HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2022
23. Jahrgang
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V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

371. BGH 3 StR 155/21 – Beschluss vom 27. Januar 2022 (LG Osnabrück)

BGHSt; Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (synthetische Cannabinoide; nicht geringe Menge; Wirkstoffmenge).

§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG

1. Die nicht geringe Menge der synthetischen Cannabinoide 5F-ADB und AMB-FUBINACA beginnt bei einem Gramm Wirkstoffmenge. (BGHSt)

2. Für die Bestimmung der nicht geringen Menge eines Betäubungsmittels gilt: Der Grenzwert ist stets in Abhängigkeit von dessen konkreter Wirkungsweise und Intensität festzulegen. Maßgeblich ist zunächst die äußerst gefährliche, gar tödliche Dosis des Wirkstoffs. Fehlen hierzu gesicherte Erkenntnisse, so errechnet sich der Grenzwert als ein Vielfaches der durchschnittlichen Konsumeinheit eines nicht an den Genuss dieser Droge gewöhnten Konsumenten. Das Vielfache ist nach Maßgabe der Gefährlichkeit des Stoffes, insbesondere seines Abhängigkeiten auslösenden oder sonstigen gesundheitsschädigenden Potentials zu bemessen. Lassen sich auch zum Konsumverhalten keine ausreichenden Erkenntnisse gewinnen, so entscheidet ein Vergleich mit verwandten Wirkstoffen. (Bearbeiter)


Entscheidung

373. BGH 3 StR 329/21 – Urteil vom 10. Februar 2022 (LG Düsseldorf)

Untreue (Pflichtwidrigkeit bei Vorstandshandeln; Ermessensspielraum; Business Judgement Rule; Unvertretbarkeit; Tatsachengrundlage; Informationspflichten).

§ 266 StGB

Dem Vorstand einer Aktiengesellschaft muss bei der Leitung der Geschäfte eines Unternehmens ein weiter Handlungsspielraum zugebilligt werden. Die insoweit zum Aktienrecht entwickelten, mittlerweile als sog. Business Judgement Rule in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kodifizierten Grundsätze sind auch Maßstab für das Vorliegen einer Pflichtverletzung im Sinne von § 266 Abs. 1 StGB. Insoweit gilt im Einzelnen:

a) Eine Pflichtverletzung liegt erst dann vor, wenn die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewusstsein getragenes, ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen muss, überschritten sind, die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt wird oder das Verhalten des Vorstands aus anderen Gründen als pflichtwidrig gelten muss.

b) Eine Entscheidung auf unzulänglicher Tatsachengrundlage kann eine solche Pflichtverletzung des Vorstands indizieren. Diese ist letztlich nur dann zu bejahen, wenn ein schlechthin unvertretbares Vorstandshandeln vorliegt; der Leitungsfehler muss sich auch einem Außenstehenden förmlich aufdrängen.

c) Informationspflichten von Vorstandsmitgliedern verlangen grundsätzlich in der konkreten Entscheidungssituation die Ausschöpfung aller verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art, um auf dieser Grundlage die Vor- und Nachteile der bestehenden Handlungsoptionen sorgfältig abzuschätzen und den erkennbaren Risiken Rechnung zu tragen. Die konkrete Entscheidungssituation ist danach der Bezugsrahmen des Ausmaßes der Informationspflichten. Dementsprechend ist es notwendig, aber auch ausreichend, dass sich der Vorstand eine unter Berücksichtigung des Faktors Zeit und unter Abwägung der Kosten und Nutzen weiterer Informationsgewinnung „angemessene“ Tatsachenbasis verschafft; je nach Bedeutung der Entscheidung ist eine breitere Informationsbasis rechtlich zu fordern.

d) Dem Vorstand steht danach letztlich ein dem konkreten Einzelfall angepasster Spielraum zu, den Informationsbedarf zur Vorbereitung seiner unternehmerischen Entscheidung selbst abzuwägen. Ausschlaggebend ist dabei nicht, ob die Entscheidung tatsächlich auf der Basis angemessener Informationen getroffen wurde und dem Wohle der Gesellschaft diente, sondern es reicht aus, dass der Vorstand dies vernünftigerweise annehmen durfte. Die Beurteilung des Vorstands im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung muss aus der Sicht eines ordentlichen Geschäftsleiters vertretbar erscheinen


Entscheidung

387. BGH 5 StR 228/21 (alt: 5 StR 366/19) – Urteil vom 3. März 2022 (LG Saarbrücken)

Untreue durch Unterlassen (schadensverhindernde Kompensation; Wertlosigkeit von Dienstleistungen einer Detektei; Vorsatzfeststellung); verständigungsbezogene Mitteilungspflichten (keine Mitteilungsbedürftigkeit bei Vorschlag zur Verfahrenseinstellung; Negativmitteilung); Strafzumessung (fakultative Strafrahmenverschiebung beim Unterlassen; Täter-Opfer-Ausgleich; Beeinträchtigungen des besonders in der Öffentlichkeit stehenden Angeklagten durch intensive Medienberichterstattung).

