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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 790

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 337/18, Beschluss v. 05.06.2019, HRRS 2019 Nr. 790


BGH 3 StR 337/18 - Beschluss vom 5. Juni 2019 (OLG Stuttgart)

Prozessualer Tatbegriff (erschöpfende Aburteilung; keine Bindung an die Beurteilung in Anklage und Eröffnungsbeschluss; durch die Anklage bezeichneter geschichtlicher Sachverhalt; einheitlicher Vorgang); Verfahrenshindernis wegen fehlenden Eröffnungsbeschlusses.

§ 264 StPO; § 206a StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Die angeklagte Tat im verfahrensrechtlichen Sinne ist erschöpfend abzuurteilen. Das Tatgericht ist dabei an die rechtliche Beurteilung, wie sie der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss zugrunde liegt, nicht gebunden. Der verfahrensrechtliche Tatbegriff umfasst den von der zugelassenen Anklage betroffenen geschichtlichen Sachverhalt, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll; zu dieser Tat gehört deshalb das gesamte Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 8. Februar 2018 wird

das Verfahren eingestellt, soweit die Angeklagte im Fall II. B. 20 der Urteilsgründe wegen Beihilfe zur Volksverhetzung verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten der Staatskasse zur Last;

das vorbezeichnete Urteil dahin geändert, dass die Angeklagte wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wird, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Oberlandesgericht hat die Angeklagte wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung und Beihilfe zur Volksverhetzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Das auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Rechtsmittel der Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Soweit das Oberlandesgericht die Angeklagte im Fall II. B. 20 der Urteilsgründe wegen Beihilfe zur Volksverhetzung verurteilt hat, fehlt es an den Verfahrensvoraussetzungen einer Anklageerhebung und eines Eröffnungsbeschlusses, sodass das Verfahren gemäß § 354 Abs. 1, § 206a Abs. 1 StPO einzustellen ist.

a) Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift vom 20. Dezember 2016 war der Angeklagten zur Last gelegt worden, seit dem 14. Januar 2014 Teil einer Personenvereinigung gewesen zu sein, deren Zweck darauf gerichtet gewesen sei, die Internetplattform „A.“ zu betreiben. Diese Internetseite sei nach dem Willen ihrer Betreiber darauf angelegt gewesen, unter Ausnutzung ihrer Reichweite und Themenvielfalt mittels aggressiver nationalsozialistischer Propaganda eine ideologisch geprägte Berichterstattung zu tagesaktuellen Ereignissen im Sinne einer rechtsextremistischen „Gegenöffentlichkeit“ zu schaffen. Wesentlicher Bestandteil der auf diese Weise betriebenen Verbreitung einer verfassungs- und fremdenfeindlich, antisemitisch und nationalsozialistisch geprägten Weltanschauung sei die uneingeschränkte Veröffentlichung nach § 130 StGB strafbewehrter Artikel, Nutzeräußerungen und sonstiger Inhalte gewesen. Durch die Ausübung der ihr am 14. Januar 2014 von dem Mitangeklagten K. in Übereinstimmung mit der Mitangeklagten V. verliehenen Moderatorenrechte habe die Angeklagte wesentlich zur Aufrechterhaltung der Internetplattform „A.“ 2 beigetragen und so gemeinschaftlich handelnd mit den Mitangeklagten V., K., P. und T. die Veröffentlichung einer Vielzahl strafrechtlich relevanter Beiträge ermöglicht. In der Anklageschrift wird dieser Sachverhalt rechtlich als zwei tatmehrheitliche Fälle der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, in einem Fall in Tateinheit mit gemeinschaftlich begangener Volksverhetzung (§ 129 Abs. 1, § 130 StGB aF, § 130 StGB, § 25 Abs. 2, §§ 52, 53 StGB) gewürdigt.

b) Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts (Fall II. B. 20 der Urteilsgründe) überwies die zu diesem Zeitpunkt lediglich als Nutzerin der Plattform registrierte Angeklagte am 28. Mai 2013 auf Bitte des Mitangeklagten K. insgesamt 40 € an den Betreiber des für den Betrieb der Internetplattform genutzten Servers, um eine drohende Abschaltung desselben zu vermeiden. Dabei war der Angeklagten die Zwecksetzung von „A.“ wie auch der Umstand bekannt, dass dort auch strafrechtlich relevante Inhalte veröffentlicht werden. Das Oberlandesgericht hat diesen Sachverhalt als Beihilfe (§ 27 StGB) zu dem uneigentlichen Organisationsdelikt der Mitangeklagten V. und K. gewertet, deren Verantwortlichkeit für die durch die Nutzer der Plattform eingestellten strafrechtlich relevanten Beiträge sich aus der Zurverfügungstellung und Aufrechterhaltung der Internetplattform ergebe. Entgegen der rechtlichen Bewertung der Anklageschrift hat der Strafsenat indes in den Moderatorenhandlungen der Angeklagten keine wesentlichen, auf die Aufrechterhaltung der Plattform und damit der Verbreitung strafrechtlich relevanter Beiträge gerichteten Beteiligungshandlungen gesehen. Das Oberlandesgericht hat diesen Sachverhalt vielmehr ausschließlich als mitgliedschaftliche Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung gewürdigt.

c) Die auf die Überweisung von Serverkosten gestützte Verurteilung der Angeklagten wegen Beihilfe zur Volksverhetzung hat keinen Bestand; das Verfahren ist insoweit einzustellen. Dieser Sachverhalt ist von der Anklageschrift nicht umfasst.

Zwar muss das Tatgericht seine Untersuchung auch auf Teile der Tat erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung bekannt werden. Die angeklagte Tat im verfahrensrechtlichen Sinne ist erschöpfend abzuurteilen. Das Tatgericht ist dabei an die rechtliche Beurteilung, wie sie der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss zugrunde liegt, nicht gebunden. Der verfahrensrechtliche Tatbegriff umfasst den von der zugelassenen Anklage betroffenen geschichtlichen Sachverhalt, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll; zu dieser Tat gehört deshalb das gesamte Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt (BGH, Beschluss vom 10. November 2011 - 3 StR 314/11, juris Rn. 7 mwN).

An diesen Maßstäben gemessen sind die Überweisungen vom 28. Mai 2013 jedoch nicht Gegenstand der Anklage. Das Geschehen liegt zeitlich deutlich vor der Verleihung der Moderatorenrechte an die Angeklagte. Es findet in der Anklageschrift, die der Angeklagten ausschließlich Handlungen im Zusammenhang mit „A.“ nach dem 14. Januar 2014 zur Last legt, keine Erwähnung.

Die Überweisung der Serverkosten und die von der Anklage umfasste Ausübung der Moderatorenrechte stellen damit unterschiedliche prozessuale Taten nach § 264 StPO dar, weshalb auch der gerichtliche Hinweis vom 28. September 2017 auf eine mögliche Verurteilung wegen Beihilfe zur Volksverhetzung durch Überweisung der Serverkosten und die pauschale Wiedereinbeziehung von in der Anklage nach § 154a StPO ausgeschiedenen Tatteilen die fehlende Anklageerhebung nicht ersetzen konnten (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juli 1985 - 4 StR 274/85, NStZ 1985, 515).

Das Fehlen des Eröffnungsbeschlusses stellt ein in der Revisionsinstanz nicht mehr behebbares Verfahrenshindernis dar, das die Einstellung des gerichtlichen Verfahrens hinsichtlich der Beihilfe zur Volksverhetzung auf Kosten der Staatskasse (§ 467 Abs. 1 StPO) zur Folge hat (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 2011 - 3 StR 280/11, juris Rn. 9 mwN).

Die Einstellung des Verfahrens im Fall II. B. 20 der Urteilsgründe führt zur Änderung des Schuldspruchs und zum Wegfall der insoweit verhängten Einzelstrafe. Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts ist die Einzelstrafe, die für den einzustellenden Verfahrensteil ausgeurteilt worden ist, hier nicht mit Blick auf eine abweichende rechtliche Bewertung des anhängig bleibenden, eine andere Tat im materiellen und prozessualen Sinne darstellenden Sachverhaltes aufrechtzuerhalten.

2. Im Übrigen hat die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Offen bleiben kann dabei, ob die durch das Oberlandesgericht festgestellte Moderatorentätigkeit (Urteilsgründe S. 73, 74) rechtlich auch als Beihilfe zur Volksverhetzung zu werten ist, denn insoweit ist die Angeklagte jedenfalls nicht beschwert.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 790

Bearbeiter: Christian Becker