HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2003
4. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)



Entscheidung

BGH 1 StR 64/03 - Beschluss vom 15. April 2003 (LG München I)

BGHSt; vernehmungsersetzende Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung einer früheren richterlichen Vernehmung in der Hauptverhandlung ohne teilweise oder vollständige Akteneinsicht; ergänzende Vernehmung in der Hauptverhandlung nach Maßgabe der richterlichen Aufklärungspflicht (Behandlung des Antrags auf ergänzende Vernehmung in der Hauptverhandlung nach den Grundsätzen des Beweisantragsrechts); Öffentlichkeitsgrundsatz (Umfang des Öffentlichkeitsausschlusses; Ausschluss des Beruhens bei absoluten Revisionsgründen); Beweisantrag (negative Beweistatsache; Beweisbehauptung beim Zeugenbeweis und Beweisziel; Auslegungsfähigkeit des Ablehnungsbeschlusses); Konfrontationsrecht (Fürsorge; faires Verfahren; Opferschutz).

§ 244 StPO; § 255a Abs. 2 StPO; § 147 StPO; § 338 Nr. 6 StPO; § 337 StPO; § 169 GVG; Art. 6 EMRK

1. Die vernehmungsersetzende Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung einer früheren richterlichen Vernehmung in der Hauptverhandlung nach § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO erfordert nicht, dass der Verteidiger vor seiner Mitwirkung an jener früheren Vernehmung teilweise oder vollständige Akteneinsicht nehmen konnte. (BGHSt)

2. Die Notwendigkeit zu einer ergänzenden Vernehmung in der Hauptverhandlung kann sich nach Maßgabe der richterlichen Aufklärungspflicht ergeben (§ 255a Abs. 2 Satz 2, § 244 Abs. 2 StPO). Die Beurteilung insoweit ist stets eine Frage des Einzelfalles. (BGHSt)

3. Ein Antrag auf ergänzende Vernehmung in der Hauptverhandlung ist nach den Grundsätzen des Beweisantragsrechts zu behandeln, wenn der Zeuge zum Beweis einer neuen Behauptung benannt ist, zu der er bei der aufgezeichneten und vorgeführten Vernehmung noch nicht gehört werden konnte. (BGHSt)

4. Das Fragerecht (Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK) selbst ist durch das etwaige Unterbleiben einer vorherigen Akteneinsicht nicht verletzt; es wird durch die Gelegenheit zur Teilnahme an der aufgezeichneten Vernehmung und zur Befragung der Beweisperson gewahrt. In seinen Gewährleistungsbereich fällt nicht, dass es auf der Grundlage der Kenntnis des aktuellen Standes der Ermittlungen ausgeübt wird. Ein dahingehendes Verständnis würde die Regelung des Akteneinsichtsrechts mit ihrer den Untersuchungszweck sichernden Versagungsmöglichkeit und das Beweissicherungsinteresse, mithin das allgemeine Aufklärungs- und Wahrheitsfindungsinteresse nicht hinreichend berücksichtigen. (Bearbeiter)

5. Der Aufklärungspflicht des erkennenden Richters in der Hauptverhandlung kommt bei einer Vernehmungsersetzung allerdings erhöhte Bedeutung zu. Eine ergänzende Vernehmung in der Hauptverhandlung wird sich oft aufdrängen, wenn nach der aufgezeichneten Vernehmung weitere Beweisergebnisse angefallen sind, die mit den Angaben des Zeugen in wesentlichen Punkten nicht im Einklang stehen oder sonst klärungsbedürftige weitere Fragen aufwerfen (Bearbeiter)

6. Beschränkt sich der Ausschluss der Öffentlichkeit auf einen bestimmten Verfahrensabschnitt, wie hier die Dauer der (weiteren) Vernehmung eines Zeugen unter Einschluss einer Augenscheinseinnahme, so umfasst er alle Verfahrensvorgänge, die mit der Vernehmung in enger Verbindung stehen oder sich aus ihr entwickeln und die daher zu diesem Verfahrensabschnitt gehören. Dazu zählt nach bisheriger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch die Entscheidung über die Vereidigung des Zeugen, die noch während des Ausschlusses der Öffentlichkeit vorgenommen werden kann (vgl. nur BGH NJW 1996, 2663). Nichts anderes kann für die Entlassung des Zeugen gelten. (Bearbeiter)

