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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 934

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 127/17, Urteil v. 17.08.2017, HRRS 2017 Nr. 934


BGH 4 StR 127/17 - Urteil vom 17. August 2017 (LG Bielefeld)

Umfang der gerichtlichen Kognitionspflicht (Begriff der prozessualen Tat: hinreichende Konkretisierung bei Erfolgsdelikten); tatrichterliche Beweiswürdigung (erforderliche Überprüfung eines Geständnisses; revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

§ 264 StPO; § 265 StPO; § 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Zwar bildet den Rahmen der gerichtlichen Untersuchung zunächst das tatsächliche Geschehen, wie es die Anklage umschreibt. Erfolgsdelikte sind aber regelmäßig bereits durch die Art des Erfolgs und das Tatopfer hinreichend konkretisiert, so dass die Tatidentität auch bei Abweichungen vom zugelassenen Anklagesatz hinsichtlich der Tatzeit, dem Tatort und der Art und Weise der Tatbegehung - etwa bei einem Austausch von Vorsatz und Fahrlässigkeit oder Tun und Unterlassen - gewahrt bleiben kann (vgl. BGHSt 40, 44, 46), wobei entsprechende Änderungen in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht erforderlichenfalls im Wege eines Hinweises nach § 265 StPO deutlich zu machen sind.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 14. November 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts Hagen verwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung sowie wegen fahrlässiger Körperverletzung in zwei rechtlich zusammentreffenden Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg.

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Am 4. August 2015 kamen die Zwillinge J. und N., gemeinsame Kinder des Angeklagten und seiner Lebensgefährtin T. N., zur Welt. Da die Säuglinge zu früh geboren wurden, blieben sie bis zum 9. September 2015 im Krankenhaus und kamen dann in die gemeinsame Wohnung des Angeklagten und seiner Lebensgefährtin, die beide Drogenmissbrauch betrieben und bereits mit der Erziehung ihres gemeinsamen dreijährigen Sohns D. überfordert waren. Die Familie erhielt durch das Jugendamt Unterstützung in Form einer Familienhilfe. Die ohnehin belastete Familiensituation spitzte sich weiter zu, nachdem die Familienhelferin Kenntnis davon erlangt hatte, dass der Angeklagte Anfang Mai 2015 aus dem Strafvollzug geflohen war, und am 30. Oktober 2015 bei einem Besuch der Familie auf eine Rückkehr des Angeklagten in die Justizvollzugsanstalt drang.

An einem nicht näher feststellbaren Tag Anfang November 2015 hielt der Angeklagte den drei Monate alten Säugling N. auf dem Arm und ließ ihn versehentlich fallen, weil er nicht ausreichend darauf achtete, ihn sicher zu halten, obwohl er trotz seines zu dieser Zeit gesteigerten Drogenkonsums hierzu in der Lage gewesen wäre. Das Kind traf mit dem Gesicht auf dem Boden auf, was jedenfalls zu nicht unerheblichen Schmerzen führte, ohne dass sich ein sichtbares Verletzungsbild zeigte. Der Angeklagte legte N. sodann ins Bett, ohne ihn näher zu untersuchen oder das Geschehen einer anderen Person mitzuteilen. Nach der Wahrnehmung des Angeklagten verhielt sich das Kind unauffällig. Auch die Familienhelferin und die Hebamme der Lebensgefährtin des Angeklagten nahmen in der Folgezeit bei ihren Aufenthalten in der Wohnung der Familie - zuletzt am 11. November 2015 - weder bei N. noch bei J. Verletzungen oder sonstige Anzeichen von Misshandlungen wahr (Fall 1).

Am frühen Morgen des 14. November 2015 gegen 5 Uhr hörte der Angeklagte, der am Vortag im üblichen Umfang Amphetamine, LSD und Cannabis konsumiert hatte, im Kinderzimmer die Säuglinge weinen oder „knöttern“. Er stand auf, um ihnen Fläschchen zu geben, und stellte in der Küche zur Vorbereitung zwei leere Milchfläschchen bereit. Sodann begab er sich in das Kinderzimmer, ohne dort das Licht einzuschalten. Er hob nun die „Fuß an Fuß“ liegenden Säuglinge gleichzeitig aus deren Gitterbett und nahm sie auf den Arm, wobei ihm klar sein musste, dass bei dieser Art des Hochhebens der Kinder die Gefahr bestand, dass er sie nicht würde festhalten können. Als er sich aufgerichtet hatte, rutschten ihm versehentlich zunächst N. und kurz darauf J. aus dem Arm. Beide Kinder fielen auf den Boden, wodurch sie Schmerzen erlitten. Versehentlich stieß der Angeklagte sodann mit dem Fuß gegen den am Boden liegenden N. Der Angeklagte legte nun beide Säuglinge zurück in das Kinderbett, um sie zu beruhigen. Erneut rutschten sie ihm hierbei versehentlich aus dem Arm, so dass sie mit ihren Köpfen schmerzhaft und deutlich hörbar gegeneinanderschlugen.

