft bestehenden Anspruch zu befriedigen. Es muss aber durch die Tat unmittelbar eine Befreiung von dem bestehenden Anspruch eintreten. Hierfür ist es erforderlich, dass der Handelnde das durch rechtswidrige Mittel, etwa Täuschung, Erlangte zu seinem bestehenden Anspruch in Beziehung gebracht hat, um auszuschließen, dass der Schuldner sowohl auf den bestehenden als auch auf den fingierten Anspruch leistet.

3. Die fehlende Fälligkeit einer – vorzeitig erfüllten – Verbindlichkeit führt nicht schon für sich allein zu einem Vermögensnachteil. Denn eine geminderte Werthaltigkeit gegenüber dem Nominalbetrag kann jedenfalls nicht pauschal angenommen werden, sondern muss entsprechend den Umständen des Einzelfalls festgestellt werden. Bedarf es nur noch eines Federstrichs, um die Fälligkeit herbeizuführen, wird der Nominalwert kaum unterschritten sein; anders liegt es, wenn hierfür noch besonderer Aufwand zu betreiben ist.


Entscheidung

973. BGH 4 StR 340/11 – Beschluss vom 26. Juli 2011 (LG Essen)

Anstiftung zum gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr (konkrete Gefahr: Durchschneiden eines Bremsschlauchs; Versuch).

§ 315b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, Abs. 3 StGB; § 26 StGB

1. Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 StGB liegt erst dann vor, wenn durch eine der in den Nrn. 1 bis 3 genannten Tathandlungen eine Beeinträchtigung der Sicherheit des Straßenverkehrs herbeigeführt worden ist und sich diese abstrakte Gefahrenlage zu einer konkreten Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von besonderem Wert verdichtet hat. Dies liegt nicht schon stets dann vor, wenn der Bremsschlauch eines Fahrzeuges angeschnitten und das so beschädigte Fahrzeug in Betrieb genommen wird.

2. Die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache ist erst dann konkret gefährdet, wenn durch die Tathandlung ein so hohes Verletzungs- oder Schädigungsrisiko begründet worden ist, dass es nur noch vom Zufall abhängt, ob es zu einer Rechtsgutsverletzung kommt. Kritische Verkehrssituationen erfüllen diese Voraussetzungen im Allgemeinen nur, wenn sie sich aus der Perspektive eines objektiven Beobachters als ein „Beinahe-Unfall“ darstellen (BGH NJW 1995, 3131). Es muss zu einer hochriskanten, praktisch nicht mehr beherrschbaren Verkehrssituation gekommen sein.


Entscheidung

770. BGH 3 StR 318/10 – Beschluss vom 26. Mai 2011 (LG Wuppertal)

Räuberische Erpressung (Finalität; Kausalität; „Sicherungserpressung“); Nötigung; Betrug.

§ 253 StGB; § 255 StGB; § 263 StGB; § 240 StGB; § 53 StGB

1. Wenden die Angeklagten erst nach der betrügerischen Erlangung eines Vermögensgegenstandes Gewalt an, um

den Geschädigten, der nun den fehlenden Zahlungswillen entdeckt hat, zum endgültigen Verzicht auf seine Forderung zu bewegen, kann lediglich eine so genannte Sicherungserpressung vorliegen. Es handelt sich dann um einen Betrug (§ 263 Abs. 1 StGB) mit anschließender – nach Entdeckung begangener – Nötigung (§ 240 StGB). So liegt es, wenn das Nötigungsmittel erst auf Grund eines nach Abschluss der betrügerischen Handlung und nach Eintritt des Betrugsschadens spontan gefassten Entschlusses eingesetzt wurde. In einem solchen Fall ist die Tat weder von Anfang an durch nötigende Elemente geprägt (vgl. BGH NJW 1984, 501), noch führt die spätere Nötigungshandlung zu einer Vertiefung des bereits eingetretenen Vermögensnachteils; es fehlt damit an der Kausalität zwischen der Nötigungsfolge und dem Nachteilseintritt, denn der Vermögensschaden ist bereits zuvor durch den Gewahrsamswechsel eingetreten, dem anschließenden (vorläufigen) Verzicht auf die Geltendmachung von (Rück-)Forderungsansprüchen kommt dabei keine eigenständige Bedeutung zu (BGH NJW 1984, 500).

2. Eine räuberische Erpressung kommt allerdings in Betracht, wenn die – von vornherein beabsichtigte – Gewalt unmittelbar nach der Täuschung eingesetzt worden wäre, um das Opfer zu nötigen, die Schädigung des Vermögens endgültig hinzunehmen (BGHR StGB § 263 Abs. 1 Versuch 1).


Entscheidung

819. BGH 5 StR 423/10 – Beschluss vom 11. November 2010 (LG Berlin)

Diebstahl; Raub; Gewahrsam (Dachboden; Hausrecht; vollständige Sachherrschaft).

