HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2004
5. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

297. BGH 1 StR 566/03 - Beschluss vom 12. Februar 2004 (LG Stuttgart)

BGHSt; Aufklärungspflicht und Unmittelbarkeitsgrundsatz (zulässiger Augenschein durch Vorführen der zu Beweiszwecken erstellten Bild-Ton-Aufzeichnung über die Erklärung eines Zeugen bei seiner Vernehmung; Ergänzung und Ersetzung der unmittelbaren Zeugenaussage; Nachbefragungsrecht der Verteidigung; Verlesung von Protokollen; authentischer Beweiswert der Bild-Ton-Aufzeichnung, des Videoprotokolls; Beweisantragsrecht).

Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK; § 250 StPO; § 253 StPO; § 244 Abs. 2, Abs. 3 StPO; § 255a StPO

1. Der Augenschein durch Vorführen der zu Beweiszwecken erstellten Bild-Ton-Aufzeichnung über die Erklärung eines Zeugen ist im Zusammenhang mit seiner Vernehmung zulässig (Fortführung von BGHSt 48, 268). (BGHSt)

2. § 250 StPO untersagt nur die Ersetzung der Zeugenaussage durch die Verwertung einer berichtenden, zu Beweiszwecken erstellten Urkunde, mag es sich dabei nun um ein Protokoll oder um eine schriftliche Erklärung des Zeugen handeln. Dass neben der Vernehmung der in Betracht kommenden Person als Zeuge eine frühere protokollarisch oder in einer schriftlichen Erklärung festgehaltene Äußerung dieser Person im Wege des Urkundenbeweises verwertet wird, verbietet die Vorschrift nicht (BGHSt 20, 160, 161 f.). (Bearbeiter)

3. Das Gesetz hat verbietet nicht die Verwertung schriftlicher Erklärungen neben der Zeugenaussage überhaupt. Es ist vielmehr von dem der Systematik des Gesetzes zu entnehmenden allgemeinen Grundsatz auszugehen, dass das Gesetz den Urkundenbeweis zulässt, wo es ihn nicht ausdrücklich untersagt. (Bearbeiter)

4. Das "Videoprotokoll" ist insoweit der Niederschrift

einer Zeugenvernehmung gleichzusetzen. (Bearbeiter)

5. Der Tatrichter hat sich regelmäßig zunächst die Frage vorzulegen, ob die persönliche Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung nach § 255a Abs. 2 StPO ersetzt werden kann. Macht er von der Vernehmungsersetzung Gebrauch, so ist die durch Vorspielen der Bild-Ton-Aufzeichnung eingeführte Vernehmung so zu behandeln, als sei der Zeuge in der Hauptverhandlung selbst gehört worden. Im Ausnahmefall kann danach die ergänzende Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung nach Maßgabe der Aufklärungspflicht oder auch des Beweisantragsrechts erforderlich werden (dazu BGHSt 48, 268). (Bearbeiter)


Entscheidung

275. BGH 3 StR 185/03 - Urteil vom 12. Februar 2004 (LG Duisburg)

BGHSt; Zeugnisverweigerungsrecht (teilweises Gebrauchmachen; Zustimmung zur Verwendung früherer Aussagen; Vorführung einer Videoaufnahme; Aussage im Ermittlungsverfahren); Verwertung eines richterlichen Vernehmung trotz Zeugnisverweigerung (Vernehmung des Richters); Unterstützung des Gedächtnisses; Einwilligung in die Vernehmung eines verstandesunreifen Zeugen; faires Verfahren (Konfrontationsrecht und Fragerecht); Bild-Ton-Aufzeichnung (vorverlagerter Teil der Hauptverhandlung; nicht einschränkbare Mitwirkungsrechte des Verteidigers, des Angeklagten).

§ 252 StPO; § 255a StPO; § 52 Abs. 2 StPO; Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK; § 168c StPO

1. Macht ein Zeuge nachträglich von seinem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO Gebrauch, darf die Bild-Ton-Aufzeichnung seiner früheren richterlichen Vernehmung nach § 255 a Abs. 1 StPO i. V. m. § 252 StPO nicht zu Beweiszwecken vorgeführt werden, obgleich auf das weniger zuverlässige Beweismittel der Vernehmung des Richters zurückgegriffen werden kann. (BGHSt)

2. Die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung nach § 255 a Abs. 2 Satz 1 StPO scheidet aus, wenn der Beschuldigte gem. § 168 c Abs. 3 StPO bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung ausgeschlossen war und daher keine Gelegenheit zur Mitwirkung hatte. Dies gilt auch dann, wenn sein Verteidiger an dieser Vernehmung teilgenommen hat. (BGHSt)

3. Sind die Voraussetzungen des § 255 a Abs. 2 Satz 1 StPO erfüllt, kann der Zeuge durch nachträgliche Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts die Verwertung der Bild-Ton-Aufzeichnung seiner früheren richterlichen Vernehmung nicht verhindern (nicht entscheidungstragend). (BGHSt)

4. Der Senat lässt - erneut, vgl. schon das Senatsurteil BGH 3 StR 181/02 vom 24. April 2003 - ausdrücklich offen, ob der Ansicht des 4. Senats in BGH 4 StR 189/99, Urteil vom 23. September 1999 = BGHSt 45, 203 zu folgen ist, wonach der von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machende Zeuge nicht gehindert sei, nach ordnungsgemäßer Belehrung die Verwertung der bei einer nichtrichterlichen Vernehmung gemachten Aussage zu gestatten. (Bearbeiter)