Ohne sich weiter um die Kinder zu kümmern und ohne nach möglichen Verletzungen zu schauen, begab sich der Angeklagte nunmehr in die Küche, um die Milchfläschchen zuzubereiten. Dort nahm er jedoch zwei Schmerztabletten gegen einsetzende Zahnschmerzen ein und wurde so müde, dass er sich im Wohnzimmer auf ein Sofa setzte und einschlief; die Fläschchen blieben ungefüllt in der Küche stehen. Als seine Lebensgefährtin gegen 8 Uhr wach wurde und nach den Zwillingen sah, entdeckte sie N. blau angelaufen und leblos im Kinderbett. Von ihr unternommene Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. Todesursächlich war eine nicht offensichtliche Lungenentzündung (Fall 2).

Bei N. s Obduktion am 16. November 2015 wurden folgende Verletzungen festgestellt: vier relativ frische - auf die Reanimationsmaßnahmen zurückführbare - Knochenbrüche auf der linken Brustkorbseite, vier nicht mehr ganz frische Knochenbrüche dreier Rippen links und einer Rippe rechts, drei etwas ältere Rippenfrakturen rechts, ein ebenfalls etwas älterer Bruch des rechten Speichenknochens sowie ein mindestens drei Tage vor dem Tod erlittenes Schädel-Hirn-Trauma mit einem Bruch des linken Scheitelbeins und typischen Einblutungen.

J. wurde ebenfalls in ein Krankenhaus gebracht. Dort wurden bei ihr zwei zeitlich nicht näher eingrenzbare Schädelbrüche im Bereich der rechten und linken Schläfen- und Scheitelregion mit korrespondierenden Unterblutungen, eine etwa ein bis zwei Wochen alte Bruchbildung des linken Oberschenkelknochens mit massiver umliegender Weichteilschwellung sowie zwei nicht mehr frische, etwa zwei bis drei Wochen alte Bruchbildungen zweier Rippen festgestellt.

2. Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung nicht eingelassen. Das Landgericht hat seine Überzeugung von dem Tatgeschehen auf die Angaben der polizeilichen Vernehmungsbeamten KHK W. und KOK B. gestützt, denen gegenüber sich der Angeklagte im Ermittlungsverfahren im Sinne der Feststellungen geständig eingelassen habe. Der Angeklagte habe dort eingeräumt, jeweils aus Unachtsamkeit die Säuglinge fallengelassen und ihre Köpfe beim Zurücklegen in das Kinderbett zusammengestoßen zu haben; außerdem habe der Angeklagte bei dieser Vernehmung den Vorwurf von sich gewiesen, die zahlreichen Knochenbrüche der Kinder verursacht zu haben. Die Strafkammer hat diese Einlassung des Angeklagten als nicht widerlegbar angesehen. Es könne ihm nicht nachgewiesen werden, dass er den Säuglingen die Knochenbrüche beigebracht oder von solchen gewusst habe, und nach dem rechtsmedizinischen Gutachten könnten die Verletzungen der Kinder den beiden festgestellten Fahrlässigkeitstaten nicht zugeordnet werden. Daher scheide ein über die Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzungen hinausgehender Schuldspruch, etwa wegen fahrlässiger Tötung durch aktives Tun oder durch Unterlassen, aus. Auch eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen - wie angeklagt - komme nicht in Betracht; dem Angeklagten könne ein bedingter Tötungsvorsatz nicht nachgewiesen werden, da ihm am Morgen des 14. November 2015, als er es unterließ, Hilfsmaßnahmen zu veranlassen, die für N. bestehende Lebensgefahr nicht bewusst gewesen sei.

II.

Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist begründet. Das Urteil weist in zweierlei Hinsicht Rechtsfehler auf, die sich zum Vorteil des Angeklagten ausgewirkt haben können.