§ 242 StGB; § 249 StGB

Versteckt der Angeklagte den zuvor aus der Wohnung des Geschädigten entwendeten 17,5 kg schweren Tresor mangels eines geeigneten Behältnisses für seinen unauffälligen Abtransport zunächst auf dem unverschlossenen Dachboden des Hauses, in dem sich die Wohnung des Geschädigten befindet, erlangt er damit noch nicht den Gewahrsam an dem Tresor. Selbst wenn sich der Herrschaftsbereich des Geschädigten nicht mehr auf den Dachboden erstreckt und nur der Angeklagte dieses Versteck kannte, hatte er nach der hierfür maßgeblichen Anschauung des täglichen Lebens (vgl. BGHSt 16, 271, 273; BGHR StGB § 242 Abs. 1 Wegnahme 10) noch nicht die vollständige Sachherrschaft über den Tresor erlangt. Insoweit ist von Bedeutung, dass der Angeklagte den Dachboden nur unter Verletzung fremden Hausrechts betreten konnte und damit rechnen musste, beim Abtransport des Tresors den Geschädigten oder anderen Hausbewohnern aufzufallen und von ihnen behindert zu werden.


Entscheidung

916. BGH 2 StR 605/10 – Urteil vom 25. Mai 2011 (LG Bonn)

Mord (Habgier; Ermöglichung einer anderen Tat; Raubmord); Raub mit Todesfolge; schwerer Raub (Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung); Beweiswürdigung (Kreisschluss).

§ 211 StGB; § 212 StGB; § 249 StGB; § 251 StGB; § 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. c StGB; § 261 StPO

Ein Schlag gegen den Kopf des Opfers führt nicht ohne Weiteres die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. c StGB mit sich. Eine solche setzt zwar keine schwere Körperverletzung voraus, sondern kommt auch bei sonst einschneidenden oder nachhaltigen Beeinträchtigungen der Gesundheit in Betracht, wie etwa bei einer längeren Arbeitsunfähigkeit als Tatfolge.


Entscheidung

921. BGH 4 StR 7/11 – Beschluss vom 13. April 2011 (LG Bochum)

Sexueller Missbrauch eines Kindes und schwerer sexueller Missbrauch eines Kindes (Anforderungen an die Individualisierung der einzelnen Taten; Tatserie; Feststellung eines Tatzeitraums); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (konkrete Erfolgsaussicht).

§ 176 StGB; § 176a StGB; § 267 StPO; § 64 StGB

1. In Fällen, in denen dem Angeklagten eine Vielzahl sexueller Übergriffe zur Last gelegt wird, die erst nach Jahren aufgedeckt werden, dürfen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Vermeidung gewichtiger Strafbarkeitslücken an die Individualisierung der einzelnen Missbrauchshandlungen keine überzogenen Anforderungen gestellt werden (vgl. nur BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 Mindestfeststellungen 5; BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 Sachdarstellung 9). So ist es grundsätzlich methodisch zulässig, wenn der Tatrichter, ausgehend vom Gesamtbild des Geschehensablaufs, für einen festliegenden Zeitraum die sichere Überzeugung von einer Mindestzahl nicht notwendig durch individuelle Merkmale voneinander unterscheidbarer Einzeltaten gewinnt (Senatsbeschluss aaO mwN).

2. Trotz der zurückgenommenen Anforderungen müssen insbesondere die Ausführungen zum Tatzeitraum (hier: Endzeitraum) hinreichend bestimmt sein.


Entscheidung

859. BGH 1 StR 255/11 – Beschluss vom 28. Juni 2011 (LG Ulm)

Gewalt im Sinne der sexuellen Nötigung.

§ 177 Abs. 1 StGB

Als Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB ist das mit nicht ganz unerheblicher Krafteinwirkung verbundene Festhalten des Opfers ebenso erfasst wie die Überwindung von geringfügiger Gegenwehr (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 10. Februar 2011 – 4 StR 566/10 mwN). Ausreichend kann je nach den Umständen des Falles auch das Packen an der Hand, das Beiseite-Drücken der abwehrenden Hand, das auf das Bett Stoßen oder das sich auf das Opfer Legen bzw. der Einsatz überlegener Körperkraft sowie das Auseinanderdrücken der Beine sein. Entscheidend ist eine Kraftentfaltung, die vom Opfer als körperlicher Zwang empfunden wird.


Entscheidung

943. BGH 4 StR 175/11 – Beschluss vom 24. Mai 2011 (LG Koblenz)

Räuberischer Angriff auf einen Kraftfahrer; erpresserischer Menschenraub; Bereicherungsabsicht.

§ 316a Abs. 1 StGB; § 239a StGB; § 255 StGB; § 263 StGB

Die Absicht, sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern, deckt sich inhaltlich voll mit der beim Betrug vorausgesetzten Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen (BGHR StGB § 253 Abs. 1 Bereicherungsabsicht 3). Es muss eine Bereicherung als Vermögensvorteil, dh eine günstigere Gestaltung der Vermögenslage im Sinne einer Erhöhung des wirtschaftlichen Wertes des Vermögens erstrebt werden. Diese Voraussetzung ist nicht gegeben, wenn der Täter den mit seiner Tat verbundenen Vermögensvorteil nur als notwendige oder mögliche Folge seines ausschließlich auf einen anderen Zweck gerichteten Verhaltens voraussieht, etwa dann, wenn er dem Opfer nur einen Denkzettel verpassen oder „ein Zeichen setzen“ will.