7. Handlungen, die auch außerhalb der Hauptverhandlung vorgenommen werden dürfen oder jedenfalls außerhalb der Hauptverhandlung in Abänderung von Anordnungen in der Hauptverhandlung ergehen dürfen, können auch im Rahmen der Hauptverhandlung während des Ausschlusses der Öffentlichkeit erledigt werden, ohne dass darin ein Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit liegt (vgl. BGH NStZ 2002, 106, 107). (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 4 StR 506/02 - Beschluss vom 3. April 2003 (LG Dortmund)

BGHSt; Ablehnung (Besorgnis der Befangenheit; Revisibilität des Verstoßes gegen die Wartepflicht; Gesetzesverletzung; unaufschiebbare Handlungen; Beruhen; absoluter Revisionsgrund).

§ 29 Abs. 1 StPO; § 337 StPO; § 338 Nr. 3 StPO

1. Steht für das Revisionsgericht fest, dass der abgelehnte Richter zu keinem Zeitpunkt befangen war, so vermag der bloße formale Verstoß gegen die Wartepflicht des § 29 Abs. 1 StPO die Revision nicht zu begründen. (BGHSt)

2. Geht das Ablehnungsgesuch vor der Hauptverhandlung ein, bestimmt sich die Befugnis des abgelehnten Richters zur Vornahme richterlicher Handlungen grundsätzlich ab diesem Zeitpunkt nach § 29 Abs. 1 StPO. Danach hat ein abgelehnter Richter vor Erledigung des Ablehnungsgesuchs nur solche Handlungen vorzunehmen, die keinen Aufschub gestatten. Unaufschiebbar im Sinne dieser Vorschrift sind Handlungen, die wegen ihrer Dringlichkeit nicht anstehen können, bis ein Ersatzrichter eintritt (vgl. BGH NStZ 2002, 429, 430). (Bearbeiter)

3. Die Vorschrift des § 29 Abs. 1 StPO trägt der unterschiedlichen Interessenlage bei der Ablehnung eines Richters Rechnung. Sie dient primär der Verfahrensförderung: Die Anbringung eines Ablehnungsgesuchs soll für sich allein nicht die Wirkung haben, dass der Abgelehnte sogleich von jeder Mitwirkung in der Sache ausgeschlossen wird. Anderenfalls hätte es ein Verfahrensbeteiligter in der Hand, die Vornahme dringlicher Untersuchungshandlungen durch Vorbringen eines unbegründeten Ablehnungsgesuchs zu verhindern. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 3 StR 181/02 - Urteil vom 24. April 2003 (LG Hannover)

BGHR; Aufklärungspflicht (Verpflichtung zur Befragung eines Zeugen, der von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, ob er gleichwohl in die Verwertung früherer Aussagen einwilligt; BGHSt 45, 203; Verwertungsverbot); Beweiswürdigung (Ausschluss des Beruhens; allgemeinkundige Tatsachen; Abgrenzung von der Verfahrenslage Aussage gegen Aussage).

§ 244 Abs. 2 StPO; § 52 StPO; § 252 StPO; § 361 StPO; § 337 StPO

1. Ein Tatrichter ist - auch auf der Grundlage der Entscheidung BGHSt 45, 203, 208 - regelmäßig nicht verpflichtet, einen Zeugen, der von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, zu befragen, ob er gleichwohl in die Verwertung früherer Aussagen einwilligt, sofern nicht im Einzelfall besondere Hinweise auf eine solche Bereitschaft gegeben sind. (BGHR)

2. Der Senat lässt offen, ob er der Entscheidung des 4. Strafsenats in BGHSt 45, 203 folgen würde, wonach die Geltendmachung des Zeugnisverweigerungsrechts nach § 252 StPO durch einen Zeugen die Verwertung einer früheren, auch nicht richterlichen, Vernehmung nicht hindert, wenn der Zeuge sie gestattet (BGHSt 45, 203, 208). (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 4 StR 21/03 - Urteil vom 22. Mai 2003 (LG Bielefeld)

BGHR; Besetzungsrüge (verspätete Vereidigung eines Schöffen; Besetzungseinwand; Beruhen; wesentliche Teile der Hauptverhandlung; Rügepräklusion; Mangel in der Person des Schöffen; Entbehrlichkeit; objektive Erkennbarkeit; Zumutbarkeit).