1. Das angefochtene Urteil kann bereits deshalb keinen Bestand haben, weil das Landgericht der ihm obliegenden umfassenden Kognitionspflicht (§ 264 StPO) nicht nachgekommen ist. Dies ist ein auf die Sachrüge hin zu beachtender Rechtsfehler (vgl. BGH, Urteile vom 27. April 2017 - 4 StR 592/16 Rn. 5; vom 6. April 2017 - 3 StR 548/16 Rn. 5; vom 24. Oktober 2013 - 3 StR 258/13, NStZ-RR 2014, 57; vom 27. Juni 2013 - 3 StR 113/13 Rn. 3).

a) Gegenstand der Urteilsfindung ist nach § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Dabei handelt es sich um den geschichtlichen Vorgang, auf den die Anklage und der Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Das Tatgericht ist verpflichtet, den Unrechtsgehalt dieses Vorgangs unter allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu untersuchen, aufzuklären und ohne Bindung an die der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte rechtliche Bewertung abzuurteilen, soweit dem keine rechtlichen Gründe entgegenstehen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 27. April 2017 - 4 StR 592/16 Rn. 6; vom 26. Januar 2017 - 3 StR 479/16, NStZ 2017, 410; vom 8. November 2016 - 1 StR 492/15 Rn. 53; vom 29. Oktober 2009 - 4 StR 239/09, NStZ 2010, 222, 223; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 264 Rn. 10).

b) Dies hat das Landgericht unterlassen.

aa) Es hat seine Prüfung lediglich auf die beiden vermeintlichen „Vorfälle“ von „Anfang November 2015“ und vom „Morgen des 14. November 2015“ beschränkt und - entsprechend der Einlassung des Angeklagten, er habe die Säuglinge in beiden Fällen versehentlich fallen gelassen - insoweit lediglich fahrlässige Tathandlungen des Angeklagten festgestellt, die sich im Aufkommen von Schmerzen bei den Säuglingen erschöpft hätten und denen die in der Anklageschrift bezeichneten Schädelbrüche, sonstigen Schädelverletzungen und weiteren Knochenbrüche nicht zugeordnet werden könnten.

bb) Bei einer Prüfung dieser beiden vermeintlichen Geschehnisse durfte es indes nicht sein Bewenden haben, denn der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft war ersichtlich darauf gerichtet, sämtliche Tathandlungen, die zu den in der Anklage bezeichneten schweren Verletzungen der beiden Säuglinge führten, der Kognition des Gerichts zu unterbreiten.

Zwar bildet den Rahmen der Untersuchung zunächst das tatsächliche Geschehen, wie es die Anklage umschreibt. Erfolgsdelikte, wie hier, sind aber regelmäßig bereits durch die Art des Erfolgs und das Tatopfer hinreichend konkretisiert, so dass die Tatidentität auch bei Abweichungen vom zugelassenen Anklagesatz hinsichtlich der Tatzeit, dem Tatort und der Art und Weise der Tatbegehung - etwa bei einem Austausch von Vorsatz und Fahrlässigkeit oder Tun und Unterlassen - gewahrt bleiben kann (vgl. BGH, Urteile vom 11. Januar 1994 - 5 StR 682/93, BGHSt 40, 44, 46; vom 17. April 1984 - 1 StR 116/84, NStZ 1984, 469 f.; vom 16. Dezember 1982 - 4 StR 644/82, NStZ 1983, 174 f.; LR-StPO/Stuckenberg, 26. Aufl., § 264 Rn. 97, 104), wobei entsprechende Änderungen in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht erforderlichenfalls im Wege eines Hinweises nach § 265 StPO deutlich zu machen sind.

Da das Landgericht die angeklagten Verletzungen den von ihm festgestellten Tatgeschehnissen nicht zuordnen konnte, war es im Rahmen der ihm obliegenden umfassenden Kognitionspflicht gehalten zu prüfen, ob andere Handlungen des Angeklagten oder ein Unterlassen ursächlich für die schweren Verletzungen der Kinder waren. Den Blick für diese weitergehende Prüfungspflicht hat es sich indes verstellt, indem es ersichtlich meinte, der Prozessstoff sei auf die in der Anklage angegebenen Tatzeiten und Tathandlungen beschränkt.

