HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2025
26. Jahrgang
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V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

634. BGH 2 StR 171/25 – Beschluss vom 24. April 2025 (LG Frankfurt am Main)

Aufenthalt im Bundesgebiet entgegen § 11 Abs. 1 AufenthG (materiell-rechtlicher Anspruch auf Erteilung einer Duldung: Ursache im Verantwortungsbereich des Ausländers, Kenntnis der Ausländerbehörde, Untätigkeit der Ausländerbehörde, anwendbare Strafvorschriften, Erörterungsmangel).

§ 11 Abs. 1 AufenthG a.F.; § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG; § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG; § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. b Var. 1 AufenthG a.F.

1. Ein Verstoß gegen ein Aufenthaltsverbot liegt nicht vor, wenn der Ausländer einen materiellrechtlichen Anspruch auf Erteilung der Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 AufenthG hat; dies ist von den Strafgerichten selbständig zu prüfen.

2. Der Ausländer bleibt allerdings strafbar, wenn die Ursache für die (gesetzwidrige) Untätigkeit der Ausländerbehörde (Nichterteilung der Duldungsentscheidung nach § 60a Abs. 2 AufenthG) allein im Verantwortungsbereich des Ausländers liegt, weil er beispielsweise abgetaucht ist oder jeden Kontakt mit der Ausländerbehörde meidet. Eine – auch hypothetische – Erteilung einer Duldung setzt stets voraus, dass die Ausländerbehörde Kenntnis von dem Aufenthalt des Ausländers hat. Dies gilt bei einem Verbleib im Inland trotz Ausweisung und vollziehbarer Ausreisepflicht sowohl für eine mögliche Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG als auch für eine solche nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b) Var. 1 AufenthG bei einem zusätzlichen nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG angeordneten Aufenthaltsverbot, sofern man bei einem Verbleib im Inland entgegen einem Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG eine Strafbarkeit – jenseits von § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG – nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b) Var. 1 AufenthG überhaupt für möglich hält.


Entscheidung

503. BGH 1 StR 456/24 – Beschluss vom 21. Januar 2025 (LG Stuttgart)

Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt (Umfang der prozessualen Tat).

§ 266a StGB; § 264 StPO

1. Beim Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) ist die Tat im Sinne von § 264 StPO – ähnlich dem Straftatbestand der Steuerhinterziehung – regelmäßig durch die unterbliebene Beitragszahlung (§ 266a Abs. 1 StGB) bzw. die unrichtige oder unvollständige bzw. pflichtwidrig unterlassene Meldung (§ 266a Abs. 2 StGB) durch einen bestimmten Arbeitgeber abgegrenzt, nicht durch den zugrundeliegenden Sachverhalt, der eine oder mehrere Fälle des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt nach § 266a StGB verwirklicht.

2. Bei Taten des § 266a StGB sind sämtliche betroffenen Beitragsmonate im Anklagesatz anzugeben.


Entscheidung

601. BGH 4 StR 73/25 – Beschluss vom 12. März 2025 (LG Detmold)

Strafzumessung (Einheitsjugendstrafe: neue und selbständige Bewertung der einbezogenen Taten).

§ 31 Abs. 2 JGG

Bei der Bildung einer Einheitsjugendstrafe nach § 31 Abs. 2 JGG verliert das einbezogene Urteil im Strafausspruch seine Wirkung. Die zuvor begangenen Straftaten sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung neu zu bewerten und zusammen mit der neuen Straftat zur Grundlage einer einheitlichen Sanktion zu machen. Das zur Verhängung einer einheitlichen Jugendstrafe berufene Tatgericht hat daher im Rahmen der Strafzumessung eine neue, selbstständige und von der früheren Beurteilung unabhängige einheitliche Rechtsfolgenbemessung für die früher und jetzt abgeurteilten Taten vorzunehmen.


Entscheidung

672. BGH 4 StR 565/24 – Urteil vom 27. März 2025 (LG Dortmund)

Aufklärungshilfe im Rahmen des KCanG (Übertragbarkeit der Rechtsprechung zum BtMG; Zusammenhang zwischen eigener und offenbarter Tat: Grundsatz schuldangemessenen Strafens, innerer und verbindender Bezug, einheitliches eingespieltes Betäubungsmittelbezugs- und Vertriebssystem, örtliche und zeitliche Nähe, gleichartiger modus operandi, einheitliches kriminelles Gesamtgeschehen; Umfang der Aufhebung durch das Revisionsgericht); Revisionsbeschränkung (Auslegung des Rechtsmittels: Abgrenzung zwischen Beschränkung auf den gesamten Strafausspruch und Beschränkung auf Teile des Strafausspruchs).