§ 45 Abs. 2 Satz 1 DRiG; § 338 Nr. 1 Buchst. b StPO; § 222 b Abs. 1 Satz 1 StPO; § 337 StPO

1. Bei fehlender Vereidigung eines Schöffen ist das Gericht im Sinne des § 338 Nr. 1 StPO nicht vorschriftsmäßig besetzt. Die Revision kann jedoch regelmäßig auf den Besetzungsfehler nur gestützt werden, wenn der Beschwerdeführer den Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung in der Hauptverhandlung rechtzeitig gemäß § 222 b Abs. 1 Satz 1 StPO erhoben hat (im Anschluss an Senatsurteil vom 12. Juli 2001 - 4 StR 550/00). (BGHR)

2. Bei fehlender Vereidigung eines Schöffen liegt kein Revisionsgrund nach § 338 Nr. 2 oder Nr. 5 StPO vor, jedoch ist in diesen Fällen das Gericht im Sinne des § 338 Nr. 1 StPO nicht vorschriftsmäßig besetzt (BGHSt 3, 175, 176; 4, 158, 159). Wird der Mangel noch in der Hauptverhandlung behoben, so muss diese nach der Vereidigung in ihren wesentlichen Teilen wiederholt werden (BGHR StPO § 338 Nr. 1 Schöffe 8 verspätete Vereidigung). Es bedarf keiner näheren Darlegung, dass die Verlesung des Anklagesatzes zu den wesentlichen Teilen der Hauptverhandlung zählt. (Bearbeiter)

3. Das Fehlen der in § 45 Abs. 2 Satz 1 DRiG vorgeschriebenen Vereidigung stellt keinen Mangel in der Person des Schöffen dar, der von der Rügepräklusion nicht erfasst würde. (Bearbeiter)

4. Sinn und Zweck der Rügepräklusionsvorschriften ist zu unterbinden, dass die Besetzungsrüge als bloßes Mittel zu einer aus anderen Gründen für wünschbar gehaltenen Urteilsaufhebung benutzt wird. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 4 StR 157/02 - Beschluss vom 21. Mai 2003 (LG Bochum)

Darlegungspflicht bei der Verfahrensrüge (Zulässigkeit; Entbehrlichkeit der Angabe von Beweismitteln und Aktenstellen).

§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

Für die Zulässigkeit einer Verfahrensrüge genügt es nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, dass die den Mangel begründenden Tatsachen vollständig vorgetragen werden. Dagegen ist die Angabe von Beweismitteln und der Aktenstellen, aus denen sich diese Tatsachen ergeben, nicht erforderlich.


Entscheidung

BGH 3 StR 92/03 - Beschluss vom 8. April 2003 (LG Osnabrück)

Rechtsfehlerhafte Vernehmung des sachferneren anstelle des sachnäheren Zeugen (Grundsatz der Unmittelbarkeit; Aufklärungspflicht; Beweiswürdigung); Unerlässlichkeit der kurzen Freiheitsstrafe (Verteidigung der Rechtsordnung; Gesamtwürdigung von Tat und Täter; Verlust der Ruhestandsbezüge).

§ 250 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 47 Abs. 1 StGB

1. Die Vernehmung eines sachferneren anstelle des sachnäheren Zeugen widerspricht nicht dem Grundsatz der Unmittelbarkeit (§ 250 StPO), vielmehr ist es eine Frage der dem Gericht obliegenden Aufklärungspflicht und der Beweiswürdigung, ob es sich mit dem sachferneren Zeugen begnügen darf (BGHR StPO § 250 Satz 1 Unmittelbarkeit 1).

