HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2003
4. Jahrgang
PDF-Download

Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

BGH 5 StR 66/03 - Urteil vom 20. Mai 2003 (LG Hamburg)

Fahrlässige aktive Sterbehilfe / Tötung ("Zivildienst-Fall"; Täuschung durch das Opfer; tatbestandslose Selbstgefährdung; Körperverletzung; Irrtum; Tatherrschaft; Täterschaft: wertende Abgrenzung; Lebenspflicht; Menschenwürde; Recht auf würdiges Sterben; Werkzeug; überlegenes Sachwissen); Heranwachsender.

§ 222 StGB; § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG; Art. 1 GG

1. Wer infolge einer Täuschung durch das Opfer vorsatzlos aktive Sterbehilfe leistet, nimmt nicht an einer tatbestandslosen Selbstgefährdung teil. (BGH)

2. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist als Folge des Grundsatzes der Selbstverantwortung des sich selbst eigenverantwortlich gefährdenden Tatopfers anerkannt, dass gewollte und verwirklichte Selbstgefährdungen nicht dem Tatbestand eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts unterfallen, wenn das mit der Gefährlichkeit bewusst eingegangene Risiko sich realisiert. Wer lediglich eine solche Selbstgefährdung veranlasst, ermöglicht oder fördert, macht sich nicht wegen eines vorsätzlichen oder fahrlässigen Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts strafbar (BGHSt 32, 262, 263 f.; BGH NJW 2000, 2286; BGHSt 46, 279, 288). (Bearbeiter)

3. Diese Rechtsprechung gründet in erster Linie auf Sachverhalte, denen gemein ist, dass die den Verletzungs- oder Tötungserfolg verursachende schädigende Handlung - die Einnahme von Betäubungsmitteln (BGHSt 32, 262 f.; BGH NJW 2000, 2286; BGHSt 46, 279, 283), Stechapfeltee (BGH NStZ 1985, 25) oder Alkohol (BGH NStZ 1986, 266; 1987, 406) - durch das Opfer selbst erfolgt und erfährt dann eine Ausnahme, wenn der sich Beteiligende etwa kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfasst als der sich selbst Gefährdende (BGHSt 32, 262, 265; BGH NJW 2000, 2286). (Bearbeiter)

4. Maßgebendes Kriterium zur Abgrenzung strafloser Selbstgefährdung ist in diesen Fällen somit der Sache nach die Trennungslinie zwischen Täterschaft und Teilnahme. Deren Grundsätze werden von der Rechtsprechung auch herangezogen, soweit eine ausschließlich von dem Beteiligten ausgehende Gefährdung, wie sie etwa bei einer durch Täuschung bewogenen Vornahme der Tötungshandlung (vgl. BGHSt 32, 38, 41 f.) oder beim Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten mit einem gesunden Menschen entsteht, zu beurteilen ist (vgl. BGHSt 36, 1, 17 f.). (Bearbeiter)

5. Diese Grundsätze sind auch im Fall eines vom Angeklagten verursachten Tötungserfolges bei eigenverantwortlicher Planung und Durchführung nach den Wünschen des sich selbst Gefährdenden zugrundezulegen. Danach ist in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob der Angeklagte im Vollzug des Gesamtplans des zum Tode führenden Geschehens über die Gefährdungsherrschaft verfügte oder als Werkzeug des Suizidenten handelte (vgl. BGHSt 19, 135, 140). Letzteres wäre angesichts der eigenhändigen Ausführung der Gefährdungshandlungen durch den Angeklagten nur anzunehmen, falls der Lebensmüde den Angeklagten über das zum Tode führende Geschehen getäuscht und ihn mit Hilfe des hervorgerufenen Irrtums zum Werkzeug gegen sich selbst gemacht hätte (vgl. BGHSt 32, 38, 41). (Bearbeiter)

6. Gegen Auffassungen, die in einem weiteren Umfang zu einer straflosen Mitwirkung an einem Selbsttötungsgeschehen führen, bestehen Bedenken, da begrifflich keine Selbsttötung angenommen werden kann, falls die Tatherrschaft nicht uneingeschränkt beim Suizidenten verbleibt. Einer Anerkennung strafloser aktiver Sterbehilfe stünde zudem der sich aus der Werteordnung des Grundgesetzes ergebende vorrangige Schutz menschlichen Lebens entgegen (vgl. BGHSt 46, 279, 285 f.), der auch die sich aus § 216 StGB ergebende Einwilligungssperre legitimiert (vgl. BGHSt aaO S. 286). Änderungen des Rechtsgüterschutzes bleiben vor diesem Hintergrund allenfalls dem Gesetzgeber vorbehalten. (Bearbeiter)