2. Auch die Beweiswürdigung des Landgerichts weist durchgreifende Rechtsfehler auf.

a) Die Beweiswürdigung ist dem Tatgericht vorbehalten (§ 261 StPO). Es obliegt allein ihm, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Die Schlussfolgerungen des Tatgerichts brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt nur, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder das Gericht überspannte Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt hat (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 13. Juli 2016 - 1 StR 94/16 Rn. 9). Die Überzeugung des Tatgerichts muss in den Feststellungen und der sie tragenden Beweiswürdigung allerdings eine ausreichende objektive Grundlage finden. Insbesondere in Fällen, in denen nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung ein erheblicher Tatverdacht gegen den Angeklagten besteht, ist es erforderlich, in die Beweiswürdigung und ihre Darlegung in den Urteilsgründen alle wesentlichen gegen den Angeklagten sprechenden Umstände einzubeziehen und sie einer umfassenden Gesamtwürdigung zu unterziehen (vgl. BGH, Urteile vom 5. April 2017 - 2 StR 593/16 Rn. 11; vom 11. November 2015 - 1 StR 235/15, NStZ-RR 2016, 47 f.).

b) An diesen Maßstäben gemessen hält die tatrichterliche Beweiswürdigung rechtlicher Überprüfung nicht stand. Sie ist insgesamt nicht tragfähig, insbesondere in weiten Teilen lückenhaft.

Die Feststellungen des Landgerichts „fußen auf der geständigen Einlassung des Angeklagten im Ermittlungsverfahren“ (UA S. 16). Ein Geständnis enthebt das Tatgericht jedoch nicht von seiner Pflicht, dieses - wie jedes andere Beweismittel - einer kritischen Prüfung auf seine Plausibilität und Tragfähigkeit zu unterziehen und zu den sonstigen Beweismitteln in Beziehung zu setzen (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 2012 - 4 StR 170/12, NStZ-RR 2013, 52 f.; Beschlüsse vom 29. Dezember 2015 - 2 StR 322/15, NStZ-RR 2016, 147 f.; vom 5. November 2013 - 2 StR 265/13, NStZ 2014, 170). Die Plausibilität des vor der Polizei abgelegten Geständnisses des Angeklagten begegnet in mehrfacher Hinsicht durchgreifenden Bedenken, mit denen sich das Landgericht, obwohl sich dies aufdrängte, rechtsfehlerhaft nicht auseinandergesetzt hat.

aa) Die Schilderungen des Angeklagten erscheinen bereits für sich betrachtet nicht nachvollziehbar. So will er die „Fuß an Fuß“ liegenden Säuglinge gleichzeitig und überdies zu einem Zeitpunkt aus dem Bett hochgenommen haben, als er die Fläschchen für ihre geplante Fütterung noch gar nicht zubereitet hatte, sondern diese noch leer in der Küche standen; was er mit den Säuglingen bis zur Zubereitung der Fläschchen vorhatte, erschließt sich nicht.

Anlass zu einer kritischen Prüfung der Einlassung gab zudem die auffallende Häufung von vorgeblich versehentlichem Fehlverhalten und Ungeschicklichkeiten des Angeklagten bei Betreuung der Kinder: das Fallenlassen des Säuglings N. Anfang November 2015, das Fallenlassen beider Kinder am 14. November 2015, der nachfolgende Fußtritt gegen N. und das anschließende nochmalige Wegrutschen beider Säuglinge aus dem Arm des Angeklagten, wobei ihre Köpfe heftig aneinandergestoßen sein sollen. Dies gilt umso mehr, als der Angeklagte - trotz seines behaupteten Erschreckens über das Fallenlassen der Kinder - beide Säuglinge wiederum gleichzeitig vom Boden hochgenommen und ins Kinderbett zurückgelegt haben will.

Mit seinem behaupteten Vorhaben, die bereits vorher weinenden oder „knötternden“ Säuglinge durch das Herausnehmen aus dem Bett zu beruhigen, ist schließlich seine Behauptung, sie unmittelbar nach ihren schmerzhaften Stürzen und dem Fußtritt gegen N. ohne weitere Versorgung einfach ins Bett zurückgelegt und das Kinderzimmer verlassen zu haben, nur schwer in Einklang zu bringen, zumal die Säuglinge im Bett nochmals deutlich hörbar mit den Köpfen aneinandergestoßen sein sollen.