2. Ein Gericht kommt aber seiner Pflicht zur umfassenden Sachaufklärung regelmäßig nicht ausreichend nach, wenn es zum Nachweis einer vom Angeklagten bestrittenen Tat ein sachnäheres Beweismittel nicht heranzieht, obwohl es erreichbar ist. Nur dann, wenn ein Zeuge für seine unmittelbare Vernehmung nicht zur Verfügung steht, ist es unter dem Gesichtspunkt der Amtsaufklärungspflicht unbedenklich, allein das sachfernere Beweismittel zu benutzen (BGHSt 32, 115, 123).

3. Die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten hat nämlich regelmäßig nur dann Bestand, wenn sie sich aufgrund einer Gesamtwürdigung aller, nicht nur die Tat, sondern auch den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist (vgl. BGHR StGB § 47 Abs. 1 Umstände 6 m. w. N.).


Entscheidung

BGH 1 StR 529/02 - Urteil vom 13. Mai 2003 (LG Traunstein)

Beweiswürdigung (Bewertung der Glaubhaftigkeit der Aussage eines Hauptbelastungszeugen, wenn im Wesentlichen Aussage gegen Aussage steht; Zuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen; Unwahrhypothese; Aussagegenese; Aussagekonstanz im Kernbereich); Absehen von einer Entscheidung im Adhäsionsverfahren (Teilendurteil; keine Klageabweisung im Adhäsionsverfahren; Beendigung der Rechtshängigkeit).

§ 261 StPO; § 405 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. StPO; § 406 Abs. 3 Satz 2 StPO

Eine Klageabweisung kommt im Adhäsionsverfahren nicht in Betracht. Der Sache nach handelt es sich bei einer teilweisen Anerkennung des Anspruchs im Adhäsionsverfahren um ein Teilendurteil. Der Ausspruch des Absehens von einer Entscheidung beendet die Rechtshängigkeit des vermögensrechtlichen Anspruchs.


Entscheidung

BGH 1 StR 133/03 - Beschluss vom 13. Mai 2003 (LG München)

Beweiswürdigung (Inbegriff der Hauptverhandlung: kein Feststellungsbedarf bei Aufhebung des Strafausspruchs in der Revision unter Aufrechterhaltung der Feststellungen; erneute Beweisaufnahme).

§ 261 StPO; § 353 StPO

Wenn auch nach der Aufhebung durch das Revisionsgericht nicht aufgehobene Feststellungen nicht in Rechtskraft erwachsen, sind sie für das weitere Verfahren bindend geworden. Sie bilden zusammen mit dem neuen Urteil die einheitliche instanzabschließende Entscheidung. Der neue Tatrichter muss diese Feststellungen weder wiederholen noch hierauf Bezug nehmen (BGH NStZ-RR 2002, 233).


Entscheidung

BGH 5 StR 51/03 - Beschluss vom 21. Mai 2003 (LG Hamburg)

Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten (nachgewiesene Eigenmächtigkeit; Prüfungspflicht des Gerichts); Anwesenheitsrecht des Angeklagten.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 230 StPO; § 231 Abs. 2 StPO; § 338 Nr. 5 StPO

Über den Wortlaut des § 231 Abs. 2 StPO hinaus setzt eine Fortsetzung einer unterbrochenen Hauptverhandlung in Fällen des Ausbleibens des Angeklagten voraus, dass eine Eigenmächtigkeit des Angeklagten vorliegt und diese ihm nachgewiesen werden kann. Eigenmächtiges Fernbleiben liegt nur vor, wenn der Angeklagte wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht nachkommt, ohne dafür hinreichende Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe zu haben (BGHSt 37, 249). Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Gericht Grund zu der Annahme hatte, der Angeklagte sei eigenmächtig ferngeblieben, sondern nur darauf, ob nach den objektiven Gegebenheiten diese Eigenmächtigkeit tatsächlich vorlag und erwiesen ist. Mit Recht ist deshalb zu verlangen, dass das Gericht dies so sorgfältig zu prüfen hat, dass eine nachträgliche Entschuldigung ausgeschlossen erscheint.


Entscheidung

BGH 4 StR 135/03 - Beschluss vom 13. Mai 2003 (LG Magdeburg)

Revisionsrücknahme (Formlosigkeit der ausdrücklichen Ermächtigung des Verteidigers; Unwiderruflichkeit; Unanfechtbarkeit; keine Ausnahmen bei unrichtiger Auskunft des Verteidigers; enttäuschte Erwartungen; Irrtum).