§ 266 StGB; § 13 StGB; § 15 StGB; § 46 StGB; § 46a StGB; § 243 Abs. 4 StPO

1. Untreue kann auch durch Unterlassen der pflichtgemäß gebotenen Handlung begangen werden, wenn darin der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt; in diesem Fall findet § 13 Abs. 2 StGB Anwendung. Bei der Prüfung, ob eine fakultative Strafrahmenverschiebung gemäß § 13 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB stattzufinden hat, ist eine wertende Gesamtbetrachtung aller strafzumessungsrechtlich beachtlichen Gesichtspunkte, insbesondere der wesentlichen unterlassensbezogenen, vorzunehmen. Welche Gesichtspunkte das Tatgericht dabei berücksichtigt, obliegt seiner wertenden Betrachtung; zu einer erschöpfenden Darlegung ist es nicht verpflichtet.

2. Eine Strafrahmenverschiebung nach § 46a Nr. 2 StGB iVm § 49 Abs. 1 StGB setzt voraus, dass die vollständige oder wenigstens teilweise Entschädigung des Opfers durch die persönliche Leistung oder den persönlichen Verzicht des Täters möglich geworden ist. Damit eine Schadenswiedergutmachung ihre friedenstiftende Wirkung entfalten kann, muss der Täter einen über eine rein rechnerische Kompensation hinausgehenden Beitrag erbringen. Dafür genügt die Erfüllung von Schadensersatzansprüchen allein nicht. Vielmehr muss sein Verhalten Ausdruck der Übernahme von Verantwortung sein.


Entscheidung

354. BGH 1 StR 375/21 – Beschluss vom 20. Oktober 2021 (LG Stuttgart)

Betrug (Vermögensschaden einer Krankenkasse bei Einsatz unterqualifizierten Personals: sozialrechtliche, streng formale Betrachtungsweise; strafmildernde Berücksichtigung ersparter Aufwendungen).

§ 263 Abs. 1 StGB

1. Verfügen die von einem Pflegedienst eingesetzten Pflegekräfte nicht die im Vertrag mit der Krankenkasse vereinbarte Qualifikation führt das nach den insoweit maßgeblichen Grundsätzen des Sozialrechts auch dann zum vollständigen Entfallen des Vergütungsanspruchs gegen die Krankenkasse und damit zu einem Vermögensschaden, wenn die Leistungen im Übrigen ordnungsgemäß erbracht wurden („streng formale Betrachtungsweise). Die Arbeitsleistung als solche stellt keine gleichwertige Gegenleistung für die Krankenkassen dar.

2. Allerdings ist bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, dass die Krankenkasse wegen der tatsächlich erbrachten Pflegeleistungen keinen anderen Pflegedienst beauftragen und bezahlen musste.


Entscheidung

407. BGH 6 StR 461/21 – Beschluss vom 11. Januar 2022 (LG Göttingen)

Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (überragende Bedeutung der nicht geringen Menge trotz fehlender „Vertatbestandlichung“); Einziehung von Taterträgen und Einziehung des Wertes von Taterträgen (tatsächliche Verfügungsgewalt bei Mittätern: faktische bzw. wirtschaftliche Mitverfügungsmacht).

§ 4 Abs. 3 NpSG; §§ 29 ff. BtMG

Trotz fehlender „Vertatbestandlichung“ der nicht geringen Menge in § 4 NpSG kommt dem Maß einer etwaigen Grenzwertüberschreitung des jeweiligen psychoaktiven Stoffs für die Strafzumessung – wie im Betäubungsmittelgesetz – auch im Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz überragende Bedeutung zu.


Entscheidung

379. BGH 3 StR 458/21 – Beschluss vom 8. Februar 2022 (LG Koblenz)

Überlassen von Betäubungsmitteln zum unmittelbaren Verbrauch an einen Minderjährigen (Abgrenzung von Abgabe und Verabreichung; fehlende Kenntnis des Minderjährigen); Vorwegvollzug eines Teils der Strafe bei Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.