Entscheidung

952. BGH 4 StR 206/11 – Beschluss vom 26. Mai 2011 (LG Essen)

Konkurrenzverhältnis zwischen der schweren räuberischen Erpressung und der Bedrohung (Dreiecksverhältnis; Gesetzeseinheit; strafschärfende Verwirklichung mitverwirklichter Tatmerkmale; eigenständiger Unrechtsgehalt).

§ 241 StGB; § 253 StGB; § 255 StGB; § 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. a StGB; § 52 StGB; § 54 StGB; § 46 StGB

1. Die Bedrohung gemäß § 241 StGB steht nach ständiger Rechtsprechung auch hinter einer lediglich versuchten (schweren räuberischen) Erpressung zurückt (vgl. BGHR StGB § 253 Abs. 1 Konkurrenzen 3). Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Angeklagte mit der Bedrohung der Zeugin kein anderes Ziel als die Herausgabe des erstrebten Geldbetrages verfolgt.

2. Gesetzeseinheit, die hier den Tatbestand des § 241 StGB hinter dem der §§ 253, 255, 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StGB zurücktreten lässt, verbietet es nicht, die Erfüllung von Merkmalen des verdrängten Gesetzes straferschwerend zu berücksichtigen, wenn diese gegenüber dem Tatbestand des angewandten Gesetzes selbständiges Unrecht enthalten (BGHSt 19, 188, 189; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Tatumstände 7). So liegt es etwa, wenn die Zeugin mit dem Tode ihres Sohnes bedroht wird. Der Unrechtsgehalt dieser Tat wird von der Strafbarkeit wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung nicht vollständig erfasst.


Entscheidung

964. BGH 4 StR 266/11 – Beschluss vom 30. Juni 2011 (LG Bonn)

Gefährliche Körperverletzung (mittels eines gefährlichen Werkzeugs; das Leben gefährdende Behandlung).

§ 224 I Nr. 2, 5 StGB

1. Ein fahrendes Kraftfahrzeug, das zur Verletzung einer Person eingesetzt wird, ist zwar ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Soweit die Person von einer Motorhaube eines fahren Wagens geschleudet wird und deshalb Verletzungen bei dem Sturz auf den Asphalt erleidet, ist der Körperverletzungserfolg nicht „mittels“ des Kraftfahrzeugs eingetreten.

2. In diesem Fall liegt auch keine „das Leben gefährdende Behandlung“ vor. Ein langsame Zufahren mit einem Auto auf den Geschädigten kann nicht generell als lebensbedrohlich angesehen werden.


Entscheidung

898. BGH 2 StR 166/11 – Beschluss vom 25. Mai 2011 (LG Gera)

Mord (Heimtücke: Ausnutzungsbewusstsein; niedrige Beweggründe: Verzweiflung und Suizidabsichten); Totschlag.

§ 211 StGB; § 212 StGB; § 46 StGB

1. Das Tatgericht darf bei seiner Beurteilung, ob die Beweggründe des Angeklagten nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert sind und auf tiefster Stufe stehen, nicht übersehen, wenn der Angeklagte, der angesichts seines Hin- und Hergerissenseins zwischen zwei Frauen schon in der Vergangenheit mehrere Suizidversuche unternommen hatte, auch von Verzweiflung getrieben war und sich selbst im Anschluss an die Tötung seiner Ehefrau in ernsthaft suizidaler Absicht lebensgefährliche Verletzungen beigebracht hat.

2. Für die Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit genügt, wenn der Täter ihre Bedeutung für die Lage der angegriffenen Person erkennt, er sich damit bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit schutzlosen Menschen zu überraschen. Dies dürfte auch regelmäßig bei einem Messerangriff von hinten anzunehmen sein. Sie versteht sich jedoch nicht von selbst, wenn die Tat direkt nach der Mitteilung der endgültigen Trennungsabsicht durch die Ehefrau des psychisch gestressten und alkoholisierten Angeklagten geschieht.


Entscheidung

867. BGH 1 StR 312/11 – Beschluss vom 12. Juli 2011 (LG Karlsruhe)

Besonders schwerer Diebstahl (Voraussetzungen der Geringwertigkeit: Vorsatz und Vorsatzwechsel).

§ 242 StGB; § 243 Abs. 1, Abs. 2 StGB

Hat der Täter unter erschwerenden Umständen (§ 243 Abs. 1 StGB) mit der Ausführung eines Diebstahls begonnen, ohne dabei seinen Vorsatz auf die Entwendung geringwertiger Sachen beschränkt zu haben, hat er dann aber, weil er nichts sonst Mitnehmenswertes fand, nur eine geringwertige Sache weggenommen, so „bezieht sich die Tat“ nicht iS des § 243 Abs. 2 StGB auf eine geringwertige Sache. Der § 248a StGB kann dann nicht eingreifen (vgl. BGHSt 26, 104 ff).