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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 51/03, Beschluss v. 21.05.2003, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 51/03 - Beschluss vom 21. Mai 2003 (LG Hamburg)

Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten (nachgewiesene Eigenmächtigkeit; Prüfungspflicht des Gerichts); Anwesenheitsrecht des Angeklagten.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 230 StPO; § 231 Abs. 2 StPO; § 338 Nr. 5 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Über den Wortlaut des § 231 Abs. 2 StPO hinaus setzt eine Fortsetzung einer unterbrochenen Hauptverhandlung in Fällen des Ausbleibens des Angeklagten voraus, dass eine Eigenmächtigkeit des Angeklagten vorliegt und diese ihm nachgewiesen werden kann. Eigenmächtiges Fernbleiben liegt nur vor, wenn der Angeklagte wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht nachkommt, ohne dafür hinreichende Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe zu haben (BGHSt 37, 249). Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Gericht Grund zu der Annahme hatte, der Angeklagte sei eigenmächtig ferngeblieben, sondern nur darauf, ob nach den objektiven Gegebenheiten diese Eigenmächtigkeit tatsächlich vorlag und erwiesen ist. Mit Recht ist deshalb zu verlangen, dass das Gericht dies so sorgfältig zu prüfen hat, dass eine nachträgliche Entschuldigung ausgeschlossen erscheint.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 5. August 2002 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellen Mißbrauch eines Kindes und versuchter Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt.

Die Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Hierzu hat der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt:

"Die Rüge der Verletzung von § 338 Nr. 5 i. V. m. § 230 StPO greift durch. Das Landgericht hat am 17. Hauptverhandlungstag ohne den Angeklagten weiterverhandelt und ist erneut in die Beweisaufnahme eingetreten, obwohl die Voraussetzungen von § 231 Abs. 2 StPO nicht vorlagen.

Folgender Verfahrensablauf liegt dem zu Grunde:

Bis zum 16. Hauptverhandlungstag einschließlich war der auf freiem Fuß befindliche Angeklagte jeweils pünktlich auf Ladung zur Hauptverhandlung erschienen. In der Hauptverhandlung vom 10. Juni 2002 (16. Hauptverhandlungstag) wurde die Beweisaufnahme geschlossen, die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft und der Verteidiger des Beschwerdeführers hielten ihre Schluß vorträge. Daraufhin hatte der Angeklagte das letzte Wort. Der Vorsitzende wies daraufhin alle Prozeßbeteiligten vor dem Protokoll auf den bereits anberaumten nächsten Hauptverhandlungstag, den 21. Juni 2002, 9.00 Uhr, hin (Protokollband Bl. 99). Wegen Terminschwierigkeiten des Verteidigers wurde der Beginn der Sitzung vom 21. Juni 2002 auf 8.30 Uhr vorverlegt; der Angeklagte erhielt hiervon Mitteilung. Bei Aufruf der Sache um 8.50 Uhr war der Angeklagte nicht erschienen (Protokollband Bl. 100). Infolge einer Zugverspätung von etwa 30 Minuten war es ihm nicht möglich gewesen, den Ort der Hauptverhandlung rechtzeitig zu erreichen. Über sein Mobiltelefon unterrichtete der Angeklagte das Büro seines Verteidigers, indem er auf den eingeschalteten Anrufbeantworter sprach. Der Vorsitzende ordnete daraufhin an, daß die Hauptverhandlung gemäß § 231 Abs. 2 StPO in Abwesenheit des Angeklagten fortzusetzen sei. Nach Wiedereintritt in die Beweisaufnahme wurde ein Schreiben des Angeklagten an den Vorsitzenden gemäß § 249 Abs. 1 StPO zu Beweiszwecken verlesen. Der Verteidiger stellte daraufhin zwei Beweisanträge und machte hierzu Ausführungen (Protokollband Bl. 101). Um 8.57 Uhr erschien der Angeklagte in der Hauptverhandlung und erklärte den Grund seiner Verspätung. Die Hauptverhandlung wurde daraufhin fortgesetzt, ohne diejenigen Teile der Beweisaufnahme zu wiederholen, die in Abwesenheit des Beschwerdeführers stattgefunden hatten.

Danach hat die Hauptverhandlung vom 21. Juni 2002 in der Zeit von 8.50 Uhr bis 8.57 Uhr entgegen § 338 Nr. 5 i. V. m. § 230 StPO ohne den Angeklagten stattgefunden. Zu Unrecht hat der Vorsitzende auf der Grundlage von § 231 Abs. 2 StPO die Fortsetzung der Hauptverhandlung ohne den Angeklagten angeordnet. Die Voraussetzungen dieser Bestimmung lagen nicht vor. Über den Wortlaut der Vorschrift hinaus setzt eine Fortsetzung einer unterbrochenen Hauptverhandlung in Fällen des Ausbleibens des Angeklagten voraus, daß eine Eigenmächtigkeit des Angeklagten vorliegt und diese ihm nachgewiesen werden kann. Eigenmächtiges Fernbleiben liegt nur vor, wenn der Angeklagte wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht nachkommt, ohne dafür hinreichende Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe zu haben (BGHSt 37, 249; LR-Gollwitzer, StPO 25. Aufl. § 231 Rdn. 14 m. w. N.). Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Gericht Grund zu der Annahme hatte, der Angeklagte sei eigenmächtig ferngeblieben, sondern nur darauf, ob nach den objektiven Gegebenheiten diese Eigenmächtigkeit tatsächlich vorlag und erwiesen ist. Mit Recht ist deshalb zu verlangen, daß das Gericht dies so sorgfältig zu prüfen hat, daß eine nachträgliche Entschuldigung ausgeschlossen erscheint (LR-Gollwitzer, aaO Rdn. 15). Danach fehlt es im vorliegenden Fall in der Person des ordnungsgemäß geladenen (vgl. insoweit BGHSt 38, 271, 273) Angeklagten an der Eigenmächtigkeit des Fernbleibens im Sinne von § 231 Abs. 2 StPO. Obwohl der Verteidiger des Angeklagten - nach dem insoweit auch durch die dienstliche Äußerung des Vorsitzenden nicht bestrittenen Vortrag - das Gericht darauf hingewiesen hatte, der Angeklagte sei bisher zu allen Hauptverhandlungsterminen pünktlich erschienen und man müsse bedenken, daß er für seine Anreise auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sei, stellte das Gericht keine weiteren Nachforschungen an, sondern verhandelte auf Grund der Anordnung des Vorsitzenden gemäß § 231 Abs. 2 StPO ohne den Angeklagten weiter. Nach Entgegennahme der Erklärung des Angeklagten für seine Verspätung wurde der in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführte Teil der Hauptverhandlung auch nicht wiederholt. Der von der Revision geltend gemachte Verfahrensverstoß ist jedenfalls auf dem Hintergrund der dienstlichen Äußerung des Vorsitzenden der Strafkammer, der dem Revisionsantrag insoweit nicht entgegengetreten ist, auch bewiesen."

Schließlich weist der Senat auf die weiteren Ausführungen des Generalbundesanwalts hin.

Externe Fundstellen: NStZ 2003, 561; StV 2003, 649

Bearbeiter: Karsten Gaede