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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 704

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 360/21, Urteil v. 21.04.2022, HRRS 2022 Nr. 704


BGH 3 StR 360/21 - Urteil vom 21. April 2022 (LG Düsseldorf)

Gerichtliche Kognitionspflicht und prozessualer Tatbegriff (Tatidentität; unwesentliche Abweichungen; Beihilfe statt Täterschaft; Verhalten im Vorfeld der Tatbegehung).

§ 264 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die gerichtliche Kognitionspflicht verlangt, dass der durch die zugelassene Anklage abgegrenzte Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Fehlt es daran, stellt dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar. Bezugspunkt dieser Prüfung ist die Tat im Sinne von § 264 StPO, also ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll.

2. Die Tat als Prozessgegenstand ist nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten darin zur Last gelegte Geschehensablauf; vielmehr gehört dazu das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorgang nach der Auffassung des Lebens ein einheitliches Vorkommnis bildet. Die prozessuale Tat wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild umgrenzt und insbesondere durch das Täterverhalten sowie die ihm innewohnende Angriffsrichtung und durch das Tatopfer bestimmt. Liegt eine entsprechende Konkretisierung im Anklagesatz vor, stehen unwesentlichen Abweichungen - hier: Beihilfe statt Täterschaft - der Tatidentität nicht entgegen.

3. Auch Verhalten im Vorfeld der eigentlichen Tatbegehung kann Teil derselben prozessualen Tat sein. Entscheidend ist insofern nach allgemeinen Grundsätzen, ob die einzelnen Handlungen zum einen äußerlich, zum anderen wegen der ihnen zugrunde liegenden Vorkommnisse unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung innerlich derart miteinander verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig bewertet werden kann und ihre getrennte Würdigung und Aburteilung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden werden.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 28. April 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des besonders schweren Raubes freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer vom Generalbundesanwalt vertretenen, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Dem Angeklagten liegt nach der unverändert zugelassenen Anklage zur Last, in Ausführung eines zuvor gefassten Tatplans im September 2015 mit einem Stein die Terrassentür eines Einfamilienhauses in D. eingeworfen zu haben und mit zwei Mittätern maskiert in das Objekt eingedrungen zu sein. Unter Vorhalt von Schusswaffen sollen die Täter den Hauseigentümer dazu gebracht haben, seinen Tresor zu öffnen. Die Gruppe soll unter anderem Bargeld und Uhren erbeutet sowie die beiden Bewohner gefesselt zurückgelassen haben.

2. Nach den im Urteil getroffenen Feststellungen spielte sich das Tatgeschehen wie angeklagt ab, allerdings nicht ausschließbar ohne den Angeklagten.

Bei der Beweiswürdigung hat das Landgericht bedacht, dass sich auf dem zum Wurf verwendeten Stein, der dem das Haus umgebenden Kiesbett entstammte, Zellmaterial des Angeklagten befand und dass er wenige Tage nach der hiesigen Tat mit Mittätern nach dem gleichen modus operandi einen Raubüberfall in B. verübte.

Dem hat die Strafkammer seine Einlassung gegenübergestellt. Nach dieser habe eine“ Kontaktperson“ die Tat bei günstiger Gelegenheit mit mehreren Personen verüben wollen. Er, der Angeklagte, habe vorgehabt, sich zu beteiligen, und gemeinsam mit dem S. einige Tage vor dem Überfall das Haus der Geschädigten ausgekundschaftet. Dabei sei er robbend an das Gebäude herangekrochen und habe das Kiesbett mit bloßen Händen berührt. Letztlich sei er jedoch nach B. zur Begehung der dortigen Tat beordert worden und beim hiesigen Einbruch nicht mehr in Deutschland gewesen.

Diese Einlassung hat das Landgericht als unwiderlegbar gewürdigt und sich danach keine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten verschaffen können. Es hat ihn deshalb aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft ist ausweislich ihrer Begründung unbeschränkt eingelegt und hat Erfolg. Der Freispruch hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.

1. Das Landgericht hat den Sachverhalt nicht unter allen rechtlichen Gesichtspunkten geprüft und damit gegen die ihm obliegende Kognitionspflicht verstoßen.

a) Diese gebietet, dass der durch die zugelassene Anklage abgegrenzte Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Fehlt es daran, stellt dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar. Bezugspunkt dieser Prüfung ist die Tat im Sinne von § 264 StPO, also ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Die Tat als Prozessgegenstand ist dabei nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten darin zur Last gelegte Geschehensablauf; vielmehr gehört dazu das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorgang nach der Auffassung des Lebens ein einheitliches Vorkommnis bildet. Die prozessuale Tat wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild umgrenzt und insbesondere durch das Täterverhalten sowie die ihm innewohnende Angriffsrichtung und durch das Tatopfer bestimmt (st. Rspr.; s. etwa BGH, Urteil vom 8. Dezember 2021 - 5 StR 236/21, juris Rn. 10 mwN; Beschluss vom 20. Mai 2021 - 3 StR 443/20, StV 2022, 69 Rn. 11 mwN).