5. Der gesetzliche Vertreter eines im Sinne von § 52 Abs. 2 Satz 1 StPO verstandesunreifen Zeugen entscheidet nicht an dessen Stelle über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts, sondern lediglich darüber, ob er einer Vernehmung des Zeugen zustimmt oder nicht. Versagt der gesetzliche Vertreter seine Zustimmung, darf das Kind auch dann nicht vernommen werden, wenn es zur Aussage bereit wäre; stimmt der gesetzliche Vertreter einer Vernehmung zu, kann das Kind dennoch das Zeugnis rechtswirksam verweigern. (Bearbeiter)

6. Trotz § 252 StPO kann über den Inhalt einer Aussage, die ein Zeuge bei einer richterlichen Vernehmung nach ordnungsgemäßer Belehrung über sein Zeugnisverweigerungsrecht gemacht hat, durch Vernehmung des Richters Beweis erhoben werden, wenn der Zeuge sich in der Hauptverhandlung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft (Bestätigung der st. Rspr., vgl. zuletzt BGHSt 46, 189, 195 = BGH 2 StR 354/00 vom 3. November 2000).

7. Es liegt nahe, die Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Verlesung einer Vernehmungsniederschrift zur Unterstützung des Gedächtnisses des früher vernehmenden Richters in den Fällen des § 252 StPO auch auf Bild-Ton-Aufzeichnungen zu übertragen. (Bearbeiter)

8. Der vollständige Ausschluss eines Angeklagten gemäß § 168 c Abs. 3 StPO oder ein Absehen von der Benachrichtigung vom Vernehmungstermin nach § 168 c Abs. 5 StPO entziehen einer späteren Vorführung der Videoaufzeichnung in der Hauptverhandlung gemäß § 255 a Abs. 2 Satz 1 StPO stets die Grundlage, ohne dass es darauf ankäme, ob der Ausschluss im konkreten Fall rechtlich zulässig war oder nicht. (Bearbeiter)


Entscheidung

340. BGH 5 ARs (Vollz) 78/03 - Beschluss vom 3. Februar 2004 (OLG Karlsruhe)

BGHSt; Anordnung eines Trennscheibeneinsatzes bei einem Verteidigerbesuch (Recht auf Verteidigung; freier Verkehr; konkrete anderweitig nicht ausschließbare Gefahr der Geiselnahme des Verteidigers); Vorlage; Entpflichtung des Verteidigers (wichtiger Grund); verfassungsrechtliches und strafrechtliches Bestimmtheitsgebot; strafrechtliche Garantenstellung des Anstaltsleiters für Straftaten seiner Gefangenen; Menschenwürde.

Art. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art 103 Abs. 2 GG; Art. 6 EMRK; § 121 Abs. 2 GVG; § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG; § 148 StPO; § 48 Abs. 2 BRAO; § 13 StGB; § 137 StPO

Die Vollzugsbehörde darf die Anordnung eines Trennscheibeneinsatzes bei einem Verteidigerbesuch auf § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG stützen, um der konkreten, anderweitig nicht ausschließbaren Gefahr zu begegnen, dass ein Strafgefangener seinen Verteidiger zur Freipressung als Geisel nimmt (Abgrenzung zu BGHSt 30, 38). (BGHSt)


Entscheidung

306. BGH 4 StR 371/03 - Urteil vom 19. Februar 2004 (LG Münster)

BGHSt; Unzulässigkeit verfahrensbeendender Absprachen bei Anregung eines tatfremden oder verfahrensfremden Verhaltens (fehlender innerer Zusammenhang: Konnexität zur Vermeidung eines Handels mit der Gerechtigkeit; allgemeiner und besonderer latenter Druck auf den Angeklagten); Auswirkungen einer fehlgeschlagenen Verständigung; Beruhen.

Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK; § 46 StGB; § 337 StPO

1. Eine verfahrensbeendende Absprache ist unzulässig, wenn das dem Angeklagten angesonnene Verhalten ersichtlich vordergründig einem Zweck dient, der mit der angeklagten Tat und dem Gang der Hauptverhandlung in keinem inneren Zusammenhang steht (im Anschluss an BGHSt 43, 195). (BGHSt)

2. Zu den Auswirkungen einer fehlgeschlagenen Verständigung. (BGHSt)

3. Nicht jedes sozial anerkennenswerte Verhalten eines Angeklagten, das im Rahmen der Abwägung nach § 46 Abs. 2 StGB strafmildernde Berücksichtigung finden kann, kann durch das Gericht zum Gegenstand einer Absprache über die Strafzumessung gemacht werden. Dies gilt insbesondere für die Begleichung der aus der Vortat herrührenden Steuerschuld. (Bearbeiter)

4. Eine das Tatgericht bindende Zusage (vgl. BGHSt 36, 210, 214; 43, 195, 210) liegt nur dann vor, wenn es zu einer Verständigung gekommen ist, nicht bereits bei einem einseitigen Angebot des Tatgerichts. (Bearbeiter)

5. Inhaltlich setzt eine zulässige Verständigung voraus, dass bei dem Bemühen der Beteiligten um das Zustandekommen einer Absprache die freie Willensentschließung des Angeklagten gewahrt bleibt (BGHSt 43, 195, 204). Zwar gerät ein Angeklagter, dem das Gericht eine Verständigung vorschlägt, zwangsläufig in den Konflikt, sein Verhalten den Wünschen des Gerichts anzupassen oder die Möglichkeit einer deutlich höheren Strafe in Kauf zu nehmen. Dies ist jedoch hinzunehmen, sofern die Verständigung geeignet ist, anerkannten strafprozessualen Zwecken zu dienen. (Bearbeiter)


Entscheidung

300. BGH 2 ARs 330/03 - Beschluss vom 28. Januar 2004

Anfrageverfahren zur Unwirksamkeit des in einer Absprache vereinbarten Rechtsmittelverzichts (3 StR 368/02; 3 StR 415/02; Rechtsmittelverzicht als Geschäftsgrundlage der Absprache; unzulässige Willensbeeinflussung; Verstreichenlassen der Einlegungsfrist; Umgehungsmöglichkeiten; Prozesshandlungen; Rechtssicherheit und Rechtskraft); Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; Unwirksamkeit bei Täuschungen des Verteidigers); negative Beweiskraft des Protokolls bei der Verständigung.

Art. 6 EMRK; § 44 Abs. 1 Satz 1 StPO; Vor § 1 StPO; § 274 StPO; § 302 Abs. 1 StPO

1. Der Senat hält an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, die den vom 3. Strafsenat beabsichtigten Entscheidungen entgegensteht.

2. Die Erklärung des Angeklagten, auf Rechtsmittel zu verzichten, ist nicht unwirksam, wenn ihr eine Urteilsabsprache vorausgegangen ist, in der unzulässigerweise (BGHSt 43, 195, 204) ein Rechtsmittelverzicht versprochen worden ist.

3. Der Senat hat - abweichend von den in BGHSt 43, 195 ff. aufgestellten Grundsätzen - keine Bedenken, dass bei einer formgerechten einverständlichen Verfahrenserledigung unter Mitwirkung aller Verfahrensbeteiligten (auch des Staatsanwalts und ggf. des Nebenklägers) ein allseitiger Rechtsmittelverzicht in Aussicht gestellt wird, mag ein solcher auch nicht bindend sein.


Entscheidung

327. BGH 5 StR 376/03 - Beschluss vom 13. November 2003

Abgrenzung von Sachrüge und Verfahrensrüge: Anwendung auf das Recht auf Verfahrensbeschleunigung bzw. das Beschleunigungsgebot (Rüge rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung; bestimmender Strafzumessungsgrund; Rechtsstaatsprinzip; Rechtsmittelklarheit; Verfahrenshindernis; verfassungsrechtliches Darlegungsgebot; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Kriterium der Tatschuld); Berücksichtigung rechtstaatswidriger Verfahrensverzögerungen im Revisionsverfahren von Amts wegen.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 13 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 46 StGB; § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 261 StPO; § 354a StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Der Senat beabsichtigt zu entscheiden: Das Revisionsgericht hat auf Sachrüge zu prüfen, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, die eine kompensatorische Strafzumessung erforderlich macht, gegeben ist oder jedenfalls zu erörtern gewesen wäre; insoweit stehen dem Revisionsgericht als Beurteilungsgrundlage die Urteilsgründe sowie diejenigen Umstände offen, die es von Amts wegen zur Kenntnis nehmen muss (Anklage, Eröffnungsbeschluss).

2. Eine Verfahrensrüge ist dann nicht erforderlich ist, wenn die Verfahrensverzögerung nach Ablauf der Begründungsfrist für die Verfahrensrüge entstanden ist (vgl. BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 11). Im Revisionsrechtszug bewirkte Verstöße gegen das rechtsstaatliche Gebot einer angemessenen Förderung des Strafverfahrens berücksichtigen die Strafsenate des Bundesgerichtshofs durchgängig von Amts wegen, wobei regelmäßig durch das Revisionsgericht selbst ein dem Umfang der Verzögerung Rechnung tragender Strafnachlass gewährt wird (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 8, 10).

3. Eine von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens verletzt den Beschuldigten in seinem Recht auf ein faires,

rechtsstaatliches Verfahren (BVerfG NJW 2003, 2225 m.w.N.) und zugleich die in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK niedergelegte Gewährleistung, die eine Sachentscheidung innerhalb einer angemessenen Dauer sichern soll (EGMR EuGRZ 1983, 371 ff.). Ob eine in diesem Sinne unangemessene Verfahrensdauer vorliegt, ist aufgrund einer umfassenden Gesamtwürdigung festzustellen, die neben der Verzögerung durch die Justizorgane auch die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, den Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrensgegenstands sowie die für den Betroffenen damit verbundenen besonderen Belastungen berücksichtigen muss (BVerfG NJW 2003, 2225 ff.; 2228 f.).

4. Zur Herleitung verfassungs- und konventionsrechtlich begründeter besonderer Darlegungspflichten des Tatrichters bzw. den entsprechenden Grenzen einfachrechtlicher Darlegungspflichten des Rechtsmittelführers.


Entscheidung

286. BGH 1 StR 364/03 - Urteil vom 21. Januar 2004 (LG Ellwangen)

Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit (belastende Beweiswürdigung einer verspäteten freiwilligen Abgabe einer Speichelprobe; nemo tenetur; gescheitertes, widerlegtes Alibi; Recht des Beschuldigten, zu lügen; Begründung des Tatverdachtes); gefährliches Werkzeug (verwendungsspezifische Auslegung; Fesselung; sexuelle Nötigung; schwerer Raub).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 81a StPO; § 81e StPO; § 261 StPO; § 152 StPO; § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB; § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB; § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB

1. Die freie richterliche Beweiswürdigung nach § 261 StPO findet ihre Grenze an dem Recht eines jeden Menschen, nicht gegen seinen Willen zu seiner Überführung beitragen zu müssen. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, dass ein Beschuldigter nicht gehalten ist, zur eigenen Überführung tätig zu werden und an einer Untersuchungshandlung eines Strafverfolgungsorgans oder eines Sachverständigen aktiv mitzuwirken. Seine Beweisfunktion darf gegen seinen Willen nur durchgesetzt werden, sofern er lediglich passiv Beteiligter bleibt. Er selbst hat darüber zu befinden, ob er an der Aufklärung des Sachverhalts aktiv mitwirken will oder nicht. Demgemäß darf er nicht zu Tests, Tatrekonstruktionen, Schriftproben oder zur Schaffung ähnlicher, für die Erstattung eines Gutachtens notwendiger Anknüpfungstatsachen gezwungen werden.

2. Auch die Verweigerung der aktiven Mitwirkung darf dem Beschuldigten nicht als belastendes Beweisanzeichen entgegengehalten werden. Er hat die Freiheit, sich auch auf diese Weise zu verteidigen; er muss nicht seine Unschuld beweisen (vgl. BGHSt 34, 39, 45, 46; 45, 363, 364). Zur Begründung des Tatverdachts darf nicht der Umstand herangezogen werden, dass ein Beschuldigter eine freiwillige Teilnahme an einer DNA-Untersuchung abgelehnt habe (BVerfG, Kammer, NJW 1996, 1587, 1588; 1996, 3071, 3072).

3. Auch wenn der Beschuldigte seine Bereitschaft zur freiwilligen Ablieferung von Speichelproben zweimal gegenüber der Polizei erklärt hat und die letztlich nicht freiwillig gewährte Mitwirkung nach der StPO erzwingbar ist, rechtfertigt dies keine Abweichung von der bisherigen Spruchpraxis zur indiziell belastenden Verwertung prozessualen Verhaltens eines Beschuldigten.

4. Grundsätzlich darf nicht einmal der späte Zeitpunkt einer Beweisantragstellung für einen Entlastungsbeweis als Beweisanzeichen für seine Schuld gewertet werden (vgl. BGHSt 45, 367). Anderes kann allerdings nach Auffassung des Senats dann gelten, wenn sich der Beschuldigte der Anordnung einer Speichelprobe nach §§ 81a, 81e StPO - durch ein anordnungsbefugtes Organ - entzieht.

5. Ob es im Ermittlungsverfahren einen Tatverdacht im Sinne der Anordnungsvoraussetzungen für die Entnahme einer Speichelprobe verstärken kann, wenn aus einer Menge nach abstrakten Grundsätzen Tatverdächtiger sich ein kleiner Teil zu einer freiwilligen Speichelprobe nicht bereit erklärt, ist eine Frage des Einzelfalles. Wenn andere verdachtsbegründende Kriterien angeführt werden können und sich der Kreis der grundsätzlich Verdächtigen durch die Abgabe einer Vielzahl freiwilliger Speichelproben verdichtet hat, wird auch jemand zur Entnahme einer solchen Probe durch strafprozessuale Anordnung gezwungen werden können, der bis dahin keine abgegeben hat (vgl. BVerfG, Kammer, NJW 1996, 3071).

6. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann ein objektiv widerlegtes, aber auch ein nachweislich erlogenes Alibi für sich allein und ohne Rücksicht auf Gründe und Begleitumstände seines Vorbringens nicht als Beweisanzeichen für die Überführung des Angeklagten gewürdigt werden. Ebensowenig ist der lediglich gescheiterte Alibibeweis für sich allein ein Beweisanzeichen für die Täterschaft. Der Angeklagte ist nicht gehalten, sein Alibi zu beweisen. Dass er dies versucht hat, wenn auch im Ergebnis erfolglos, darf ihm nicht ohne weiteres zum Nachteil gereichen.

7. Ein widerlegtes Alibi muss bei der Beweisführung nicht stets außer Betracht bleiben. Treten besondere Umstände hinzu, so darf berücksichtigt werden, dass der Angeklagte sich bewusst wahrheitswidrig auf ein Alibi berufen hat (vgl. zu alldem BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 11, 30). Die Gründe und Begleitumstände der Alibibehauptung sind dabei zu bewerten (BGHSt 41, 153; BGH StV 1982, 158). Will der Tatrichter eine erlogene Entlastungsbehauptung als zusätzliches Belastungsanzeichen werten, so muss er sich bewusst sein, dass eine wissentlich falsche Einlassung hierzu ihren Grund nicht darin haben muss, dass der Angeklagte die Tat begangen hat, vielmehr auch eine andere Erklärung finden kann. Deshalb hat er in solchen Fällen darzutun, dass eine andere, nicht auf die Täterschaft hindeutende Erklärung im konkreten Fall nicht in Betracht kommt oder - ob-

gleich denkbar - nach den Umständen jedenfalls so fernliegt, dass sie ausscheidet (BGHR StPO § 261 Aussageverhalten 13).


Entscheidung

248. BGH 2 StR 315/03 - Beschluss vom 14. Januar 2004 (LG Frankfurt)

Beschränkung der Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt (Inverwahrnahme des Angeklagten; Verteidigerkonsultation); Recht auf angemessene Verteidigung; Wahlverteidiger (Mandatierung während der Hauptverhandlung; Aussetzung des Verfahrens; Akteneinsichtsrecht; Entpflichtung des Pflichtverteidigers); konkrete Möglichkeit des Zusammenhangs zwischen Verfahrensverstoß und Urteil; sinnvolle Mitwirkung des Verteidigers im Strafverfahren.

Art. 6 Abs. 3 lit. b und c EMRK; § 338 Nr. 8 StPO; § 231 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 229 StPO; § 137 StPO; § 140 StPO

1. Es stellt eine Beeinträchtigung der Verteidigung im Sinne des § 338 Nr. 8 StPO dar, wenn die Verteidigungsmöglichkeiten eines neu gewählten Verteidigers und damit des Angeklagten ohne sachlichen Grund in erheblichem Umfang eingeschränkt werden.

2. Eine Beeinträchtigung der Verteidigung im Sinne des § 338 Nr. 8 StPO sowie des Rechts des Angeklagten auf sachgerechte Verteidigung kann darin zu erblicken sein, dass dem Angeklagten die Konsultation des Verteidigers in der Zeit zwischen dessen erstmaliger Akteneinsicht und der Fortsetzung der Hauptverhandlung durch Inverwahrnahme des Angeklagten und Verweigerung einer Terminsverlegung unmöglich gemacht wird.

3. Der Verteidiger kann im Strafprozess entsprechend § 140 Abs. 1 StPO nur dann sinnvoll mitwirken und die Interessen des Angeklagten wirksam wahrnehmen, wenn er den Sachverhalt ausreichend kennt, genügend über die Einlassung des Angeklagten zur Anklage unterrichtet ist und ein klares Bild von den Möglichkeiten gewonnen hat, die für eine sachgemäße Verteidigung bestehen.

4. Eine Beeinträchtigung im Sinne des § 338 Nr. 8 StPO ist nur dann gegeben, wenn die Möglichkeit eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Verfahrensverstoß und dem Urteil nicht nur abstrakt, sondern konkret besteht (vgl. BGH 3 StR 390/99 - Urteil vom 24. November 1999). Wird dem Angeklagten jedoch durch Gerichtsbeschlüsse das Recht auf angemessene Verteidigung durch einen Rechtsanwalt seines Vertrauens (BVerfG StV 2002, 521) genommen, so ist dies der Fall.


Entscheidung

298. BGH 1 StR 574/03 - Urteil vom 2. März 2004 (LG München)

Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit (Misstrauen hinsichtlich der Unparteilichkeit; Unmutsaufwallung und gehäuftes Auftreten verfehlter Formulierungen; individuelle Ansprache; Vorwurf des Leugnens; ausnahmsweise Einbeziehung präkludierter Umstände: Wiederaufgreifen verfehlter Formulierungen - "Albanerfall"); absolute Revisionsgründe (Zweifel des Senats an deren Berechtigung).

Art. 6 I 1 EMRK; § 24 Abs. 2 StPO; § 338 Nr. 3 StPO

1. Das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes ist grundsätzlich vom Standpunkt des Angeklagten aus zu beurteilen. Ob der Richter tatsächlich parteiisch oder befangen ist, spielt keine Rolle. Misstrauen in die Unparteilichkeit eines Richters ist dann gerechtfertigt, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, der Richter nehme ihm gegenüber eine innere Haltung ein, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann. Dabei ist der Sachverhalt auch unter Berücksichtigung der Dienstlichen Erklärung des abgelehnten Richters zu beurteilen; zunächst berechtigt erscheinendes Misstrauen ist danach möglicherweise zu überwinden (vgl. BGHSt 4, 264, 269, 270; BGH wistra 2002, 267).

2. Aus der Verhandlungsführung des Richters kann sich ein solches Misstrauen in die Unvoreingenommenheit ergeben, wenn dieser in grob unsachlicher Weise seinen Unmut zum Ausdruck bringt, wenn er den Angeklagten bedrängt, zur Sache auszusagen oder ein Geständnis abzulegen oder wenn er den Angeklagten sonst unter Verletzung des richterlichen Verhandlungsstils in unangemessener oder gar ehrverletztender Weise behandelt. Nicht zu beanstanden ist es hingegen, wenn er dem Angeklagten in nachdrücklicher Form Vorhalte macht, sich in nach Sachlage noch verständlichen Unmutsäußerungen ergeht ("Unmutsaufwallungen"), auf das nach dem gegebenen Sachstand zu erwartende Verfahrensergebnis hinweist oder die Bedeutung eines Geständnisses für die Strafzumessung hervorhebt.

3. Einem Richter ist es unbenommen, situationsangemessen und auf das Naturell des jeweiligen Angeklagten eingehend, entsprechende Erklärungen und Fragen auch mit Nachdruck und in klarer, dem jeweiligen Angeklagten sicher verständlicher Sprache zu formulieren. Dabei darf er auch Worte wählen, mit denen er den jeweiligen Angeklagten wirksam erreicht ("individuelle Ansprache"). Er darf aber nicht den Eindruck vermitteln, er, habe sich hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme bereits festgelegt und werfe dem Angeklagten vor, dass er von seinem Recht, zu leugnen, Gebrauch mache.

4. Auch wenn Äußerungen des Richters nach § 25 Abs. 2 StPO präkludiert sind, können sie ausnahmsweise in die Beurteilung der Besorgnis der Befangenheit einbezogen werden, wenn das frühere präkludierte Geschehen einem weiteren, grundsätzlich berechtigten Ablehnungsgrund ein erhöhtes Gewicht verleiht (vgl. dazu BGHR StPO § 24 Abs. 2 Vorsitzender 4; hier: Vorbehalte gegen eine Volksgruppe).