§ 302 StPO

Die Revisionsrücknahme ist ebenso wie der Rechtsmittelverzicht generell unwiderruflich und unanfechtbar (st. Rspr., vgl. BGHSt 46, 257, 258; BGHR StPO § 302 Abs. 1 Rücknahme 6); nur in eng begrenztem Umfang erkennt die Rechtsprechung Ausnahmen an (vgl. BGHSt 45, 51, 53 m.w.N.). Ein solcher Ausnahmefall ist hier schon deshalb nicht gegeben, weil die unrichtige Auskunft, durch die der Angeklagte zu seiner Erklärung veranlasst wurde, nicht durch das Gericht (vgl. hierzu BGHSt 46, 257 f.), sondern durch den Wahlverteidiger erteilt wurde (vgl. BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 8).


Entscheidung

BGH 5 StR 69/03 - Beschluss vom 21. Mai 2003 (LG Mannheim)

Fehlender Revisionsantrag (Grenzen der Auslegung; Staatsanwaltschaft als unabhängiges Rechtspflegeorgan).

§ 344 Abs. 1 StPO

Das Fehlen eines solchen ausdrücklichen Antrags ist dann unschädlich, wenn sich aus dem Inhalt der fristgerecht eingereichten Revisionsrechtfertigung das Anfechtungsziel eindeutig ergibt. Dies gilt auch für Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers (BGH NJW 2003, 839). Geht es indessen um einen Angeklagten, der entsprechend dem Antrag der Staatsanwaltschaft wegen einer Vielzahl von Straftaten verurteilt worden ist, lässt sich deren Anfechtungsziel aus einer nicht näher ausgeführten allgemeinen Sachrüge nicht sicher ermitteln. Gerade die Staatsanwaltschaft ist als unabhängiges Rechtspflegeorgan in jedem Stadium des Verfahrens zur Prüfung des Umfangs der Strafverfolgung verpflichtet. Das Ergebnis dieser Prüfung muss in einem entsprechenden Revisionsantrag Ausdruck finden.


Entscheidung

BGH 2 StR 513/02 - Urteil vom 9. April 2003 (LG Koblenz)

Urteilsabsetzungsfrist (schriftliche Urteilsgründe; Arbeitsüberlastung; Organisationsmangel; unabsehbare Umstände; absoluter Revisionsgrund).

§ 275 Abs. 1 Satz 4 StPO; § 338 Nr. 7 StPO

Gemäß § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO darf die Frist zur Fertigstellung der schriftlichen Urteilsgründe nur überschritten werden, wenn und solange das Gericht durch einen im Einzelfall nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand an ihrer Einhaltung gehindert worden ist. Hierzu zählen weder Umstände, die die Organisation des Gerichts betreffen, noch die allgemeine Arbeitsüberlastung der Richter. Insbesondere sind Berufsrichter gehalten, zunächst eine bereits verkündete Sache fristgemäß zum Abschluss zu bringen, bevor sie in anderen Sachen - seien diese auch eilbedürftig - tätig werden.


Entscheidung

BGH 4 StR 157/02 - Beschluss vom 21. Mai 2003 (LG Bochum)

Zulässigkeit der Revisionsrügen bei erneuerter Urteilszustellung; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Gegenstandslosigkeit).

§ 343 Abs. 2 StPO; § 345 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 44 StPO

Der Umstand, dass eine wirksame - wegen vorangegangener Mängel erneute - Zustellung des Urteils für den Beginn dieser Begründungsfrist noch ausstand (§§ 343 Abs. 2, 345 Abs. 1 Satz 2 StPO) und erst später nachgeholt wurde, berührt die Zulässigkeit der bereits erhobenen Rüge nicht. Dabei steht es dem Beschwerdeführer offen, die Sachrüge bis zur Entscheidung des Revisionsgerichts näher auszuführen (BGH NStZ 1988, 17, 20), ohne nach der erneuten Zustellung des Urteils an die Frist des § 345 Abs. 1 StPO gebunden zu sein.