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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 375

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 436/21, Urteil v. 10.02.2022, HRRS 2022 Nr. 375


BGH 3 StR 436/21 - Urteil vom 10. Februar 2022 (auswärtige Strafkammer des Landgerichts Kleve in Moers)

Verhängung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld bei Gewaltverbrechen (Erziehungsgedanke; gerechter Schuldausgleich).

§ 17 JGG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Kommt die Verhängung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld in Betracht, ist diese zu prüfen und nach jugendspezifischen Kriterien zu bestimmen. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt ist die innere Tatseite. Dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat kommt aber insoweit Bedeutung zu, als aus ihm Schlüsse auf die Persönlichkeit des Täters und das Maß der persönlichen Schuld gezogen werden können. Er darf demnach bei der Prüfung, ob die Verhängung einer Jugendstrafe geboten ist, nicht vollends unberücksichtigt bleiben.

2. Insbesondere bei Gewaltverbrechen kann die Schwere der Schuld neben dem Erziehungszweck der Jugendstrafe eigenständige Bedeutung haben. Schwere Gewaltdelikte begründen regelmäßig die Schwere der Schuld. Der Strafzweck des gerechten Schuldausgleichs darf in solchen Fällen jedenfalls nicht völlig hinter den Erziehungsgedanken zurücktreten; denn auf die Möglichkeit der Bestrafung schwerer Straftaten durch Verhängung einer Jugendstrafe kann auch in Fällen nicht verzichtet werden, in denen ein Jugendlicher oder Heranwachsender nicht erziehungsbedürftig oder erziehungsfähig ist. Welches Gewicht den einzelnen Zumessungserwägungen zukommt, ist abhängig vom Einzelfall. Das Tatgericht hat dazu eine umfassende Abwägung vorzunehmen.

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil der auswärtigen Strafkammer des Landgerichts Kleve in Moers vom 22. April 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von Jugendstrafe abgesehen worden ist und Erziehungsmaßregeln sowie Zuchtmittel angeordnet worden sind.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten des „gemeinschaftlichen“ besonders schweren Raubes für schuldig befunden, die Angeklagten M. und K. in jeweils fünf Fällen, den Angeklagten E. in vier Fällen und den Angeklagten A. in drei Fällen. Letzteren hat es außerdem wegen „unerlaubten“ Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit „vorsätzlicher“ Körperverletzung und mit Beleidigung verurteilt.

Wegen dieser Taten hat die Jugendkammer den Angeklagten jeweils auferlegt, binnen sechs Monaten ab Rechtskraft des Urteils einen sozialen Trainingskurs zu absolvieren und 2.500 € an einen Täter-Opfer-Fond zu zahlen, im Fall finanzieller Leistungsunfähigkeit ersatzweise 250 Sozialstunden zu verrichten. Den Angeklagten A. hat sie angewiesen, zusätzlich „mindestens sechs Gespräche mit der Drogenberatung zu führen sowie binnen der nächsten sechs Monate an einem Anti-Aggressionstraining teilzunehmen“. Bei ihm sichergestellte Betäubungsmittel hat das Landgericht eingezogen. Den Angeklagten K. hat es für sechs Monate der Leitung eines Betreuungshelfers unterstellt.

Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihren auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen gegen den jeweiligen Ausspruch über die jugendstrafrechtlichen Sanktionen. Die vom Generalbundesanwalt vertretenen Rechtsmittel haben Erfolg.

I.

1. Das Landgericht hat festgestellt, dass die im Tatzeitraum jugendlichen bzw. heranwachsenden Angeklagten gemeinsam binnen weniger Tage im März 2020 nach dem folgenden Tatmuster vier Überfälle auf Tankstellen begingen:

Die Angeklagten M. und K. betraten vermummt den Verkaufsraum. M. führte eine ungeladene Schreckschusspistole mit sich, K. ein Messer. Unter deren Vorhalt forderten sie die Angestellten auf, die Kasse(n) zu öffnen. M. begab sich hinter den Verkaufstresen und hielt seine Pistole jeweils einem Kassierer an den Kopf. Außer in einem Fall öffneten diese die Kasse, was M. den Zugriff auf die Geldbestände ermöglichte.

Dem Angeklagten A., der nur an drei der Überfälle beteiligt war, kam organisatorische Funktion zu; er besorgte Wechselkleidung, zeigte den anderen den Fluchtweg oder wartete vor Ort im Fluchtfahrzeug. Der Angeklagte E. plante die Taten maßgeblich mit und hatte bestimmenden Einfluss auf sie.

Bei den Tankstellen entwendeten die Angeklagten Bargeld in Höhe von bis zu 1.000 €, Zigaretten im Wert von bis zu 700 € und Süßigkeiten. Die Beute teilten sie unter sich auf.