§ 46 StGB; § 46b StGB; § 49 StGB; § 35 KCanG; § 352 Abs. 1 StPO

1. Die Vorschrift des § 35 KCanG entspricht der bis zum Inkrafttreten des KCanG auch Straftaten in Bezug auf Cannabis erfassenden Kronzeugenregelung des § 31 BtMG, so dass die hierzu ergangene Rechtsprechung auch für ihre Auslegung herangezogen werden kann.

2. Die Aufklärungshilfe muss vor Eröffnung des Hauptverfahrens geleistet werden (§ 35 Satz 3 KCanG i.V.m. § 46b Abs. 3 StGB) und zu einem Aufklärungserfolg geführt haben, zu dem der Täter wesentlich beigetragen hat, wobei es bereits genügen kann, wenn wichtige Tatsachen oder Beweise kundgetan werden oder den bereits vorhandenen Erkenntnissen eine sicherere Grundlage verschafft wird.

3. Mit dem gesetzlichen Erfordernis des Zusammenhangs zwischen der aufgedeckten und der durch den „Kronzeugen“ begangenen Tat soll sichergestellt werden, dass

dessen Privilegierung insoweit mit dem Grundsatz schuldangemessenen Strafens (§ 46 StGB) vereinbar bleibt, als der Bezug zwischen der offenbarten Tat und der Tat des „Kronzeugen“ geeignet ist, zumindest mittelbar das Maß des Vorwurfs zu reduzieren, der dem „Kronzeugen“ für dessen eigene Tat zu machen ist.

4. Ein solcher Zusammenhang, d.h. ein innerer und verbindender Bezug zwischen der eigenen und der offenbarten Tat, besteht etwa, wenn der „Kronzeuge“ das tatbestandliche Handeln eines Mittäters aufdeckt, aber auch, wenn sich die aufgedeckte Tat als Teil einer fortgesetzten Handlung des Mittäters erweist, an der der „Kronzeuge“ jedenfalls in anderen Handlungsabschnitten beteiligt war, oder wenn es sich um weitere Geschäfte eines Betäubungsmittellieferanten des „Kronzeugen“ handelt; er ist auch angenommen worden für weitere Taten eines Betäubungsmittelkuriers im Auftrag desselben Hintermannes sowie in dem Fall, dass neben einer Vielzahl von Taten mit geleisteter Aufklärungshilfe bei zwei Taten der erforderliche Aufklärungserfolg nicht eingetreten ist. Dasselbe gilt für mehrere Bandentaten derselben Tätergruppierung. Nicht ausreichend ist demgegenüber ein bloß örtliches und zeitliches Zusammentreffen offenbarter und (weiterer) eigener Straftaten.

5. Feststellungen zur zeitlichen Nähe und zum gleichartigen modus operandi mehrerer Taten, von denen nur ein Teil diese Anforderungen erfüllt, vermögen die Wertung, dass sie sich als Elemente eines (einheitlichen) kriminellen Gesamtgeschehens darstellen, für sich genommen nicht zu tragen.


Entscheidung

517. BGH 5 StR 676/24 – Beschluss vom 25. Februar 2025 (LG Hamburg)

Handeltreiben mit Cannabis (eigennützige Tätigkeit).

§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG; § 34 Abs. 1 Nr. 4 KCanG

Der Begriff des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln im Sinne des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG erfasst jede eigennützige, auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit erfasst. Ein mittäterschaftliches Handeltreiben mit Betäubungsmitteln kommt danach unabhängig vom Gewicht des vom Täter erbrachten Tatbeitrags nur in Betracht, wenn der Täter in subjektiver Hinsicht selbst eigennützig handelt. Die bloße Förderung fremden Eigennutzes genügt dagegen nicht. Da sich die Bezeichnung der strafbar bleibenden Handlungsformen im KCanG an den Begrifflichkeiten des BtMG orientiert, gelten für die Auslegung des Begriffs des Handeltreibens in § 2 Abs. 1 Nr. 4, § 34 Abs. 1 Nr. 4 KCanG insofern dieselben Maßstäbe.