bb) Des Weiteren hat das Schwurgericht davon abgesehen, die Entstehung der Einlassung des Angeklagten näher darzulegen und sein Einlassungsverhalten einer kritischen Würdigung zu unterziehen, obwohl hierzu mit Blick auf die Prüfung ihrer Glaubhaftigkeit im vorliegenden Fall Anlass bestand. Insbesondere hat es sich nicht mit der naheliegenden Möglichkeit auseinandergesetzt, dass der Angeklagte, der zu Beginn seiner polizeilichen Vernehmung eine Misshandlung der Kinder insgesamt in Abrede gestellt hatte und - allerdings nur fahrlässige - Tathandlungen erst sukzessive und auf entsprechende Vorhalte hin einräumte, mit dieser Anpassung seiner Einlassung an die jeweiligen Ermittlungserkenntnisse eine Art „Vorwärtsverteidigung“ betrieb, die allein dem Ziel diente, seine Verantwortung für die Verletzungen der Kinder in einem möglichst günstigen Licht erscheinen zu lassen.

cc) Überdies ist eine kritische Hinterfragung des Geständnisses vor dem Hintergrund der Ausführungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen Dr. Wi. nicht erfolgt.

Nach dem rechtsmedizinischen Gutachten sind die unterschiedlich alten und unterschiedlich schweren Knochenbrüche und weiteren Verletzungen an verschiedenen Stellen (bei J. : Brüche beider Schädeldachseiten, des Oberschenkels und zweier Rippen; bei N. : schweres Schädel-Hirn-Trauma, Frakturen des Scheitelbeins und der Speiche, jüngere und ältere Rippenbrüche, Hautabschürfungen im Halsbereich und in der Umgebung des Afters) jeweils nicht mit „einem singulären Sturzgeschehen aus dem Arm des Angeklagten“ zu erklären; in der Zusammenschau sei vielmehr bei beiden Kindern von einer „mehrfachen und mehrzeitigen schweren Kindesmisshandlung auszugehen“ (UA 20 f.).

Auch vor diesem Hintergrund hätte das Landgericht erwägen und in seine Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Einlassung einstellen müssen, dass der Angeklagte in seiner Vernehmung die konkreten Abläufe und das Ausmaß der Geschehnisse sowie die Frage eines willentlichen Vorgehens wahrheitswidrig dargestellt haben könnte. Diese Möglichkeit hat das Landgericht jedoch rechtsfehlerhaft nicht in seine Beweiswürdigung einbezogen.

dd) Unerörtert ist schließlich die Frage geblieben, ob es einen Alternativtäter gibt, der den beiden Säuglingen die zahlreichen schweren Verletzungen, die mit der Einlassung des Angeklagten zum Geschehen am 14. November 2015 nicht zu vereinbaren sind, beigebracht haben könnte.

Die Tragfähigkeit des Geständnisses, auf dem die Verurteilung des Angeklagten (lediglich) wegen fahrlässiger Körperverletzung beruht, ist nach alledem nicht hinreichend belegt. Da damit auch die Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung in Frage steht, wirkt das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft auch zugunsten des Angeklagten (§ 301 StPO).

III.

Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache an ein anderes Landgericht zu verweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).

Für die neue Verhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Soweit sich im Rahmen der Prüfung Anhaltspunkte für eine Straftat der Misshandlung von Schutzbefohlenen nach § 225 StGB, insbesondere in der Tatbestandsvariante des Quälens, ergeben, wären - da es sich insoweit um eine tatbestandliche Handlungseinheit handeln kann (vgl. BGH, Urteil vom 17. Juli 2007 - 5 StR 92/07, NStZ-RR 2007, 304, 306; Beschluss vom 20. März 2012 - 4 StR 561/11, StV 2012, 534, 537) - gegebenenfalls auch weitere Verletzungen der Säuglinge, die im Anklagesatz keinen Niederschlag gefunden haben, vom Prozessstoff erfasst und unterlägen nach einem entsprechenden Hinweis gemäß § 265 StPO der gerichtlichen Kognition. Dies kann, etwa bei Feststellung oder fehlender Ausschließbarkeit eines Alternativtäters, auch für ein pflichtwidriges Unterlassen des Angeklagten gelten, sofern sich Anhaltspunkte dafür ergeben sollten, dass er es pflichtwidrig unterließ, gegen mehrere Verletzungshandlungen oder Unterlassungen des Alternativtäters einzuschreiten, die in ihrer Gesamtheit ursächlich für den Todeseintritt des Kindes N. waren.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 934

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 352 ; StV 2018, 789

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede