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HRR-Strafrecht
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juli 2003
4. Jahrgang
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1. Die vernehmungsersetzende Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung einer früheren richterlichen Vernehmung in der Hauptverhandlung nach § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO erfordert nicht, dass der Verteidiger vor seiner Mitwirkung an jener früheren Vernehmung teilweise oder vollständige Akteneinsicht nehmen konnte. (BGHSt)
2. Die Notwendigkeit zu einer ergänzenden Vernehmung in der Hauptverhandlung kann sich nach Maßgabe der richterlichen Aufklärungspflicht ergeben (§ 255a Abs. 2 Satz 2, § 244 Abs. 2 StPO). Die Beurteilung insoweit ist stets eine Frage des Einzelfalles. (BGHSt)
3. Ein Antrag auf ergänzende Vernehmung in der Hauptverhandlung ist nach den Grundsätzen des Beweisantragsrechts zu behandeln, wenn der Zeuge zum Beweis einer neuen Behauptung benannt ist, zu der er bei der aufgezeichneten und vorgeführten Vernehmung noch nicht gehört werden konnte. (BGHSt)
4. Das Fragerecht (Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK) selbst ist durch das etwaige Unterbleiben einer vorherigen Akteneinsicht nicht verletzt; es wird durch die Gelegenheit zur Teilnahme an der aufgezeichneten Vernehmung und zur Befragung der Beweisperson gewahrt. In seinen Gewährleistungsbereich fällt nicht, dass es auf der Grundlage der Kenntnis des aktuellen Standes der Ermittlungen ausgeübt wird. Ein dahingehendes Verständnis würde die Regelung des Akteneinsichtsrechts mit ihrer den Untersuchungszweck sichernden Versagungsmöglichkeit und das Beweissicherungsinteresse, mithin das allgemeine Aufklärungs- und Wahrheitsfindungsinteresse nicht hinreichend berücksichtigen. (Bearbeiter)
5. Der Aufklärungspflicht des erkennenden Richters in der Hauptverhandlung kommt bei einer Vernehmungsersetzung allerdings erhöhte Bedeutung zu. Eine ergänzende Vernehmung in der Hauptverhandlung wird sich oft aufdrängen, wenn nach der aufgezeichneten Vernehmung weitere Beweisergebnisse angefallen sind, die mit den Angaben des Zeugen in wesentlichen Punkten nicht im Einklang stehen oder sonst klärungsbedürftige weitere Fragen aufwerfen (Bearbeiter)
6. Beschränkt sich der Ausschluss der Öffentlichkeit auf einen bestimmten Verfahrensabschnitt, wie hier die Dauer der (weiteren) Vernehmung eines Zeugen unter Einschluss einer Augenscheinseinnahme, so umfasst er alle Verfahrensvorgänge, die mit der Vernehmung in enger Verbindung stehen oder sich aus ihr entwickeln und die daher zu diesem Verfahrensabschnitt gehören. Dazu zählt nach bisheriger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch die Entscheidung über die Vereidigung des Zeugen, die noch während des Ausschlusses der Öffentlichkeit vorgenommen werden kann (vgl. nur BGH NJW 1996, 2663). Nichts anderes kann für die Entlassung des Zeugen gelten. (Bearbeiter)
7. Handlungen, die auch außerhalb der Hauptverhandlung vorgenommen werden dürfen oder jedenfalls außerhalb der Hauptverhandlung in Abänderung von Anordnungen in der Hauptverhandlung ergehen dürfen, können auch im Rahmen der Hauptverhandlung während des Ausschlusses der Öffentlichkeit erledigt werden, ohne dass darin ein Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit liegt (vgl. BGH NStZ 2002, 106, 107). (Bearbeiter)
1. Steht für das Revisionsgericht fest, dass der abgelehnte Richter zu keinem Zeitpunkt befangen war, so vermag der bloße formale Verstoß gegen die Wartepflicht des § 29 Abs. 1 StPO die Revision nicht zu begründen. (BGHSt)
2. Geht das Ablehnungsgesuch vor der Hauptverhandlung ein, bestimmt sich die Befugnis des abgelehnten Richters zur Vornahme richterlicher Handlungen grundsätzlich ab diesem Zeitpunkt nach § 29 Abs. 1 StPO. Danach hat ein abgelehnter Richter vor Erledigung des Ablehnungsgesuchs nur solche Handlungen vorzunehmen, die keinen Aufschub gestatten. Unaufschiebbar im Sinne dieser Vorschrift sind Handlungen, die wegen ihrer Dringlichkeit nicht anstehen können, bis ein Ersatzrichter eintritt (vgl. BGH NStZ 2002, 429, 430). (Bearbeiter)