7. Die so begründete Lebenspflicht des vollständig bewegungsunfähigen, aber bewusstseinsklaren moribunden Schwerstbehinderten kann ein auch nicht in Art. 1 Abs. 1 GG angelegtes Recht auf ein Sterben unter menschenwürdigen Bedingungen begründen. Ein verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch auf aktive Sterbehilfe, der eine Straflosigkeit des die Tötung Ausführenden zur Folge haben könnte, ist dagegen nicht anerkannt (vgl. BVerfGE 76, 248, 252). (Bearbeiter)

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

BGH 1 StR 70/03 - Urteil vom 22. Mai 2003 (LG Stuttgart)

BGHSt; Verbreitung pornographischer Schriften (Ausnahmetatbestand des besonderen Ladengeschäfts; Anwesenheit von Personal; technische Sicherungsmaßnahmen und gleichwertiger Jugendschutz); unerlaubtes Betreiben einer Automatenvideothek; unvermeidbarer Verbotsirrtum (Anlass zur Rechtsauskunft; Feigenblattfunktion der Einholung von Rechtsrat).

§ 184 Abs. 1 Nr. 3a StGB; § 12 Abs. 4 Nr. 2 JÖSchG; § 12 Abs. 1 Nr. 9 JÖSchG; § 7 Abs. 4 JÖSchG; § 17 Satz 2 StGB

1. Der Begriff des "Ladengeschäfts" im Sinne von § 184 Abs. 1 Nr. 3a StGB setzt nicht zwingend die Anwesenheit von Personal voraus, wenn technische Sicherungsmaßnahmen einen gleichwertigen Jugendschutz wie die Überwachung durch Ladenpersonal gewährleisten. (BGHSt)

2. Die Gleichwertigkeit setzt allerdings folgendes voraus: Zunächst hat eine zuverlässige Alterskontrolle durch das Personal der Videothek stattzufinden. Hinzu kommen müssen im System angelegte Vorkehrungen, die Minderjährigen die Anmietung pornographischer Filme im Sinne einer effektiven Barriere regelmäßig unmöglich machen (BVerwGE 116, 5, 14 ff.). Es muss also gewährleistet sein, dass die technischen Kennungen zur Überwindung der Zugangshindernisse nur an Erwachsene ausgegeben werden. Der Senat weist darauf hin, dass die Beurteilung in den Fällen anders ausfallen muss, bei denen die technischen Vorkehrungen und die praktische Handhabung den hier geforderten Standards nicht entsprechen. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 4 StR 550/02 - Urteil vom 8. Mai 2003 (LG Halle)

Untreue (Nachteil; Vermögensbetreuungspflicht; Beihilfe bei kollusivem Zusammenwirken); Verjährung (Beginn bei Beendigung: Realisierung der Vermögensgefährdung).

§ 266 Abs. 1 2. Alt. StGB; § 78 a StGB; § 27 StGB

1. Entsteht der Nachteil im Sinne des § 266 StGB erst durch verschiedene Ereignisse, ist für den Beginn der Verjährung der Zeitpunkt des letzten Ereignisses maßgeblich (BGHR StGB § 78 a Satz 1 Untreue 1, 2; BGH NStZ 2001, 650).

2. Im Rahmen einer Vermögensbetreuungspflicht darf der Verpflichtete auch bei der Zwischenschaltung eines Drittgeschäfts die Möglichkeit eines dem betreuten Vermögen vorteilhaften Vertragsabschlusses nicht vereiteln oder unberücksichtigt lassen, um unter Berufung darauf, dass Leistung und Gegenleistung äquivalent sind, für sich oder einen Dritten einen Betrag zu erlangen, den der Treugeber mit Sicherheit erspart hätte, wenn die Möglichkeit des vorteilhaften Vertragsschlusses im Interesse des betreuten Vermögens genutzt worden wäre (BGHSt 31, 232 ff.; BGH wistra 1984, 109 und 189, 224).