HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2003
4. Jahrgang
PDF-Download


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EuGH


Entscheidung

BVerfG 2 BvR 716/01 - Urteil vom 16. Januar 2003

Verfassungsbeschwerde; Jugendstrafverfahren; Erziehungsrecht der Eltern; Ausschluss aus der Hauptverhandlung; Bestimmtheitsgebot; verfassungskonforme Auslegung; Verkennung der Bedeutung der Grundrechte; Verhältnismäßigkeit; Verstoß gegen § 51 Abs. 2 JGG als relativer Revisionsgrund; Pflichtverteidiger; Nichtigkeit eines Gesetzes wegen Unbestimmtheit.

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 93 Nr. 4 a GG; § 95 Abs. 3 Satz 2 BVerfGG; § 51 Abs. 2 JGG; § 67 JGG; § 337 StPO

1. Es gehört zu dem von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Verantwortungsbereich der Eltern, die Rechte ihrer Kinder dem Staat oder Dritten gegenüber zu schützen. Daraus folgt von Verfassungs wegen die Notwendigkeit einer frühzeitigen Beteiligung von Eltern im Jugendstrafverfahren. Vorschriften, die Eltern Beteiligungsrechte entziehen oder sie aus der Hauptverhandlung ausschließen, sind Eingriffe in verfassungsrechtlich geschützte Elternrechte. (BVerfG)

2. Die Sicherung des Rechtsfriedens durch Strafrecht und die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in einem justizförmigen Verfahren sind Verfassungsaufgaben, die mit dem elterlichen Erziehungsrecht in Konflikt geraten können. Eine Kollision zwischen dem Elternrecht und dem Verfassungsgebot des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes führt nicht zwangsläufig zu einem Zurückdrängen elterlicher Rechte; sie ist vielmehr durch Abwägung aufzulösen, wobei das betroffene Elternrecht und der strafrechtliche Rechtsgüterschutz zum Ausgleich gebracht werden müssen. (BVerfG)

3. Die Aufklärung von Straftaten, die Ermittlung des Täters, die Feststellung seiner Schuld und seine Bestrafung wie auch der Freispruch des Unschuldigen sind die wesentlichen Aufgaben der Strafrechtspflege, die zum Schutz der Bürger den staatlichen Strafanspruch in einem justizförmigen und auf die Ermittlung der Wahrheit ausgerichteten Verfahren in gleichförmiger Weise durchsetzen soll. (Bearbeiter)

4. Das Recht zur Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs kann zwar einen Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht erlauben, macht es aber nicht entbehrlich, dass auch dieser Eingriff ein hinreichend bestimmtes Gesetz zur Grundlage hat. (BVerfG) Die Anforderungen an hinreichende Bestimmtheit sind umso strenger, je schwerer die Auswirkungen seiner Regelung wiegen. Der Betroffene muss die Rechtslage durchschauen können. (Bearbeiter)

5. Eine verfassungskonforme Auslegung eines Gesetzes erfordert, wenn ein hinreichend bestimmter und vom Gesetzgeber gewollter Regelungsgehalt nicht zu entnehmen ist, dass es jedenfalls eine Deutung der Vorschrift gibt, die der Verfassung entspricht. (Bearbeiter)

6. Der das Jugendstrafrecht prägenden Erziehungsgedanke etabliert kein staatliches Erziehungsprivileg, der das vorrangige elterliche Erziehungsrecht suspendiert. Die erzieherische Einwirkung auf den Jugendlichen mit dem Ziel künftigen straffreien Lebens setzt grundsätzlich den justizförmigen Nachweis der durch eine konkrete Straftat erkennbar gewordenen Erziehungsbedürftigkeit eines Jugendlichen sowie die Festsetzung einer an dieser Bedürftigkeit ausgerichteten Rechtsfolge voraus. Während eines laufenden Strafverfahrens wird es regelmäßig an der Möglichkeit einer solchen Feststellung fehlen, so dass für eine allein mit erzieherischen Zielen begründete Zurückdrängung des Elternrechts verfassungsrechtlich noch kein Raum ist. (Bearbeiter)

7. Das elterliche Recht zur Wahrnehmung der Schutz- und Beistandsfunktion für das Kind schließt das Recht ein, auch im Jugendstrafverfahren eigene Erziehungsvorstellungen geltend zu machen. (Bearbeiter)


Entscheidung

EuGH C-187/01 und C-385/01 - Urteil vom 11. Februar 2003 (OLG Köln [Deutschland] / Rechtbank van Eerste Aanleg Veurne [Belgien])

Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen; Verbot der Doppelbestrafung (Anwendungsbereich; Entscheidungen, mit denen die Staatsanwaltschaft die Strafverfolgung ohne Mitwirkung eines Gerichts endgültig beendet, nachdem der Beschuldigte bestimmte Auflagen erfüllt hat); Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985; Gözütok/Brügge; Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 35 EUV; Strafklageverbrauch.

Art. 54 SDÜ; Art. 55 SDÜ; Art. 58 SDÜ; Art. 35 EUV; Art. 34 EUV; Art. 31 EUV; Art. 74 Absatz 1 Wetboek van Strafrecht; § 153 a StPO; § 153 Absatz 1 Satz 2 StPO

1. Das Verbot der Doppelbestrafung im Bereich des Schengener Abkommens gilt auch in Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft ohne Anrufung eines Gerichtes das Verfahren unter Beauflagung einstellen kann.

2. Das im Artikel 54 des SDÜ aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung impliziert zwingend, dass unabhängig davon, ob es auf zum Strafklageverbrauch führende Verfahren unter oder ohne Mitwirkung eines Gerichts oder auf Urteile angewandt wird, ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationales Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde.

3. Das Verbot der Doppelbestrafung in Art. 54 SDÜ dient der Verwirklichung des in Art. 2 Absatz 1 vierter Gedankenstrich EUV niedergelegten Zieles, die Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, zu erhalten und weiterzuentwickeln.

4. Das in Art. 54 SDÜ niedergelegte Verbot der Doppelbestrafung soll ausschließlich verhindern, dass eine Person, die in einem Mitgliedstaat rechtskräftig abgeurteilt wurde, in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat erneut strafrechtlich verfolgt wird. Es hindert das Opfer einer Straftat nicht eine zivilrechtliche Klage auf Ersatz des erlittenen Schadens zu erheben oder weiterzuverfolgen.