3. Die Vorschrift des § 29 Abs. 1 StPO trägt der unterschiedlichen Interessenlage bei der Ablehnung eines Richters Rechnung. Sie dient primär der Verfahrensförderung: Die Anbringung eines Ablehnungsgesuchs soll für sich allein nicht die Wirkung haben, dass der Abgelehnte sogleich von jeder Mitwirkung in der Sache ausgeschlossen wird. Anderenfalls hätte es ein Verfahrensbeteiligter in der Hand, die Vornahme dringlicher Untersuchungshandlungen durch Vorbringen eines unbegründeten Ablehnungsgesuchs zu verhindern. (Bearbeiter)
1. Ein Tatrichter ist - auch auf der Grundlage der Entscheidung BGHSt 45, 203, 208 - regelmäßig nicht verpflichtet, einen Zeugen, der von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, zu befragen, ob er gleichwohl in die Verwertung früherer Aussagen einwilligt, sofern nicht im Einzelfall besondere Hinweise auf eine solche Bereitschaft gegeben sind. (BGHR)
2. Der Senat lässt offen, ob er der Entscheidung des 4. Strafsenats in BGHSt 45, 203 folgen würde, wonach die Geltendmachung des Zeugnisverweigerungsrechts nach § 252 StPO durch einen Zeugen die Verwertung einer früheren, auch nicht richterlichen, Vernehmung nicht hindert, wenn der Zeuge sie gestattet (BGHSt 45, 203, 208). (Bearbeiter)
1. Bei fehlender Vereidigung eines Schöffen ist das Gericht im Sinne des § 338 Nr. 1 StPO nicht vorschriftsmäßig besetzt. Die Revision kann jedoch regelmäßig auf den Besetzungsfehler nur gestützt werden, wenn der Beschwerdeführer den Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung in der Hauptverhandlung rechtzeitig gemäß § 222 b Abs. 1 Satz 1 StPO erhoben hat (im Anschluss an Senatsurteil vom 12. Juli 2001 - 4 StR 550/00). (BGHR)
2. Bei fehlender Vereidigung eines Schöffen liegt kein Revisionsgrund nach § 338 Nr. 2 oder Nr. 5 StPO vor, jedoch ist in diesen Fällen das Gericht im Sinne des § 338 Nr. 1 StPO nicht vorschriftsmäßig besetzt (BGHSt 3, 175, 176; 4, 158, 159). Wird der Mangel noch in der Hauptverhandlung behoben, so muss diese nach der Vereidigung in ihren wesentlichen Teilen wiederholt werden (BGHR StPO § 338 Nr. 1 Schöffe 8 verspätete Vereidigung). Es bedarf keiner näheren Darlegung, dass die Verlesung des Anklagesatzes zu den wesentlichen Teilen der Hauptverhandlung zählt. (Bearbeiter)
3. Das Fehlen der in § 45 Abs. 2 Satz 1 DRiG vorgeschriebenen Vereidigung stellt keinen Mangel in der Person des Schöffen dar, der von der Rügepräklusion nicht erfasst würde. (Bearbeiter)
4. Sinn und Zweck der Rügepräklusionsvorschriften ist zu unterbinden, dass die Besetzungsrüge als bloßes Mittel zu einer aus anderen Gründen für wünschbar gehaltenen Urteilsaufhebung benutzt wird. (Bearbeiter)
Für die Zulässigkeit einer Verfahrensrüge genügt es nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, dass die den Mangel begründenden Tatsachen vollständig vorgetragen werden. Dagegen ist die Angabe von Beweismitteln und der Aktenstellen, aus denen sich diese Tatsachen ergeben, nicht erforderlich.
1. Die Vernehmung eines sachferneren anstelle des sachnäheren Zeugen widerspricht nicht dem Grundsatz der Unmittelbarkeit (§ 250 StPO), vielmehr ist es eine Frage der dem Gericht obliegenden Aufklärungspflicht und der Beweiswürdigung, ob es sich mit dem sachferneren Zeugen begnügen darf (BGHR StPO § 250 Satz 1 Unmittelbarkeit 1).
2. Ein Gericht kommt aber seiner Pflicht zur umfassenden Sachaufklärung regelmäßig nicht ausreichend nach, wenn es zum Nachweis einer vom Angeklagten bestrittenen Tat ein sachnäheres Beweismittel nicht heranzieht, obwohl es erreichbar ist. Nur dann, wenn ein Zeuge für seine unmittelbare Vernehmung nicht zur Verfügung steht, ist es unter dem Gesichtspunkt der Amtsaufklärungspflicht unbedenklich, allein das sachfernere Beweismittel zu benutzen (BGHSt 32, 115, 123).
3. Die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten hat nämlich regelmäßig nur dann Bestand, wenn sie sich aufgrund einer Gesamtwürdigung aller, nicht nur die Tat, sondern auch den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist (vgl. BGHR StGB § 47 Abs. 1 Umstände 6 m. w. N.).