§ 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG; § 67 StGB

1. Eine Abgabe von Betäubungsmitteln im Sinne des § 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG ist jede Gewahrsamsübertragung an eine andere Person zur freien Verfügung. An einer solchen fehlt es, wenn Betäubungsmittel – wie im Fall II. 4. der Urteilsgründe – zum sofortigen Gebrauch an Ort und Stelle hingegeben werden; in dieser Konstellation liegt vielmehr die Tatbestandsvariante des Überlassens zum unmittelbaren Verbrauch vor. Dies gilt auch dann, wenn der Täter dem Minderjährigen ein Lebensmittel zum sofortigen Verzehr übergibt, dabei verschweigt, dass dieses Betäubungsmittel enthält und der Empfänger das Rauschgift daher unwissentlich konsumiert.

2. Die Abgrenzung der Tatbestandsvariante des Verabreichens von Betäubungsmitteln von derjenigen der Verbrauchsüberlassung bestimmt sich allein nach dem äußeren Geschehensablauf. Ein Verabreichen ist gegeben, wenn der Täter dem Empfänger das Betäubungsmittel ohne dessen aktive Mitwirkung zuführt, etwa durch Injizieren, Einreiben oder Einflößen. Übergibt der Täter dagegen einer anderen Person Betäubungsmittel und führt diese sie sich eigenständig zu (Eigenapplikation), unterfällt die Tat der Variante der Verbrauchsüberlassung. Darauf, ob der Empfänger Kenntnis davon hat, dass er ein Betäubungsmittel konsumiert, kommt es demgegenüber nicht an.

3. Nach § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB soll das Gericht bei der Anordnung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt neben einer zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren bestimmen, dass ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist. Hiervon darf das Gericht nur absehen und es beim Vorwegvollzug der Maßregel nach § 67 Abs. 1 StGB belassen, wenn dadurch aus gewichtigen Gründen des Einzelfalles eher ein Therapieerfolg zu erwarten ist. Der Teil der nach § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB vorweg zu vollstreckenden Strafe ist so zu bemessen, dass nach seiner Vollziehung und einer anschließenden Unterbringung eine Entlassung des Verurteilten zum Halbstrafenzeitpunkt grundsätzlich möglich ist (§ 67 Abs. 2 Satz 3, Abs. 5 Satz 1 StGB).


Entscheidung

367. BGH 1 StR 481/21 – Beschluss vom 13. Januar 2022 (LG Neuruppin)

Einziehung (Erlangen des Tatertrags bei mehreren Tatbeteiligten: faktische oder wirtschaftliche (Mit-)Verfügungsmacht; erlangtes Etwas bei der Steuerhehlerei).

§ 73 Abs. 1 StGB; § 374 Abs. 1 AO

1. Ein Vermögenswert ist nach § 73 Abs. 1 StGB durch die Tat erlangt, wenn er dem Beteiligten in irgendeiner Phase

des Tatablaufs aus der Verwirklichung des Tatbestands so zugeflossen ist, dass er hierüber tatsächliche Verfügungsgewalt ausüben kann. Bei mehreren Beteiligten genügt insofern, dass sie zumindest eine faktische bzw. wirtschaftliche Mitverfügungsmacht über den Vermögensgegenstand erlangt haben. Dies ist der Fall, wenn sie im Sinne eines rein tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses ungehindert auf den Vermögensgegenstand zugreifen können. Faktische Mitverfügungsgewalt kann sich – jedenfalls bei dem vor Ort anwesenden, die Beute oder Teile davon in den Händen haltenden Mittäter – auch in einer Abrede über die Beuteteilung widerspiegeln. Denn damit verfügt der Mittäter zu seinen oder der anderen Beteiligten Gunsten über die Beute, indem er in Absprache mit diesen Teile des gemeinsam Erlangten sich selbst oder den anderen zuordnet.

2. Bei der Steuerhehlerei sind das ?erlangte etwas? die der Steuer unterliegenden Waren, nicht etwa die von den Vortätern erzielte Steuerersparnis (st. Rspr.). Eine steuerliche (Mit-) Haftung nach § 71 Variante 2, § 374 Abs. 1 Variante 1 AO für die hinterzogenen Verbrauchsteuern oder Einfuhrabgaben ist für die durch eine gegenständliche Betrachtungsweise geprägte strafrechtliche Vermögensabschöpfung unerheblich.


Entscheidung

375. BGH 3 StR 436/21 – Urteil vom 10. Februar 2022 (auswärtige Strafkammer des Landgerichts Kleve in Moers)

Verhängung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld bei Gewaltverbrechen (Erziehungsgedanke; gerechter Schuldausgleich).

§ 17 JGG

1. Kommt die Verhängung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld in Betracht, ist diese zu prüfen und nach jugendspezifischen Kriterien zu bestimmen. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt ist die innere Tatseite. Dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat kommt aber insoweit Bedeutung zu, als aus ihm Schlüsse auf die Persönlichkeit des Täters und das Maß der persönlichen Schuld gezogen werden können. Er darf demnach bei der Prüfung, ob die Verhängung einer Jugendstrafe geboten ist, nicht vollends unberücksichtigt bleiben.

2. Insbesondere bei Gewaltverbrechen kann die Schwere der Schuld neben dem Erziehungszweck der Jugendstrafe eigenständige Bedeutung haben. Schwere Gewaltdelikte begründen regelmäßig die Schwere der Schuld. Der Strafzweck des gerechten Schuldausgleichs darf in solchen Fällen jedenfalls nicht völlig hinter den Erziehungsgedanken zurücktreten; denn auf die Möglichkeit der Bestrafung schwerer Straftaten durch Verhängung einer Jugendstrafe kann auch in Fällen nicht verzichtet werden, in denen ein Jugendlicher oder Heranwachsender nicht erziehungsbedürftig oder erziehungsfähig ist. Welches Gewicht den einzelnen Zumessungserwägungen zukommt, ist abhängig vom Einzelfall. Das Tatgericht hat dazu eine umfassende Abwägung vorzunehmen.


Entscheidung

428. BGH 2 StR 295/21 – Urteil vom 2. Februar 2022 (LG Kassel)

Revision (beschränkte Revisibilität der Verhängung von Jugendstrafen: beachtliche Lücken oder Wertungsfehler); Entscheidung über die Verhängung von Jugendstrafen (Schwere der Schuld: besonders schwere Straftaten, Abstellen auf das einzelfallbezogene konkrete Tatbild, Verwirklichung weiterer Straftatbestände, Alter eines Heranwachsenden, Gewichtung der für die Schuldbemessung maßgeblichen jugendspezifischen Gesichtspunkte, Vor- und Nachtatverhalten, lediglich Mitverursacher einer Schädigung des Opfers bei § 176 Abs. 2 StGB a.F., keine konkrete Zuordnung möglich; kein Erziehungsbedarf feststellbar: Verhängung von Jugendstrafe, Schuldausgleich, Heranwachsender zur Tatzeit, Erwachsener im Urteilszeitpunkt, Erforderlichkeit einer Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld, schwerer sexueller Missbrauch eines Kindes); Revisionsbegründung (Beschränkung der Revision auf bestimmte Beschwerdepunkte).

§ 17 JGG; § 176a StGB a.F.; § 176 StGB a.F.; § 344 StPO

1. Die Entscheidung über die Verhängung von Jugendstrafe ist Sache des Tatgerichts; ihm obliegt es, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die für die Rechtsfolgenentscheidung wesentlichen Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Rechtsfehlerhaft ist eine solche Rechtsfolgenentscheidung allerdings, wenn sie beachtliche Lücken oder Wertungsfehler aufweist.

2. Besonders schwere Straftaten, zu denen neben schweren Gewaltdelikten auch gravierende Sexualdelikte gehören können, begründen regelmäßig die Schwere der Schuld. Auch insoweit ist jedoch nicht auf die abstrakte rechtliche Einordnung des verwirklichten Straftatbestands, sondern einzelfallbezogen auf das konkrete Tatbild – einschließlich des Vor- und Nachtatverhaltens – abzustellen, um Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Angeklagten und das Maß seiner persönlichen Schuld zu ziehen. Bedeutung entfaltet auch, ob die Tatbegehung mit der Verwirklichung weiterer Straftatbestände einhergeht. Die Schwere der Schuld ist dabei mit zunehmendem Alter eines Heranwachsenden differenziert zu beurteilen, so bei der Gewichtung der für die – auf den Tatzeitpunkt bezogenen – Schuldbemessung maßgeblichen jugendspezifischen Gesichtspunkte wie Persönlichkeitsentwicklung und Reifegrad des Täters.

3. Das Vor- und Nachtatverhalten stellt auch bei der Anwendung von Jugendstrafrecht einen rechtsfolgenbestimmenden Umstand dar, der in den Urteilsgründen zwingend zu erörtern ist, wenn es Rückschlüsse auf die innere Einstellung des Täters zulässt.

4. Es handelt sich bei § 176a Abs. 2 StGB aF um eine Qualifikation des abstrakten Gefährdungsdeliktes § 176 Abs. 1 und Abs. 2 StGB. Insoweit vermag es einen Täter nicht zu entlasten, wenn er „lediglich“ als Mitverursacher einer Schädigung des Opfers in Betracht kommt.

5. Ist bei dem Missbrauch eines Kindes durch mehrere Täter eine konkrete Zuordnung der damit einhergehenden Folgen für das Kind nicht möglich, trägt jeder der Täter Verantwortung für die dem Opfer erwachsenen Schäden, mag auch der individuelle Anteil nicht konkret bestimmbar sein.

6. Der Verhängung von Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld steht nicht entgegen, dass bei einem Angeklagten ein Erziehungsbedarf nicht (mehr) festgestellt werden kann. Erziehungsgedanke und Schuldausgleich stehen in der Regel miteinander im Einklang; bei Kapitalverbrechen und anderen besonders schweren Taten darf der Strafzweck des gerechten Schuldausgleichs jedoch nicht völlig hinter den Erziehungsgedanken zurücktreten. Auf die Möglichkeit der Bestrafung besonders schwerer Straftaten durch Verhängung einer Jugendstrafe kann auch in Fällen nicht verzichtet werden, in denen ein zur Tatzeit Jugendlicher oder Heranwachsender nicht (mehr) erziehungsbedürftig oder erziehungsfähig ist.

7. Dies gilt erst recht, wenn ein Angeklagter zur Tatzeit gerade noch Heranwachsender war und im Urteilszeitpunkt bereits Erwachsener ist. In solchen Fällen schwindet das Gewicht spezialpräventiver Gesichtspunkte der Jugendstrafe. Dass ein Erziehungsbedarf des jetzt Erwachsenen nicht mehr festgestellt werden kann, hat zwar Einfluss auf die Frage, wie auf die festgestellte Gesetzesverletzung nunmehr zu reagieren ist, bestimmt aber nicht abschließend, welches Unrecht der damals Heranwachsende verwirklicht und welche Schuld er auf sich geladen hat.

8. Zwar sind nicht alle gewichtigen Straftaten besonders schwere, die unter dem Gesichtspunkt des gerechten Schuldausgleichs die Verhängung von Jugendstrafe erfordern. Der schwere sexuelle Missbrauch eines Kindes ist angesichts des schon nach seiner Strafandrohung hohen Unrechtsgehalts und der für das Tatopfer oftmals gravierenden Auswirkungen als eine solche besonders schwere Straftat zu bewerten, die die Verhängung von Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld erfordert.


Entscheidung

356. BGH 1 StR 401/21 – Urteil vom 8. Februar 2022 (LG Baden-Baden)

Unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Vorsatz des Kuriers hinsichtlich der transportierten Betäubungsmittel-Menge).

§ 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG; § 16 Abs. 1 StGB; § 15 StGB

Ein Kurier, der sich zum Transport von Betäubungsmitteln bereit erklärt und weder auf die Menge des ihm übergebenen Rauschgifts Einfluss nehmen noch diese Menge überprüfen kann, wird in der Regel damit rechnen müssen, dass ihm mehr Rauschgift zum Transport übergeben wird, als man ihm offenbart hat. Das gilt jedenfalls dann, wenn zwischen ihm und seinem Auftraggeber kein persönliches Vertrauensverhältnis besteht. Ist ihm bei dieser Sachlage die tatsächliche Menge der Betäubungsmittel gleichgültig, so handelt er mit bedingtem Vorsatz bezüglich der tatsächlich transportierten Gesamtmenge.


Entscheidung

390. BGH 5 StR 366/21 – Urteil vom 3. März 2022 (LG Chemnitz)

Bandenmäßiges Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Begriff und Zustandekommen der Bandenabrede).

§ 30a BtMG

1. Bei einer Bande handelt es sich um die auf eine gewisse Dauer angelegte Verbindung von mindestens drei Personen zur gemeinsamen Deliktsbegehung. Ob jemand Mitglied einer Bande ist, bestimmt sich allein nach der deliktischen Vereinbarung, der sogenannten Bandenabrede. Die Begründung der Mitgliedschaft folgt nicht aus der Bandentat, sondern geht dieser regelmäßig voraus. Mitglied einer Bande kann dabei auch derjenige sein, dem nach der Bandenabrede nur Aufgaben zufallen, die sich bei wertender Betrachtung als Gehilfentätigkeit darstellen.

2. Es ist nicht erforderlich, dass sich sämtliche Bandenmitglieder untereinander kennen und gemeinsam an der Abrede beteiligt waren. Diese muss nicht ausdrücklich getroffen werden; es genügt vielmehr jede Form einer stillschweigenden Vereinbarung, die aus dem wiederholten deliktischen Zusammenwirken mehrerer Personen hergeleitet werden kann. Die bloße Schilderung eines wiederholten deliktischen Zusammenwirkens ist für sich grundsätzlich aber nicht ausreichend, um das Zustandekommen einer Bandenabrede zu belegen. Jedoch kommt in Betracht, dass zwischen einigen Bandenmitgliedern eine ausdrückliche Absprache getroffen wird, der Beitritt anderer zur Bande aber aus dem Verhalten der Beteiligten folgt.

3. Eine Bandenabrede setzt nicht voraus, dass sich alle Beteiligten gleichzeitig absprechen. Sie kann etwa durch aufeinander folgende Vereinbarungen entstehen, die eine bereits bestehende Vereinigung von Mittätern zu einer Bande werden lassen, oder dadurch zustande kommen, dass sich zwei Täter einig sind, künftig Straftaten mit zumindest einem weiteren Beteiligten zu begehen, und der Dritte, der durch einen dieser beiden Täter über ihr Vorhaben informiert wird, sich der deliktischen Vereinbarung – sei es im Wege einer gemeinsamen Übereinkunft, gegenüber einem Beteiligten ausdrücklich, gegenüber dem anderen durch sein Verhalten oder nur durch seine tatsächliche Beteiligung – anschließt. Dabei kann es sich um den Anschluss an eine bereits bestehende Bande handeln; ebenso kann durch den Beitritt erst die für eine Bandentat erforderliche Mindestzahl von Mitgliedern erreicht werden.


Entscheidung

411. BGH 6 StR 553/21 – Beschluss vom 22. Februar 2022 (LG Potsdam)

Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Tateinheit: teilidentische Ausführungshandlung; natürliche Handlungseinheit; Raubdelikt zur Beitreibung des Restkaufpreises); Urteilsgründe (Gutachten: Mitteilung wesentlicher Anknüpfungstatsachen und Ausführungen).

§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG; § 267 StPO

1. Bei aufeinanderfolgenden, sich auf unterschiedliche Betäubungsmittelmengen beziehenden Umsatzgeschäften liegt eine jedenfalls teilweise, Tateinheit begründende Überschneidung der objektiven Ausführungshandlungen darin, dass sich der Täter zu seinem Lieferanten begibt, um einerseits die vorangegangene Lieferung zu bezahlen und dabei zugleich eine neue, zuvor bestellte Lieferung abzuholen. In diesen Fällen dient das Aufsuchen des Lieferanten als verbindendes Element gleichermaßen beiden Umsatzgeschäften, so dass dieses als teilidentische Ausführungshandlung die Annahme von Tateinheit im Sinne von § 52 Abs. 1 StGB begründet).

2. Selbst ohne eine für alle Umsatzgeschäfte teilidentische Ausführungshandlung verbinden sich mehrere

Handelsgeschäfte zu einer einheitlichen Tat im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit, wenn es im Rahmen einer bestehenden Lieferbeziehung zur Entgegennahme weiterer Betäubungsmittel aus Anlass der Bezahlung bereits zuvor „auf Kommission“ erhaltener Rauschgiftmengen kommt. Nichts Anderes hat zu gelten, wenn ein Lieferant seinerseits im Rahmen einer bestehenden Handelsbeziehung Rauschmittel an seinen Abnehmer übergibt und gleichzeitig das Geld für vorangegangene Lieferungen entgegennimmt.

3. Dient ein Raubdelikt der Beitreibung des Restkaufpreises für die zuletzt gelieferten Betäubungsmittel, steht es als Teil des vorausgehenden Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit hierzu.

4. Stützt sich das Tatgericht bei seiner Überzeugungsbildung auf das Gutachten eines Sachverständigen, hat es im Urteil dessen wesentliche Anknüpfungstatsachen und Ausführungen so darzulegen, dass das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die Schlussfolgerungen nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind (st. Rspr.).