Entscheidung

324. BGH 5 StR 307/03 - Beschluss vom 3. Dezember 2003 (LG Hamburg)

Beweisthemenbezogener Widerspruch gegen die Verwertung von Beschuldigtenangaben im Hinblick auf die Verletzung des Verteidigerkonsultationsrechts und grundsätzlich erforderlicher Einzelwiderspruch hinsichtlich jedes einzelnen zeugenschaftlich vernommenen Vernehmungsbeamten; Beruhen.

Art. 6 EMRK; § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 137 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 163a Abs. 4 StPO; § 257 StPO; § 337 StPO

1. Grundsätzlich ist jede Zeugenvernehmung eines Vernehmungsbeamten bezüglich ihrer Verwertbarkeit für sich zu betrachten (vgl. BGHSt 39, 349, 352).

2. Hat der Verteidiger nicht rechtzeitig einen beweisthemenbezogenen Widerspruch gegen die Verwertung von Beschuldigtenangaben im Hinblick auf die Verletzung des Verteidigerkonsultationsrechts erhoben, bedarf es spätestens zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt des Widerspruchs bezogen auf jeden einzelnen zeugenschaftlich vernommenen Vernehmungsbeamten. (beweismittelbezogener bzw. beweisthemenbezogener Widerspruch).


Entscheidung

311. BGH 4 StR 475/03 - Urteil vom 25. Februar 2004 (LG Stendal)

Vorteilsannahme; Beweiswürdigung beim Freispruch (lückenhafte; zu hohe Anforderungen an die Überzeugungsbildung); Beschuldigteneigenschaft (Belehrungspflichten; Zeugenstellung; Verwertungsverbot).

§ 331 StGB; § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 163 a Abs. 3 Satz 2 StPO; § 261 StPO

1. Nicht jeder Tatverdacht begründet bereits die Beschuldigteneigenschaft mit der Folge einer entsprechenden Belehrungspflicht durch den Vernehmenden; es kommt vielmehr auf die Stärke des Tatverdachts an. Es obliegt der Strafverfolgungsbehörde, nach pflichtgemäßer Beurteilung dann von einer Zeugen- zur Beschuldigtenvernehmung überzugehen, wenn sich der Verdacht so verdichtet, dass die vernommene Person ernstlich als Täter der untersuchten Straftat in Betracht kommt (vgl. BGHSt 37, 48, 51 f.; BGH NStZ-RR 2002, 67; BGHR StPO § 55 Abs. 1 Verfolgung 3 und § 136 Belehrung 6).

2. Für die erforderliche Überzeugungsbildung bedarf es keiner absoluten, das Gegenteil denknotwendig - "zwingend" - ausschließenden und von niemanden anzweifelbaren Gewissheit, vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige und nicht bloß denktheoretisch mögliche Zweifel nicht zulässt (st. Rspr.; vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16).


Entscheidung

285. BGH 3 StR 481/03 - Beschluss vom 15. Januar 2004 (LG Berlin)

Zuwiderhandeln gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot (PKK); Inbegriff der Hauptverhandlung (schriftliche Erklärung des Angeklagten: Anlage zum Protokoll, Verlesung als Urkunde, Mündlichkeitsprinzip); Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung; Strafzumessung.

§ 18 Satz 2 VereinsG; § 261 StPO; § 249 Abs. 1 StPO; § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO; § 337 StPO; § 46 StGB

1. Eine vorbereitete schriftliche Erklärung des Angeklagten, die der Verteidiger verliest und dann als Anlage zum Protokoll überreicht, wird dadurch nicht zum Inbegriff der Hauptverhandlung, da über ihren Wortlaut kein Beweis erhoben wird. Gegenstand der Hauptverhandlung wird lediglich der mündliche Vortrag durch den Verteidiger und die zustimmende Erklärung des Angeklagten. Das Revisionsgericht kann nicht unter Rückgriff auf die als Anlage zum Protokoll gereichte Erklärung prüfen, ob diese vollständig und zutreffend in den Urteilsgründen wiedergegeben ist (Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung).

2. Der Senat bemerkt obiter, dass eine vorbereitete schriftliche Erklärung des Angeklagten zwar zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden kann, indem seine Verlesung als Urkunde angeordnet wird (vgl. § 249 Abs. 1 StPO), der Tatrichter aber hierzu nicht verpflichtet ist, da der Angeklagte selbst gehört werden kann (Mündlichkeitsprinzip; vgl. § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO).


Entscheidung

280. BGH 3 StR 438/03 - Beschluss vom 16. Dezember 2003 (LG Oldenburg)

Besetzung des Gerichts (zwei oder drei Berufsrichter); Umfang und Schwierigkeit der Sache (Entscheidung über Sicherungsverwahrung; Umfang des Aktenmaterials; Zahl der Zeugen; Dauer der Hauptverhandlung); gesetzlicher Richter.

Art. 101 Abs. 1 GG; § 338 Nr. 1 StPO; § 222a StPO; § 222b StPO; § 76 Abs. 2 GVG; § 66 StGB

1. Der Strafkammer steht bei der Entscheidung, ob Umfang und Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Berufsrichters erfordern (§ 76 Abs. 2 GVG), ein weiter Beurteilungsspielraums zu (vgl. BGHSt 44, 328 ff.).

2. Auch in Verfahren, in denen die Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) in Betracht kommt, ist eine Entscheidung der Strafkammer, in der Besetzung mit nur zwei Berufsrichtern zu entscheiden, nicht schlechthin unvertretbar. Bei der Entscheidung sind jedoch das Gewicht der Maßregel und der mit der Feststellung ihrer Voraussetzungen gegebenenfalls verbundene Aufwand zu berücksichtigen.

3. Lassen Umfang des Aktenmaterials, die Anzahl der zu ladenden Zeugen und Sachverständigen sowie Art und Zahl der angeklagten Taten vermuten, dass mit einem ungewöhnlich langen Verfahren zu rechnen ist, so ist die Entscheidung, in der Besetzung mit nur zwei Berufsrichtern zu entscheiden, unvertretbar.


Entscheidung

326. BGH 5 StR 359/03 alt: 5 StR 127/02 - Beschluss vom 3. Februar 2004 (LG Bremen)

Nachholung rechtlichen Gehörs; Beschlussverfahren (Begründung; offensichtliche Unbegründetheit).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 349 Abs. 2 StPO; § 33a StPO

1. Ohne Festlegung auf eine jeden Einzelfall erfassende Definition entspricht es ständiger Spruchpraxis, dass eine Revision auch dann durch Beschluss verworfen werden kann, wenn der jeweilige Spruchkörper einhellig die Auffassung vertritt, dass die von der Revision aufgeworfenen Rechtsfragen zweifelsfrei zu beantworten sind und dass auch die Durchführung der Hauptverhandlung keine neuen Erkenntnisse erwarten lässt, die Zweifel an dem gefundenen Ergebnis aufkommen lassen könnten (BGHR StPO § 349 Abs. 2 Verwerfung 6).

2. Das Revisionsgericht darf selbst dann eine Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO verwerfen, wenn es die Ausführungen des Generalbundesanwalts nur im Ergebnis für zutreffend hält, sich aber nicht in allen Teilen der Begründung anschließt (BGH NJW 2002, 3266). Diese Verfahrensweise ist verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfG NJW 1982, 925; NStZ 2002, 487; NJW 2002, 814). Das Bundesverfassungsgericht erachtet es allerdings in einem solchen Fall für sinnvoll, dass das Revisionsgericht die eigene Rechtsauffassung in einem Zusatz begründet.


Entscheidung

288. BGH 1 StR 369/03 - Urteil vom 17. Februar 2004 (LG Nürnberg)

Ausnahmsweise nachträgliche Gesamtstrafenbildung im Beschlussverfahren (Erörterungsmängel; Darlegungspflichten).

§ 55 StGB; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 460 StPO; § 462 StPO

1. Die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (seit BGHSt - GS - 12, 1) grundsätzlich Sache des Tatrichters. Er darf dies in der Regel nicht dem Beschlussverfahren nach §§ 460, 462 StPO überlassen.

2. Es gibt jedoch Ausnahmen. Der Tatrichter darf die nachträgliche Gesamtstrafenbildung insbesondere dann dem Beschlussverfahren überlassen, wenn er auf Grund der bislang gewonnenen Erkenntnisse keine sichere Entscheidung fällen kann, etwa weil die Unterlagen für eine möglicherweise gebotene Gesamtstrafenbildung nicht vollständig vorliegen - ohne dass dies auf unzureichender Terminsvorbereitung beruht - und die Hauptverhandlung allein wegen deshalb noch notwendiger Erhebungen mit weiterem erheblichem Zeitaufwand belastet werden würde (BGHSt - GS - 12, 1, 10; BGHSt 23, 98, 99).

3. Enthalten die Urteilsgründe keine erschöpfenden Ausführungen zu den Vorverurteilungen, deren Einbeziehung in die Gesamtstrafe im Grundsatz gemäß § 55 StGB zu prüfen gewesen wäre, ohne ausdrücklich mitzuteilen, weshalb die entsprechenden Feststellungen nicht getroffen werden konnten, so liegt darin kein Erörterungsmangel. Wie sogar das Vorliegen der Voraussetzungen für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung durch Schweigen verneint werden kann, so ist bei fehlenden oder nicht vollständigen Darlegungen zu den Voraussetzungen einer in Betracht kommenden nachträglichen Gesamtstrafenbildung grundsätzlich davon auszugehen, dass dem erkennenden Gericht die notwendigen Unterlagen zu den Vorverurteilungen und zu deren Vollstreckung nicht zugänglich waren, und dass das Gericht deshalb die nachträgliche Gesamtstrafenbildung zu Recht dem Beschlussverfahren gemäß §§ 460, 462 StPO überlassen hat. Soll anderes geltend gemacht werden, so wird dies einer gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zu begründenden Verfahrensrüge bedürfen.


Entscheidung

293. BGH 1 StR 379/03 - Urteil vom 21. Januar 2004 (LG Landshut)

Beweiswürdigung (lückenhafte; fernliegende Erwägungen des Tatgerichts; generelle Glaubwürdigkeit: Tendenz zu falschen Aussagen und Gewaltandrohungen des von diesen begünstigenden Angeklagten; Freispruch; Gesamtwürdigung zur Glaubhaftigkeit einer Aussage; Aussagen von Kindern); Zulässigkeit der Revision der Nebenklage.

§ 400 StPO; § 261 StPO

1. Die "generelle" Glaubwürdigkeit einer Person lässt allenfalls begrenzte Rückschlüsse auf die Glaubhaftigkeit der konkreten fallbezogenen Aussage zu (vgl. BGH StV 1994, 64).

2. Ein möglicher Zusammenhang zwischen den festgestellten Tendenzen zu falschen, den Angeklagten begünstigenden Angaben und der vom Angeklagten offenbar immer wieder ausgeübten massiven Gewalt ist bei der Gewichtung der festgestellten Falschaussagen hinsichtlich der Glaubhaftigkeit einer Aussage in die Erwägungen einzubeziehen.

3. Bei einem Widerspruch zwischen mehreren Erkenntnisquellen hat das Gericht ohne Rücksicht auf deren Art und Zahl darüber zu befinden, in welchen von ihnen die Wahrheit ihren Ausdruck gefunden hat. Stehen sich Bekundungen eines - insbesondere einzigen - Zeugen und des Angeklagten unvereinbar gegenüber ("Aussage gegen Aussage"), darf das Gericht allerdings den Bekundungen dieses Zeugen nicht deshalb, weil er Anzeigeerstatter und (gegebenenfalls) Geschädigter ist, ein schon im Ansatz ausschlaggebend höheres Gewicht beimessen als den Angaben des Angeklagten. Maßgebend ist nicht allein die formale Stellung des Aussagenden im Prozess, sondern der innere Wert einer Aussage, also deren Glaubhaftigkeit. Es ist in einer Gesamtwürdigung (vgl. BGHSt 44, 153, 158 f. m.w. Nachw.) zu entscheiden, ob einer solchen Zeugenaussage gefolgt werden kann (vgl. eingehend BGHSt 45, 164, 170 ff.).


Entscheidung

341. BGH 5 StR 364/03 - Urteil vom 16. März 2004 (LG Bonn)

Umsatzsteuerhinterziehung (Strafzumessung); Zulässigkeit der Aufklärungsrüge (Darlegungspflicht); Bildung einer kriminellen Vereinigung bei einem Umsatzsteuerkarussell (Gruppenwille; Bandendelikte).

§ 370 AO; § 46 StGB; § 129 StGB; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Die Angabe der den Mangel enthaltenden Tatsachen i.S. des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO hat mit Bestimmtheit und so genau und vollständig zu erfolgen, dass das Revisionsgericht allein auf Grund der Rechtfertigungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen zutreffen.

2. Eine Aufklärungsrüge ist nur dann begründet, wenn der Tatrichter es unterlassen hat, eine bestimmte Beweistatsache unter Benutzung eines bestimmten Beweismittels aufzuklären, obwohl sich ihm die unterbliebene Beweiserhebung aufdrängen musste (BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Aufklärungsrüge 6 m.w.N.). Deshalb setzt eine zulässige Aufklärungsrüge zunächst voraus, dass ein bestimmtes Beweismittel und ein bestimmtes zu erwartendes Beweisergebnis benannt werden (BGH aaO).

3. Eine kriminelle Vereinigung im Sinne des § 129 Abs. 1 StGB ist ein im räumlichen Geltungsbereich des Grundgesetzes bestehender auf Dauer angelegter organisatorischer Zusammenschluss von mindestens drei Personen, die bei Unterordnung des Willens des einzelnen unter den Willen der Gesamtheit gemeinsame (kriminelle) Zwecke verfolgen oder gemeinsame (kriminelle) Tätigkeiten entfalten und unter sich derart in Beziehung stehen, dass sie sich untereinander als einheitlicher Verband fühlen. Eine solche Vereinigung setzt die Unterordnung des einzelnen unter den Willen der Gesamtheit voraus. Es ist dabei aber möglich, dass eine Person als Anführer eingesetzt wird, nach dem sich die anderen richten (BGHR StGB § 129 Gruppenwille 1 m.w.N.).


Entscheidung

266. BGH 2 StR 493/03 - Beschluss vom 28. Januar 2004 (LG Frankfurt)

Revisionsantrag (Auslegung der Rechtsmittelbeschränkung: Maßregelanordnung, Anlasstat); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang; spezifischer Zusammenhang zwischen Hang und Anlasstat).

§ 64 StGB; § 344 Abs. 1 StPO

Die Revision kann nicht wirksam darauf beschränkt werden, dass zwar der gesamte Schuldspruch, nicht aber die darauf gegründete Maßregelanordnung angefochten werde. Das Rechtsmittel ist in diesem Fall als unbeschränkt eingelegt anzusehen. Denkbar ist hingegen eine auf den Strafausspruch beschränkte Anfechtung des Urteils.


Entscheidung

325. BGH 5 StR 314/03 - Urteil vom 17. März 2004 (LG Dresden)

Kognitionspflicht (Tat im prozessualen Sinne); Insolvenzverschleppung.

§ 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG; § 264 StPO

1. Das Sachurteil muss den durch die zugelassene Anklage abgegrenzten Prozessstoff erschöpfen (st. Rspr., vgl. nur BGH NStZ 1997, 127 m.w.N.). Die Tat als Gegenstand der Urteilsfindung ist der geschichtliche Vorgang, auf den Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (BGHR StPO § 264 Abs. 1 Tatidentität 4 m.w.N.). Hierbei handelt es sich um einen eigenständigen Begriff; er ist weiter als derjenige der Handlung im sachlichen Recht (BGHSt 29, 288, 292 m.w.N.).

2. Zur Tat im prozessualen Sinne gehört - unabhängig davon, ob Tateinheit oder Tatmehrheit vorliegt - das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt (BGHSt 32, 215, 216 m.w.N.). Somit umfasst der Lebensvorgang, aus dem die zugelassene Anklage einen strafrechtlichen Vorwurf herleitet, alle damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse, auch wenn diese in der Anklageschrift nicht ausdrücklich erwähnt sind (BGH aaO). Dabei kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an. Entscheidend ist, ob zwischen den in Betracht kommenden Verhaltensweisen - unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung - ein enger sachlicher Zusammenhang besteht (BGH aaO S. 217).