Eine Klageabweisung kommt im Adhäsionsverfahren nicht in Betracht. Der Sache nach handelt es sich bei einer teilweisen Anerkennung des Anspruchs im Adhäsionsverfahren um ein Teilendurteil. Der Ausspruch des Absehens von einer Entscheidung beendet die Rechtshängigkeit des vermögensrechtlichen Anspruchs.
Wenn auch nach der Aufhebung durch das Revisionsgericht nicht aufgehobene Feststellungen nicht in Rechtskraft erwachsen, sind sie für das weitere Verfahren bindend geworden. Sie bilden zusammen mit dem neuen Urteil die einheitliche instanzabschließende Entscheidung. Der neue Tatrichter muss diese Feststellungen weder wiederholen noch hierauf Bezug nehmen (BGH NStZ-RR 2002, 233).
Über den Wortlaut des § 231 Abs. 2 StPO hinaus setzt eine Fortsetzung einer unterbrochenen Hauptverhandlung in Fällen des Ausbleibens des Angeklagten voraus, dass eine Eigenmächtigkeit des Angeklagten vorliegt und diese ihm nachgewiesen werden kann. Eigenmächtiges Fernbleiben liegt nur vor, wenn der Angeklagte wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht nachkommt, ohne dafür hinreichende Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe zu haben (BGHSt 37, 249). Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Gericht Grund zu der Annahme hatte, der Angeklagte sei eigenmächtig ferngeblieben, sondern nur darauf, ob nach den objektiven Gegebenheiten diese Eigenmächtigkeit tatsächlich vorlag und erwiesen ist. Mit Recht ist deshalb zu verlangen, dass das Gericht dies so sorgfältig zu prüfen hat, dass eine nachträgliche Entschuldigung ausgeschlossen erscheint.
Die Revisionsrücknahme ist ebenso wie der Rechtsmittelverzicht generell unwiderruflich und unanfechtbar (st. Rspr., vgl. BGHSt 46, 257, 258; BGHR StPO § 302 Abs. 1 Rücknahme 6); nur in eng begrenztem Umfang erkennt die Rechtsprechung Ausnahmen an (vgl. BGHSt 45, 51, 53 m.w.N.). Ein solcher Ausnahmefall ist hier schon deshalb nicht gegeben, weil die unrichtige Auskunft, durch die der Angeklagte zu seiner Erklärung veranlasst wurde, nicht durch das Gericht (vgl. hierzu BGHSt 46, 257 f.), sondern durch den Wahlverteidiger erteilt wurde (vgl. BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 8).
Das Fehlen eines solchen ausdrücklichen Antrags ist dann unschädlich, wenn sich aus dem Inhalt der fristgerecht eingereichten Revisionsrechtfertigung das Anfechtungsziel eindeutig ergibt. Dies gilt auch für Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers (BGH NJW 2003, 839). Geht es indessen um einen Angeklagten, der entsprechend dem Antrag der Staatsanwaltschaft wegen einer Vielzahl von Straftaten verurteilt worden ist, lässt sich deren Anfechtungsziel aus einer nicht näher ausgeführten allgemeinen Sachrüge nicht sicher ermitteln. Gerade die Staatsanwaltschaft ist als unabhängiges Rechtspflegeorgan in jedem Stadium des Verfahrens zur Prüfung des Umfangs der Strafverfolgung verpflichtet. Das Ergebnis dieser Prüfung muss in einem entsprechenden Revisionsantrag Ausdruck finden.
Gemäß § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO darf die Frist zur Fertigstellung der schriftlichen Urteilsgründe nur überschritten werden, wenn und solange das Gericht durch einen im Einzelfall nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand an ihrer Einhaltung gehindert worden ist. Hierzu zählen weder Umstände, die die Organisation des Gerichts betreffen, noch die allgemeine Arbeitsüberlastung der Richter. Insbesondere sind Berufsrichter gehalten, zunächst eine bereits verkündete Sache fristgemäß zum Abschluss zu bringen, bevor sie in anderen Sachen - seien diese auch eilbedürftig - tätig werden.
Der Umstand, dass eine wirksame - wegen vorangegangener Mängel erneute - Zustellung des Urteils für den Beginn dieser Begründungsfrist noch ausstand (§§ 343 Abs. 2, 345 Abs. 1 Satz 2 StPO) und erst später nachgeholt wurde, berührt die Zulässigkeit der bereits erhobenen Rüge nicht. Dabei steht es dem Beschwerdeführer offen, die Sachrüge bis zur Entscheidung des Revisionsgerichts näher auszuführen (BGH NStZ 1988, 17, 20), ohne nach der erneuten Zustellung des Urteils an die Frist des § 345 Abs. 1 StPO gebunden zu sein.