Ohne Beteiligung der beiden anderen begingen die Angeklagten M. und K. nach dem geschilderten modus operandi noch einen weiteren Überfall auf eine Lottoannahmestelle. Bei dieser erbeuteten sie 1.500 € nebst Zigaretten.

Einige Opfer der Überfälle erlitten massive psychische Beeinträchtigungen, die andauern.

Der Angeklagte A. hielt einen Monat später die eingezogenen Betäubungsmittel, etwa 420 g Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von 67 g THC, zum gewinnbringenden Verkauf vorrätig. Bei seiner Festnahme löste er sich aus dem Griff der Polizisten und trat einen von ihnen schmerzhaft in den Bauch. Außerdem bespuckte er die Beamten und betitelte sie als „Hurensöhne“, „Spastis“ und „Fotzen“.

2. Auf der Grundlage dieser Feststellungen hat das Landgericht die Angeklagten wie eingangs geschildert schuldig gesprochen. Im Rahmen der Festsetzung der Rechtsfolgen hat es für alle Jugendstrafrecht angewandt. An der Verhängung einer Jugendstrafe hat es sich jeweils gehindert gesehen. Nach seiner Wertung seien schädliche Neigungen (§ 17 Abs. 2 Alternative 1 JGG) in den Taten hervorgetreten, aber inzwischen bei allen vier Angeklagten nicht mehr vorhanden. Zu der Frage, ob die Schwere der Schuld eine Jugendstrafe erforderlich macht (§ 17 Abs. 2 Alternative 2 JGG), verhält sich das Urteil nicht.

II.

1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft sind ungeachtet ihres Wortlauts nicht nur auf die Rechtsfolgenaussprüche beschränkt, sondern weitergehend - wirksam - auf die jeweilige Entscheidung des Landgerichts über die (Nicht-)Verhängung von Erziehungsmaßregeln, Zuchtmitteln und Jugendstrafen. Dies ergibt sich aus der Revisionsbegründung (zu deren nach st. Rspr. notwendiger Auslegung unter Berücksichtigung von Nr. 156 Abs. 2 RiStBV s. etwa BGH, Urteil vom 12. August 2021 - 3 StR 474/20, juris Rn. 10 mwN). Sie thematisiert allein den Umstand, dass die Taten bei allen vier Angeklagten nicht mit Jugendstrafen geahndet worden sind. Der Revisionsangriff erstreckt sich damit nicht auf die unterbliebene Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und die Einziehungsentscheidungen (zur zwingenden Einziehung des Wertes von Taterträgen im Jugendstrafrecht s. BGH, Beschluss vom 20. Januar 2021 - GSSt 2/20, BGHSt 65, 242 Rn. 13 ff.).

2. Im Umfang der Anfechtung haben die Revisionen der Staatsanwaltschaft Erfolg. Die Jugendkammer hat es rechtsfehlerhaft unterlassen, die Schuldschwere zu erörtern.

a) Die Strafzumessung ist Sache des Tatgerichts. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von den Taten und der Persönlichkeit der Angeklagten gewonnen hat, die wesentlichen zumessungsrelevanten Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Auch bei der Prüfung, ob eine Jugendstrafe verhängt wird, ist eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ausgeschlossen (st. Rspr.; s. etwa Urteil vom 29. August 2018 - 5 StR 214/18, NStZ-RR 2018, 358 mwN).

Die Darlegungen zum Absehen von einer Jugendstrafe erweisen sich hier allerdings als lückenhaft. Die Jugendkammer hat mit den schädlichen Neigungen nur einen der beiden Anordnungsgründe für Jugendstrafe nach § 17 Abs. 2 JGG geprüft und ihn verneint. Den anderen Anordnungsgrund, die Schwere der Schuld, hat sie außer Acht gelassen. Dies stellt angesichts seiner Fallrelevanz einen revisiblen Fehler dar. Insoweit gilt:

aa) Kommt die Verhängung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld in Betracht, ist diese zu prüfen und nach jugendspezifischen Kriterien zu bestimmen. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt ist die innere Tatseite. Dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat kommt aber insoweit Bedeutung zu, als aus ihm Schlüsse auf die Persönlichkeit des Täters und das Maß der persönlichen Schuld gezogen werden können. Er darf demnach bei der Prüfung, ob die Verhängung einer Jugendstrafe geboten ist, nicht vollends unberücksichtigt bleiben (st. Rspr.; s. etwa BGH, Urteil vom 13. Dezember 2021 - 5 StR 115/21, juris Rn. 13 mwN).