b) Den sich daraus ergebenden Anforderungen wird das angegriffene Urteil nicht gerecht. Die Strafkammer hat lediglich geprüft, ob sich der Angeklagte dadurch am besonders schweren Raub beteiligte, dass er die Terrassentür einschlug und mit weiteren Tätern in das Haus der Geschädigten einstieg. Sie hat dagegen nicht in den Blick genommen, dass sein Verhalten im Vorfeld des eigentlichen Überfalls ebenfalls strafbar gewesen sein könnte. Hierzu hat nach der Einlassung des Angeklagten, von dem geplanten Geschehen gewusst und gemeinsam mit einer federführenden Person den Tatort ausgespäht zu haben, jedoch Anlass bestanden. Denn damit hat er sich selbst einer die Tat fördernden Unterstützungshandlung bezichtigt, die - ihre Erweisbarkeit unterstellt - jedenfalls eine Beihilfe zur Haupttat nach § 27 StGB darstellt.

Das vom Angeklagten eingeräumte Verhalten ist von dem angeklagten Tatgeschehen umfasst. Es bildet mit dem ihm von der Staatsanwaltschaft zur Last gelegten Handlungsverlauf ein einheitliches Vorkommnis. Tatort, Tatopfer, Tatzeit sowie die dem Täterverhalten innewohnende Angriffsrichtung und damit diejenigen individuellen Merkmale, die den Überfall als einmaliges, unverwechselbares Geschehen kennzeichnen, sind gleich. Erfolgsdelikte, wie hier, sind dadurch regelmäßig hinreichend konkretisiert, so dass die Tatidentität auch bei unwesentlichen Abweichungen vom zugelassenen Anklagesatz - Beihilfe statt Täterschaft - gewahrt bleiben kann (vgl. BGH, Urteil vom 17. August 2017 - 4 StR 127/17, NStZ-RR 2017, 352, 353 mwN; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 264 Rn. 104 mwN).

Dem steht hier nicht entgegen, dass sich das vom Angeklagten eingeräumte Verhalten im Vorfeld der eigentlichen Tatbegehung zutrug. Auch eingedenk dessen läge diesbezüglich keine selbständige Tat im Sinne des § 264 StPO vor. Insoweit ist nach den allgemeinen Regeln (vgl. hierzu LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 264 Rn. 114) entscheidend, ob die einzelnen Handlungen zum einen äußerlich, zum anderen wegen der ihnen zugrunde liegenden Vorkommnisse unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung innerlich derart miteinander verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig bewertet werden kann und ihre getrennte Würdigung und Aburteilung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden werden (st. Rspr.; s. etwa BGH, Beschluss vom 23. September 2020 - 2 StR 606/19, juris Rn. 8 mwN). Hier liegen das Auskundschaften des Tatorts und der eigentliche Raubüberfall - äußerlich - zeitlich und örtlich so eng beieinander, dass es künstlich wäre, sie aufzuspalten und zwei geschichtlich getrennte Vorgänge anzunehmen. Das vom Angeklagten eingeräumte Verhalten sollte außerdem in Erwartung einer „günstige(n) Gelegenheit“ unmittelbar, ohne einen neuen Willensentschluss und eine neue Tatplanung (s. dazu etwa BGH, Beschluss vom 17. November 1999 - 1 StR 290/99, BGHR StPO § 264 Abs. 1 Tatidentität 31 mwN), in den Raubüberfall einmünden, so dass beide Tatabschnitte - innerlich - auch in einem motivatorischen Zusammenhang standen. Deshalb ist der Beitrag im Vorbereitungsstadium hier Teil der nämlichen prozessualen Tat (vgl. BGH, Urteil vom 30. April 2009 - 4 StR 60/09, BGHR StPO § 264 Abs. 1 Tatidentität 48 Rn. 6; s. ferner BGH, Beschlüsse vom 6. Dezember 2017 - AK 63/17, NStZ-RR 2018, 53, 54 zur Verabredung zu einem Verbrechen gemäß § 30 Abs. 2 StGB; vom 16. August 2018 - 4 StR 200/18, NStZ-RR 2018, 353, 354; vom 5. Juni 2019 - 3 StR 337/18, juris Rn. 5 ff.).

2. Die Sache ist bereits aus diesem Grund zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Eine Auseinandersetzung mit der Beanstandung der Revision, die Beweiswürdigung des Landgerichts lasse erkennen, dass es überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung gestellt habe (zu den insoweit nach st. Rspr. zu beachtenden Grundsätzen und Maßstäben s. BGH, Urteile vom 6. November 1998 - 2 StR 636/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16; vom 17. März 2021 - 5 StR 148/20, StV 2021, 423 Rn. 10), ist danach entbehrlich.

3. Die getroffenen Feststellungen sind aufzuheben, weil sie den Angeklagten belasten und er sie mangels Beschwer nicht hat angreifen können (vgl. BGH, Urteil vom 14. Juli 2021 - 6 StR 282/20, NStZ 2022, 109 Rn. 37 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 704

Bearbeiter: Christian Becker