Insbesondere bei Gewaltverbrechen kann die Schwere der Schuld neben dem Erziehungszweck der Jugendstrafe eigenständige Bedeutung haben. Schwere Gewaltdelikte begründen regelmäßig die Schwere der Schuld. Der Strafzweck des gerechten Schuldausgleichs darf in solchen Fällen jedenfalls nicht völlig hinter den Erziehungsgedanken zurücktreten; denn auf die Möglichkeit der Bestrafung schwerer Straftaten durch Verhängung einer Jugendstrafe kann auch in Fällen nicht verzichtet werden, in denen ein Jugendlicher oder Heranwachsender nicht erziehungsbedürftig oder erziehungsfähig ist. Welches Gewicht den einzelnen Zumessungserwägungen zukommt, ist abhängig vom Einzelfall. Das Tatgericht hat dazu eine umfassende Abwägung vorzunehmen (st. Rspr.; s. etwa BGH, Urteil vom 18. Juli 2018 - 2 StR 150/18, NStZ 2018, 728, 729 mwN; vgl. auch BGH, Urteil vom 15. Juli 2021 - 3 StR 481/20, juris Rn. 25).

bb) Diesen Anforderungen ist das Landgericht nicht gerecht geworden. Es fehlt an jeglicher Bewertung des Unrechts der von den Angeklagten begangenen Taten, obgleich jeder einzelne besonders schwere Raub im Erwachsenenstrafrecht nach dem Regelstrafrahmen des § 250 Abs. 2 StGB mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe belegt ist. Diese hohe Strafandrohung hätte das Landgericht bedenken müssen (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2014 - 3 StR 521/14, NStZ-RR 2015, 155, 156), zumal im Rahmen einer Parallelwertung die Annahme minder schwerer Fälle nach § 250 Abs. 3 StGB hier jedenfalls nicht auf der Hand liegt.

Hinzu kommen konkrete das Tatunrecht prägende Umstände, etwa die Maskierung, das Übersteigen des Verkaufstresens und der Umstand, dass der Angeklagte M. den Tatopfern in drei Fällen eine Waffe gegen die Schläfe drückte, was - vorhersehbar - gravierende psychische Reaktionen bei einigen Geschädigten auslöste. Es wäre zu beleuchten gewesen, ob sich hieraus Schlüsse auf die innere Tatseite und damit auf die Persönlichkeit und Tatmotivation jedes einzelnen Angeklagten ziehen lassen und wie diese Schlüsse sich auf die Schwere der jeweils vorwerfbaren Schuld auswirken. Der Angeklagte A. trieb überdies Handel mit einer Menge Marihuana, die den Grenzwert des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG um beinahe das Achtfache überstieg.

cc) Im Übrigen lässt sich dem Urteil entnehmen, dass es bei allen vier Angeklagten nicht an jeglichem Erziehungsbedarf fehlt (zur Frage, ob das Bestehen eines Erziehungsbedürfnisses überhaupt eine kumulative Voraussetzung der Verhängung einer auf die Schwere der Schuld gestützten Jugendstrafe ist, s. BGH, Urteil vom 13. Dezember 2021 - 5 StR 115/21, juris Rn. 37 mwN). Das Landgericht hat die Notwendigkeit für eine erzieherische Einwirkung gesehen, wenn auch „eine verhältnismäßig geringfügige“. Dem Angeklagten A. hat es Schwierigkeiten mit der Aggressionsbewältigung attestiert.

Soweit die Jugendkammer darauf abgestellt hat, dass die Angeklagten eine positive Entwicklung genommen haben, weil sie ein geordnetes Leben in stabilen Verhältnissen führen und Unterstützung durch ihre Familien erfahren, ist dies nicht ohne Weiteres nachvollziehbar. Denn es ist nichts dafür ersichtlich, dass sich an den Lebensumständen der Angeklagten im Vergleich zur Tatzeit etwas geändert hätte.

dd) Die Entscheidung der Jugendkammer, Erziehungsmaßregeln anzuordnen und die Straftaten mit Zuchtmitteln und nicht mit Jugendstrafen zu ahnden, kann daher keinen Bestand haben. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei Beachtung der Grundsätze zur Bewertung der Schwere der Schuld im Sinne von § 17 Abs. 2 Alternative 2 JGG jeweils auf Jugendstrafe erkannt hätte.

b) Die insoweit zugehörigen Feststellungen werden aufgehoben, um insgesamt widerspruchsfreie neue Feststellungen zu ermöglichen.

c) Rechtsfehler zu Lasten der Angeklagten (§ 301 StPO) hat die Überprüfung des Urteils im Anfechtungsumfang nicht ergeben.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 375

Bearbeiter: Christian Becker